Islamic State of Iraq and the Levant Terrorists
Nov. 19, 2015 - Raqqa, Syria - Islamic State of Iraq and the Levant propaganda photo showing masked militants in Syria
Aufnahmedatum: 19.11.2015 Aufnahmedatum: 19.11.2015

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Politik und Macht

Warum IS-Terror wieder zunimmt, nicht nur in Solingen

2019 galt der Islamische Staat als militärisch besiegt. Doch seit diesem Jahr verübt er wieder so viele Anschläge wie seit Jahren nicht mehr. Grund dafür ist eine Entscheidung aus dem Jahr 2012.

Profilbild von Benjamin Hindrichs
Reporter für Macht und Demokratie

Eigentlich wollte Solingen am 24. August mit einem „Festival der Vielfalt“ das eigene Stadtjubiläum feiern: Die Maus aus dem WDR-Kinderprogramm war am Eröffnungstag zu Gast, Schüler:innen präsentierten Tanz-Choreografien, eine Gospel-Gruppe sang „Oh happy Day“. Doch am Ende des Abends waren drei Menschen tot. Mutmaßlich ermordet von einem 26-Jährigen, der der Terrororganisation Islamischer Staat (IS) die Treue geschworen haben soll.

Der IS ist seit Jahren auf dem Rückzug, 2019 besiegte eine internationale Militärkoalition die Terrororganisation militärisch in Syrien und Irak. Zuletzt führte der IS 2023 nur rund ein Viertel so viele Anschläge wie noch 2018 aus. Doch jetzt ist er zurück. Im Januar 2024 ermordeten IS-Terroristen über 80 Personen bei einer Trauerfeier in Iran, im März 144 Menschen bei einem Konzert in Moskau. Laut der Islamic State Worldwide Activity Map ist die Gruppe allein im vergangenen Monat für 94 Angriffe mit 358 Toten auf der ganzen Welt verantwortlich.

In diesem Text erkläre ich, wie der IS die militärische Niederlage überlebte, wo sein heutiges Machtzentrum liegt und wie er seit dem 7. Oktober 2023 junge Männer in Europa manipuliert. Denn die potentiellen Attentäter radikalisieren sich so, dass es besonders schwer ist, im Voraus dagegen vorzugehen.

Wie der IS überlebte und ein neues Machtzentrum errichtete

Der IS entstand als eine Abspaltung der Terrororganisation Al-Kaida im Irak. Ab 2013 eroberte die Gruppe große Gebiete des Iraks und Syriens, doch das Kalifat hielt nicht lange: 2019 besiegte eine US-geführte Militärallianz den IS. Dass die Terrororganisation jetzt international wieder so erfolgreich ist, liegt maßgeblich an einer Entscheidung aus dem Juli 2012.

Damals schickte der Anführer der Taliban in Pakistan, Hafiz Said Khan, 143 Freiwillige nach Syrien, um gegen das Assad-Regime zu kämpfen. Aufgrund ihrer Kampferfahrung in Afghanistan hatten die Freiwilligen einen besonders guten Ruf, der IS zahlte ihnen ein Gehalt von 800 Dollar pro Monat und fragte immer weitere Kämpfer an. Ende 2014 hatte er über 1.000 Afghanen und Pakistanis in seinen Reihen.

Laut dem Autor Antonio Giustozzi erkannte der IS schon damals die Möglichkeit, mithilfe von Rückkehrern Einfluss und Können zu verbreiten. Demnach stattete der IS deshalb zehn der Freiwilligen mit jeweils einer Million Dollar aus, damit sie nach ihrer Rückkehr in die Heimat ein lokales IS-Netzwerk aufbauen. Einige von ihnen waren zuvor einflussreiche Taliban-Kämpfer gewesen und nutzten das Geld und ihre Netzwerke, um den IS im Osten Afghanistans großzumachen.

So entstand in Afghanistan eine IS-Filiale mit zahlreichen kampferprobten Mitgliedern, die aus Syrien zurückkamen oder von den Taliban übergelaufen waren. Ihr Name: „Islamischer Staat – Provinz Khorasan“ (ISPK). Khorasan bezeichnet eine historische Region, die von Turkmenistan und Iran bis nach Tadschikistan reichte. Der Name spiegelt wider, wie sich die Gruppe selbst sieht: als Weiterführung eines vergangenen Großreiches der Region.

Das war zunächst mehr Wunsch als Realität, denn der ISPK hatte es schwer in Afghanistan. Einerseits, weil die US-geführte Militärkoalition gezielt gegen die Gruppe vorging. Andererseits, weil die Taliban keine Konkurrenz im eigenen Land wollten. Doch als sich die westliche Militärkoalition 2021 überstürzt aus Afghanistan zurückzog, nutzte der ISPK das Machtvakuum in einigen Regionen, um den eigenen Einfluss auszubauen. Mit Erfolg: In den zwölf Monaten nach der Machtübernahme der Taliban verübte die Gruppe 314 Anschläge in Afghanistan, auf Schulen, Flughäfen und Versammlungen.

