Mittendrin unterbrechen Kirchenglocken die Rede von Sahra Wagenknecht. Sie steht auf dem Marktplatz in der thüringischen Kleinstadt Eisenach, vor sich mehrere hundert Menschen, neben sich eine Kirche.
„Wenn diese Ampelregierung in Berlin jahrelang eine Politik macht, die die Menschen nicht wollen, dann gefährdet das die Demokratie“, sagt Wagenknecht, als die Glocken anfangen zu läuten. „Selbst den kirchlichen Beistand haben wir bei dieser Aussage“, kommentiert sie.
Es ist einer der wenigen Momente, in denen Wagenknecht aus ihrer Performance ausbricht und einen Witz macht. Solche Momente gibt es fast nie, weil sie normalerweise, egal ob auf Youtube, im Bundestag oder im Wahlkampf, ihre Reden routiniert-empört durcharbeitet wie ein Politik-Roboter.
Am 1. September sind Landtagswahlen in Sachsen und Thüringen, drei Wochen später in Brandenburg. 21 Prozent könnte ihre neu gegründete Partei, das „Bündnis Sahra Wagenknecht“ (BSW) bei den Landtagswahlen in Thüringen holen. In Sachsen und Brandenburg sehen Wahlumfragen das BSW bei rund 15 Prozent.
Wagenknecht hat viele Anhänger:innen, einige von ihnen sind an diesem Montagabend auf den Marktplatz gekommen, um ihr zuzuhören. Die meisten sind Rentner:innen, kaum zu sehen sind junge Menschen oder Familien mit Kindern. Doch Wagenknecht hat mindestens genauso viele Kritiker:innen wie Fans. Sie gilt als Populistin, „Putin-Kuschlerin“ und als „ein bisschen ausländerfeindlich“.
Aber was will das BSW wirklich? Ist die neue Partei überhaupt links? Und wie populistisch ist Sahra Wagenknecht?
Um das herauszufinden, habe ich mit BSW-Wähler:innen geredet, Wahlprogramme gelesen und Sahra Wagenknecht beim Wahlkampf in Thüringen zugehört. Die Antworten zeigen, dass einfache Kategorien wie „rechts und links“ hier nur begrenzt funktionieren. Sie zeigen, dass Populismus nicht nur von Rechts kommt. Und dass Deutschland Probleme hat, die niemand so gut ausschlachten kann wie Sahra Wagenknecht.
Was im Programm steht und wie die Partei damit bisher abschneidet
Sahra Wagenknecht ist kein Neuling in der Politik, aber ihre Partei ist es. Im Oktober 2023 trat sie mit neun weiteren Abgeordneten aus der Linkspartei aus. Im Januar 2024 gründete sie offiziell die Partei „Bündnis Sahra Wagenknecht – Vernunft und Gerechtigkeit“. Co-Vorsitzende mit Wagenknecht ist Amira Mohamed Ali, die ebenfalls vorher in der Linken war.
Bei den Europawahlen im Juni holte das BSW aus dem Stand 6,2 Prozent, ein hoher Wert für eine so junge Partei. Das Parteiprogramm ist vier Seiten lang und enthält nur vier thematische Abschnitte: „wirtschaftliche Vernunft“, „soziale Gerechtigkeit“, „Freiheit“ und „Frieden“. Die Wahlprogramme in den drei Bundesländern sind länger und orientieren sich inhaltlich an diesen vier Punkten.
Alles ist auf Sahra Wagenknecht ausgerichtet, das wird auch an dem Abend in Eisenach deutlich. Die Partei trägt nicht nur Wagenknechts Namen, sie ist auch auf den Wahlplakaten der Bundesländer zu sehen, wo sie gar nicht antritt. Wenn sie einen Ort besucht, wird ihr Auftritt mit „Sahra kommt“ angekündigt, so auch in Eisenach. Bei der dortigen Wahlkampfveranstaltung spricht Wagenknecht länger als die beiden Spitzenkandidat:innen in Thüringen, Katja Wolf und Steffen Schütz, zusammen.
Wagenknecht nennt sich „linkskonservativ“, auch wenn das klingt wie „schnitzelliebender Veganer“
Wagenknecht und ihre Anhänger:innen legen häufig Wert darauf, sich nicht in linke oder rechte Schubladen stecken zu lassen. „Wir denken nicht in den Kategorien rechts oder links“, heißt es auf einem der Flyer, den der Landesverband Thüringen auf dem Marktplatz von Eisenach verteilt.
Für die Recherche habe ich mich mit verschiedenen Menschen ausgetauscht, die bei der Europawahl das BSW gewählt haben oder überlegen, der Partei bei den kommenden Landtags- oder Bundestagswahlen ihre Stimme zu geben. Eine von ihnen ist Hanna Andersen, eine Sozialarbeiterin aus Köln. Sie schreibt mir per Mail, dass sie 15 Jahre lang überzeugte Linkswählerin gewesen sei und davor die Grünen gewählt habe. „Mittlerweile denken und handeln diese Parteien meiner Überzeugung nach insbesondere beim Thema Einwanderung und Ukraine-Krieg, den Kernthemen des BSW, an der Realität vorbei und handeln nach ihrem Wunschdenken, nach reiner Ideologie.“
Als Sozialarbeiterin habe sie seit vielen Jahren mit Geflüchteten zu tun, doch diese Begegnungen hätten ihre Idee erschüttert, „dass ein multikulturelles Deutschland mit einem hohen Anteil muslimischer MitbürgerInnen gelingen kann.“ Auch ihre Meinung zum Russland-Ukraine-Krieg habe sich geändert, nachdem sie ihr „Wissen um den Konflikt, um die Kriegsgeschichte der USA und der NATO erweitert“ habe. Abschließend schreibt sie: „Mir ist es dabei völlig egal, ob ich meinem Selbstverständnis nach noch links bin, oder nicht. Jetzt ist es an der Zeit, realistisch zu sein.“
Das BSW setzt ganz bewusst Themen, die mal links, mal rechts auf dem politischen Spektrum liegen.
Typisch links sind zum Beispiel die Stärkung von Gewerkschaften oder die Aussage, dass Wohlstand keine Frage der Herkunft sein dürfe. Auf dem Marktplatz von Eisenach spricht Wagenknecht über Armut, niedrige Renten und Menschen, die keinen Job finden.
Das beschäftigt auch mehrere der Zuschauer:innen, mit denen ich gesprochen habe, beispielsweise Jörg Diezel, ein 69-Jähriger, der aus der Nähe von Eisenach kommt. Ihm selbst gehe es gut, aber es gebe ja auch Leute, die mit 1.200 Euro netto über die Runden kommen müssten. „Es ist ja inzwischen schon ein finanzieller Kraftakt, Kinder großzuziehen“, sagt er.
Auf der anderen Seite spricht sich das BSW im Parteiprogramm für eine Begrenzung von Zuwanderung aus und kritisiert „Cancel Culture“. Zwei Punkte, die man eher bei einer konservativen als bei einer linken Partei vermuten würde. Im April 2024 gab Wagenknecht dem rechtspopulistischen Portal Nius ein Interview, in dem sie „radikalen Klimaschutz“ und „offene Grenzen für alle“ kritisierte. „Wenn das links ist, bin ich keine Linke“, sagte sie über diese Themen.
So wie Wagenknecht sich von „Lifestyle-Linken“ abgrenzt, versichert sie auch, Rechtsextremismus abzulehnen. In ihrer Rede in Eisenach sagte sie, es mache ihr Sorgen, dass die AfD stärker werde. Auch mehrere der BSW-Wähler:innen, mit denen ich geredet habe, betonten, dass sie sich ausdrücklich von der AfD distanzieren oder eine AfD-Regierung in Thüringen verhindern wollen. Inhaltliche Überschneidungen gibt es trotzdem, beispielsweise unterstützte Jürgen Elsässer, Chef der rechtsextremen Zeitung Compact, die Initiative von Wagenknecht gegen Waffenlieferungen an die Ukraine und für Verhandlungen mit Russland. 2022 hob er sie auf den Titel seines Magazins mit der Überschrift: „Die beste Kanzlerin. Eine Kandidatin für Links und Rechts“.
In ihrem Buch „Die Selbstgerechten“ verwendet Wagenknecht für ihre Programmatik den Begriff „linkskonservativ“. Für manche klingt das vielleicht wie „schnitzelliebender Veganer“ oder „pünktlicher ICE“. Aber links und konservativ schließen sich nicht aus. Das BSW ist wirtschaftlich links – aber gesellschaftlich konservativ. Das ist nicht widersprüchlich, es entspricht nur nicht dem, was wir in Deutschland von den etablierten Parteien kennen.