Der ISPK nimmt schon seit Monaten Deutschland ins Visier

Anschließend verschob der ISPK den Fokus auf Anschläge im Ausland: Dafür stehen ihm zwischen 2.000 und 6.000 professionelle Kämpfer zur Verfügung, sowie ein ganzer Propaganda-Apparat: Die eigene „Medienagentur“ Al-Azaim veröffentlicht islamistischen Content auf Arabisch, Englisch, Farsi, Paschtu, Tajik und Urdu. Mit zahlreichen Propagandakanälen in den sozialen Medien will der ISPK auch in Europa potenzielle Terroristen radikalisieren und zu Anschlägen anstiften.

Experten sagen: Die Gruppe hat inzwischen die führende Rolle der IS-Zentrale in Syrien übernommen. Denn statt auf den Nahen Osten konzentriert sich der IS zunehmend auf Zentralasien, wie etwa Tadschikistan, Kirgistan oder Turkmenistan. Dort rekrutiert er Kämpfer und schickt sie nach Europa, das zeigen auch mehrere verhinderte Anschläge in Deutschland.

Im Juli 2023 nahm die Polizei in NRW sieben mutmaßliche Mitglieder einer Terrorzelle fest, die im Kontakt mit ISPK standen und Anschlagsziele in Deutschland ausgekundschaftet haben sollen. Es handelte sich um einen turkmenischen, einen kirgisischen sowie um fünf tadschikische Staatsangehörige. Laut Polizei sollen sie kurz nach Beginn des Russland-Ukraine-Krieges als Geflüchtete nach Deutschland eingereist sein. Auch hinter den Anschlagsplänen auf den Kölner Dom zur Weihnachtszeit soll laut Ermittlungen ein tadschikischer Staatsbürger stecken. Und fünf Männer, die 2022 vom Oberlandesgericht Düsseldorf wegen Mitgliedschaft in einer Terrormiliz verurteilt worden waren, stammen ebenfalls aus Tadschikistan. Sie sollen geplant haben, einen Islamkritiker aus Neuss zu töten.

Das zeigt: Der Anschlag in Solingen steht in einer Reihe von Anschlagsplänen, die bisher oft verhindert werden konnten. Der ISPK sucht sich Deutschland immer wieder als Ziel aus. Bisher schickte er dafür oft Kämpfer aus Zentralasien nach Europa. Doch seit dem 7. Oktober 2023, also dem Terrorangriff der Hamas auf Israel und dem darauffolgenden Krieg in Gaza, setzt die Organisation vermehrt darauf, junge Männer in Europa selbst zu radikalisieren.

Der Krieg in Gaza ist ein Motivationsschub für die Dschihadisten

Zwei Tage nach dem Anschlag von Solingen veröffentlichte der IS ein einminütiges Video, das den Täter zeigen soll: Ein junger, vermummter Mann hält ein langes Messer in die Kamera und leistet dem Anführer des IS auf Arabisch einen Treueeid. Er sagt, dass seine Attacke eine Vergeltung für die Tötung von Muslimen in Syrien, im Irak und in Bosnien sei und erklärt sie zu einem Racheakt „für die Menschen in Palästina“.

Es ist nicht das erste IS-Attentat mit Verweis auf den Krieg in Gaza. Schon im November ermordete ein IS-Anhänger in Paris einen deutschen Touristen und begründete das unter anderem damit, dass Muslime in Afghanistan und Palästina getötet werden würden. Am 2. März 2024 stach ein 15-Jähriger in Zürich einen orthodoxen Juden nieder. In einem Bekennervideo schwor der Täter dem IS die Treue und wiederholte laut dem Kriminologen Ahmed Ajil exakt die Worte einer IS-Erklärung vom Januar 2024: „Der Glaube, dass das Bekämpfen von Juden sich auf Palästina beschränkt, ist falsch“, sagte er, „der Kampf findet überall auf der Erde und unter dem Himmel statt.“

Seit jeher behauptet der IS, der Westen habe sich gegen Muslim:innen weltweit verschworen und verspricht, diese Ungerechtigkeiten brutal zu bestrafen: Gewalt ist der Gruppe wichtiger als Ideologie, Terror gilt als Selbstermächtigung gegenüber dem dekadenten Westen und seinen ungläubigen Bürger:innen.

Im Januar veröffentlichte IS-Sprecher Abu Hudhayfah al-Ansari eine 34-minütige Audiobotschaft mit dem Titel „And Kill Them Wherever You Find Them“. Darin nimmt er explizit Bezug auf Gaza und fordert von seinen Anhängern: „Verwandelt ihre Versammlungen und Feste in blutige Massaker.“ Und er fordert: „Zündet Sprengsätze, verbrennt sie mit Granaten und Brandsätzen, erschießt sie mit Kugeln, schneidet ihnen mit scharfen Messern die Kehle durch und überrollt sie mit Fahrzeugen.“ Es werde „nicht an Mitteln fehlen, um das Blut aus den Herzen der Juden, der Christen und ihrer Verbündeten zu schöpfen.“

Dieser Aufforderung sind die Attentäter von Zürich, Paris und Solingen gefolgt. Weitere Taten könnten folgen: Der Terrorismus-Experte Peter Neumann spricht bei T-online von einem riesigen „Motivationsschub“, den der 7. Oktober und der Krieg in Gaza den Dschihadisten gegeben habe: Nach dem völkerrechtswidrigen Irakkrieg hätten sie jetzt wieder ein Thema gefunden, mit dem sie Islamisten weltweit mobilisieren und radikalisieren können. „Die Erzählung des IS lautet: Was in Palästina passiert, ist schrecklich. Aber man will nicht für die Region kämpfen, sondern für die Muslime in aller Welt und gegen die Christen und die Alliierten der Juden“, erklärt Neumann. Die Erzählung des IS lautet: Gaza ist bloß das nächste Kapitel im Krieg des Westens gegen die Muslime. Dagegen gilt es, sich zu wehren.

Zielgruppe: einsame junge Männer. Ort der Radikalisierung: Internet. Was der IS dafür machen muss: fast nichts

Ein Blick in die sozialen Medien zeigt: Quasi sämtliche islamistische Influencer greifen die Empörung und das Unbehagen auf, das viele Muslim:innen aufgrund der westlichen Unterstützung Israels verspüren. Islamistische Accounts wie „Muslim Interaktiv“ oder „Generation Islam“ fluten ihre Instagram- oder X-Kanäle mit Postings zum Gaza-Krieg und prangern die Doppelmoral des Westens an: Während Europa jedes Kriegsverbrechen Russlands ankreide, schließe es vor den Verbrechen Israels die Augen. Die mal offene, mal versteckte Botschaft: Der Westen ist islamfeindlich. Die so befeuerte Entrüstung kann als Türöffner zur Radikalisierung dienen. Besonders für junge, einsame Männer, die sich vor allem über die sozialen Medien informieren.

An diese „einsamen Wölfe“ wandte sich IS-Sprecher al-Ansari im März 2024 explizit, um den Kampf gegen Juden und Christen zu führen: Sie sollten Gaza rächen. Auf eigene Faust. Mit aus dem Internet geladenen Anleitungen für Terroranschlägen. Das Gefährliche an diesem „Open-Source-Dschihad“ ist: Um potentielle Attentäter zu radikalisieren, braucht der IS keine Hassprediger mehr, sondern bloß ein gut organisiertes Onlinenetzwerk aus Trollen, Propagandaaccounts und islamistischen Mentoren, die Nachwuchsattentäter anleiten.

Dass die Strategie aufgehen kann, zeigt nicht nur das Attentat von Solingen. Ende 2023 verhaftete die Polizei in NRW einen 15-Jährigen, weil er einen Terroranschlag auf den Leverkusener Weihnachtsmarkt geplant haben soll. Anschließend wollte er sich laut Ermittlern nach Afghanistan absetzen, um sich dem ISPK anzuschließen.

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Der Fall scheint einen größeren Trend widerzuspiegeln: „Zwei Drittel der Terrorverdächtigen, die seit Oktober 2023 in Westeuropa festgenommen wurden, sind Teenager“, sagt Terrorismusexperte Peter Neumann. Sie radikalisieren sich fast komplett online, auf Instagram oder Tiktok. Anschließend verabreden sie sich mit Gleichgesinnten auf Telegram zu Anschlagsplänen oder ziehen alleine los, mit einem Messer oder einem Auto.

Manche stehen vorher in Kontakt mit dem IS, andere radikalisieren sich komplett allein und schicken vor der Tat lediglich eine Videobotschaft an die Terrororganisation, in der sie ihr die Treue schwören. Das reicht, damit der IS die Tat für sich reklamieren kann.

Das heißt: Junge Männer können sich heutzutage radikalisieren und Anschläge planen, ohne je mit dem IS Kontakt zu haben. Das macht das Phänomen so gefährlich – und Prävention so schwierig. Denn der Anschlag in Solingen zeigt: Der Radikalisierungsschub durch den Gaza-Krieg erreicht auch junge Menschen, die den Sicherheitsbehörden zuvor als völlig unauffällig galten. Für eine liberale Demokratie ist das ein wunder Punkt. Für den IS ein Glücksfall.


Redaktion: Isolde Ruhdorfer, Schlussredaktion: Susan Mücke, Bildredaktion: Gabriel Schäfer, Audioversion: Christian Melchert

Warum IS-Terror wieder zunimmt, nicht nur in Solingen

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