Warum Wagenknecht für ihre Wähler:innen glaubhaft ist
Wagenknecht hat ein Talent dafür, Probleme so anzusprechen, dass viele ihr zustimmen. In ihrer Rede sagt sie Dinge wie „Politik sollte Probleme lösen und nicht Probleme schaffen“. Im BSW-Parteiprogramm steht: „Die Parteien vertreten nicht mehr die Interessen der Menschen.“
Das Entscheidende an dieser Stelle ist aber, dass Wagenknecht und das BSW diese Dinge nicht nur aussprechen, sondern auch den Eindruck erwecken, die angesprochenen Probleme tatsächlich lösen zu können. Das BSW kritisiert also nicht nur pauschal die Politik und die etablierten Parteien, es weckt in seinen Wähler:innen tatsächliche Hoffnungen auf eine Wende in der Politik.
Besonders glaubhaft in den Augen der Wähler:innen macht das BSW, dass Wagenknecht nach vielen Konflikten tatsächlich aus der Linken austrat, um ihre eigene Partei zu gründen. So sieht es zum Beispiel Christoph Holzmann, ein 40-jähriger gelernter Mediengestalter aus München. Er studiert gerade auf dem zweiten Bildungsweg Philosophie. Nach eigener Aussage ist er „eher ein Grünen-Wähler“, wie er am Telefon erzählt. „Ich finde es gut, dass sie so mutig war, aus der Linken auszutreten“, sagt er über Wagenknecht. Das BSW findet er gut, weil es für das Gefühl eines Aufbruchs stehe. „Es geht mir darum, etwas Neues zu schaffen in einem Land, in dem viel falsch läuft, zum Beispiel bei der Bürokratie.“
Wagenknecht ist so sicher populistisch, wie Eisenach in Thüringen liegt
Wagenknecht gilt als Populistin, ihre Anhänger:innen finden den Vorwurf meist unfair. Dabei ist der Populismus so deutlich, wie der Fakt, dass Eisenach in Thüringen liegt.
Populismus ist eine Grundhaltung, die zwischen einer „Elite“ und den „normalen Bürger:innen“ unterscheidet. In dieser Vorstellung ist die Elite, die meistens als korrupt und selbstsüchtig beschrieben wird, an der Macht und regiert an den Interessen der fleißigen, tugendhaften und vernünftigen Bevölkerung vorbei. Häufig nutzen rechte Akteure Populismus, wie etwa die AfD. Populismus kann aber genauso gut links sein.
Der Politikwissenschaftler Jan Philipp Thomeczek analysierte für eine Studie die 10.000 Reden und 19.000 Pressemitteilungen, die von der Linkspartei während ihrer gesamten Fraktionszeit veröffentlicht wurden. Thomeczek kommt zu dem Ergebnis, dass Wagenknecht von allen Abgeordneten der Partei am häufigsten populistische Rhetorik verwendete. Interessant ist auch, dass es gerade die Gruppe von Linken-Politiker:innen ist, die sich ebenfalls häufig populistisch äußerten, die mit ihr zum BSW wechselten.
Konkret zeigt sich das an der Rede von Wagenknecht in Eisenach, wenn sie gegen Politiker:innen von fast jeder Partei schießt. Ricarda Lang von den Grünen, Karl Lauterbach von der SPD oder Ursula von der Leyen von der CDU – sie alle kommen in der Rede ziemlich schlecht weg. Man habe bei vielen Politiker:innen das Gefühl, sie hätten „überhaupt keinen Plan davon, wie die Menschen in Deutschland leben, welche Sorgen sie haben, welche Nöte sie haben.“ Sie, Wagenknecht, habe das BSW gegründet, weil sie das Gefühl habe, in der Politik stecke der Wurm drin. „Aber nicht bei den Menschen, nicht bei den kleinen Unternehmen, nicht bei den vielen Millionen, die jeden Tag arbeiten, die sich abrackern.“
Besonders gern kritisiert Wagenknecht die Grünen: „Man hat ja bei diesen Grünen immer das Gefühl, die denken wirklich, alle Menschen in Deutschland leben so, wie ihre Freunde in der hippen Großstadtblase, wo sich das Leben zwischen Hafermilch-Macchiato, Lastenfahrrad und Bioladen abspielt. Aber das ist nicht das Leben der Menschen.“ Besonders selten erwähnt Wagenknecht in ihrer Rede die AfD.
Im BSW-Parteiprogramm findet sich ebenfalls die Erzählung einer abgehobenen, mächtigen Elite. Konkret sind das „übermächtige Finanzkonzerne“, die USA, ein „neuer politischer Autoritarismus, der sich anmaßt, Menschen zu erziehen und ihren Lebensstil oder ihre Sprache zu reglementieren“ sowie „mächtige Akteure“, die „aus Geld mehr Geld machen“ wollen.
Ohne den Russland-Ukraine-Krieg wäre das BSW nicht so erfolgreich
Millionen Menschen nutzen den Wahl-O-Mat, um sich vor einer Wahl zu informieren, welche Partei zu ihnen passt. Aber nur wenige kennen den BSW-O-Mat. Das ist ein Onlinetool, mit dem man herausfinden kann, inwiefern die eigenen Positionen mit denen des BSW übereinstimmen. Dabei werden einem Aussagen aus dem BSW-Parteiprogramm vorgelegt, die man von -5 (lehne voll ab) bis +5 (stimme voll zu) bewerten soll. Der Politikwissenschaftler Thomeczek hat den BSW-O-Mat entwickelt, um aus den Einträgen Schlüsse über die BSW-Wähler:innenschaft zu ziehen.
Seine Auswertung zeigt, dass vor allem ein Thema potentielle Wähler:innen anspricht: Außenpolitik. Genauer gesagt die Haltung des BSW zu Russland und der Ukraine, den USA, der Nato und dem Militär. Das BSW lehnt zum Beispiel jegliche Waffenlieferungen an die Ukraine ab. Das entspricht auch den Ergebnissen einer Umfrage unter BSW-Wähler:innen nach der Europawahl. „Friedenssicherung“ war für die Wähler:innen das mit Abstand wichtigste Thema für die Wahlentscheidung.
Auch für Claudia Schopphoff ist der Russland-Ukraine-Krieg ein Kernthema. Die 60-Jährige arbeitet als Familienhebamme, also als Hebamme mit Zusatzqualifikation, in Kiel. Sie habe immer grün gewählt, erzählt sie mir am Telefon und sei früher auf den „Frieden schaffen ohne Waffen“-Demonstrationen gewesen. Sie könne den jetzigen Schwenk der Politik nicht verstehen. „Ich finde Krieg furchtbar und finde, dass er beendet werden muss“, sagt sie. Das solle durch Verhandlungen geschehen. „Für mich ist das BSW die einzige Partei, die dafür steht“, sagt Schopphoff.
Politologe Thomeczek sagt dazu: „Ohne den Ukraine-Krieg wäre es für das BSW sehr schwierig gewesen, sich zu etablieren.“ Es sei ein sehr wichtiges Thema für die Partei, bei dem sie sich vollkommen anders positionieren können als die Ampelparteien oder die CDU/CSU.
Dieses Thema ist so dominant, dass es sogar für die Landtagswahlen in Thüringen, Sachsen und Brandenburg relevant ist, obwohl Landesregierungen kaum Einfluss auf Außenpolitik, wie etwa Waffenlieferungen, haben. Trotzdem steht in den BSW-Wahlprogrammen in allen drei Bundesländern ein ganzer Abschnitt zu „Frieden“, in dem es vor allem um den Russland-Ukraine-Krieg und die Folgen für Deutschland geht.
Es ist auch das Thema, für welches das BSW am heftigsten Kritik einstecken muss. Politiker:innen, Aktivist:innen und Journalist:innen werfen Wagenknecht vor, putinfreundlich und russlandnah zu sein und die Argumente der Ukraine zu ignorieren. Immer wieder veröffentlichen Redaktionen Faktenchecks, welche die Aussagen von Wagenknecht einordnen oder richtigstellen.
Eine gewisse Nähe zu Russland lässt sich auch bei der Wahlkampfveranstaltung in Eisenach beobachten. Bevor die Politiker:innen ihre Reden halten, singt Tino Eisbrenner auf der Bühne. Der Musiker trat noch 2023 auf einem Musikfestival in Moskau auf. Die linke Zeitung Neues Deutschland zitierte Eisbrenner kurz darauf, als dieser auf einer Veranstaltung Wladimir Putin dafür lobte, „wie lange sich dieser im Konflikt mit Ukraine und Nato gezügelt habe“.
Nach knapp zwei Stunden sind Musik und Wahlkampfreden vorbei. Wagenknecht macht noch ein paar Selfies mit den Zuhörer:innen, dann leert sich der Marktplatz. Wieder ertönen die Kirchenglocken. Ob sich der „kirchliche Beistand“ auch in den Wahlergebnissen für das BSW niederschlägt – das zeigt sich am Wahltag am 1. September.
Redaktion: Lea Schönborn und Rebecca Kelber, Schlussredaktion: Susan Mücke, Bildredaktion: Gabriel Schäfer; Audioversion: Iris Hochberger