Hisbollah-Milizen marschieren in einer Reihe, sie tragen Flaggen. Im Hintergrund hält jemand ein großes Foto von Hisbollah-Anführer Nasrallah.

picture alliance/dpa | Marwan Naamani

Politik und Macht

Interview: „Die Hisbollah führt nicht nur die Befehle von Iran aus“

Seit Wochen droht ein größerer Krieg im Nahen Osten. Mittendrin: die Hisbollah. Der Politikwissenschaftler Christian Thuselt erklärt, warum die Hisbollah mehr als nur eine Terrororganisation ist.

Profilbild von Isolde Ruhdorfer
Reporterin für Außenpolitik

Die Gefahr eines größeren Krieges im Nahen Osten ist seit Ende Juli deutlich gestiegen: Erst kostete eine Rakete aus dem Libanon zwölf Kindern in den von Israel annektierten Golanhöhen das Leben. Dann tötete Israel hochrangige Kommandeure der Hamas und der Hisbollah. Seitdem warten alle auf einen Gegenschlag von Iran, wahrscheinlich gemeinsam mit der libanesischen Hisbollah. Aber während sich die meisten Berichte auf Israel oder Iran konzentrieren, geht unter, was die Situation für den Libanon bedeutet – und welche Rolle die Hisbollah dabei spielt, die in Deutschland als Terrororganisation eingestuft wird und im Libanon als Partei im Parlament sitzt.

Um das besser zu verstehen, habe ich mit Christian Thuselt gesprochen. Er ist Politikwissenschaftler am Orient-Institut Beirut, einem Auslandsinstitut der Max Weber Stiftung. Thuselt lebt seit 2021 in Beirut, seine Doktorarbeit schrieb er über das libanesische Parteiensystem. Für das Interview hat er sich extra einen Hotspot angemacht, denn das Internet in der libanesischen Hauptstadt ist wackelig. Er wirkt gelassen, trotz der angespannten Situation im Land.

Ein Foto des Politikwissenschaftlers Christian Thuselt, der interviewt wird.

Politikwissenschaftler Christian Thuselt Fa. Glasgow/Erlangen

Im Juli tötete Israel mit Raketen den hochrangigen Hisbollah-Kommandeur Fuad Schukr in einem Vorort von Beirut. Laut des libanesischen Gesundheitsministeriums starben dabei auch drei Frauen und zwei Kinder. Was haben Sie von der Explosion gemerkt?

Ich wohne am anderen Ende der Stadt und habe nichts davon mitbekommen. Aber unser Türwächter hat mir erzählt, dass seine Kinder immer noch schlecht schlafen, weil sie eine der Raketen gesehen haben, die in das Gebäude eingeschlagen sind.

Ende Juli hat Israel außerdem den Polit-Chef der Hamas getötet, der in Iran war. Die Hisbollah und Iran schworen daraufhin Rache, jetzt droht ein größerer Krieg in der Region. Wie ist gerade die Stimmung in der libanesischen Bevölkerung?

Die Bevölkerung ist angespannt und sehr belastet. Die meisten Libanesen haben große Angst vor einem neuen Krieg. Viele fangen an, Lebensmittel und Klopapier zu hamstern. Beinahe jeder Libanese, der älter als 20 ist, hat Erinnerungen an den Krieg gegen Israel von 2006. Und beinahe jeder, der älter als 40 ist, hat Erinnerungen an den Bürgerkrieg von 1975 bis 1990.

Während des Bürgerkrieges gründete sich die Hisbollah. Wie genau kam es dazu?

Nach ihrer eigenen Erzählung ist die Hisbollah als Folge der israelischen Invasion 1982 entstanden. Viele Schiiten hatten damals das Gefühl, sie müssten mehr gegen die israelische Invasion tun.

Die Hisbollah ist schiitisch, eine Glaubensrichtung des Islam.

Die Schiiten waren in der libanesischen Politik unterrepräsentiert und hatten das Gefühl, sie kommen im Bürgerkrieg unter die Räder. Dafür gab es mehrere Auslöser, unter anderem Massaker an Schiiten in der Anfangsphase des Bürgerkrieges. Dazu kam, dass der damals führende schiitische Politiker, der Kleriker Musa al-Sadr, unter ungeklärten Umständen ums Leben kam. Und die Linke, die bis dahin unter den Schiiten relativ stark gewesen war, geriet in eine politische Krise.

Ausschlaggebend war aber die Islamische Revolution 1979 in Iran. Iranische Revolutionsgarden unterstützten schiitische Netzwerke im Libanon, aus denen die Hisbollah hervorging.

2006 verübte die Hisbollah einen Anschlag auf eine Militärpatrouille im Norden Israels und löste damit einen Krieg aus.

Später sagte Hassan Nasrallah, der Generalsekretär der Hisbollah, wenn er gewusst hätte, was das auslöst, hätte er den Angriff nicht befohlen. Israel holte nämlich zu einem Vergeltungsschlag aus, der zu massiven Schäden an der zivilen Infrastruktur im Libanon führte.

In Deutschland gilt die Hisbollah als Terrororganisation, seit 2020 ist sie hierzulande verboten.

Im Bürgerkrieg war die Hisbollah wie auch alle anderen Milizen an einer brutalen Welle von Morden, Entführungen und Anschlägen beteiligt. Danach gab es zwei nennenswerte terroristische Angriffe auf israelische Zivilisten. Einmal in den neunziger Jahren auf das jüdische Kulturzentrum und die israelische Botschaft in Buenos Aires und 2012 auf eine israelische Touristengruppe in Bulgarien. Es treffen auch immer wieder Drohnen der Hisbollah Zivilisten in Israel. Sie bemühen sich zwar darum, militärische Ziele zu treffen, das tun sie aber vermutlich eher aus pragmatischen Gründen, weil sie keinen Gegenschlag provozieren wollen. Ein solcher Gegenschlag würde die zivile Infrastruktur des Libanons so zerstören, dass man mit einer humanitären Katastrophe wie im Gazastreifen rechnen müsste.

Bei diesem Thema ist wichtig, dass der Begriff „Terror“ auch politisch ist. Die Hisbollah sieht sich als Widerstandsbewegung, für sie sind die Terroristen die andere Seite, also etwa Israel.

Wie das?

Die Hisbollah sagt, sie unterscheidet zwischen militärischen und zivilen Zielen und kritisiert zum Beispiel den Islamischen Staat für seine Anschläge auf Zivilisten im Westen. Viele Libanesen erinnern sich auch an den Bürgerkrieg, als es zu Beginn der achtziger Jahre eine Welle von Attentaten mit Autobomben gab. In manchen Monaten gingen hunderte Autobomben in die Luft. Von einigen Attentaten wissen wir heute, dass sie auf israelische Nachrichtendienste zurückzuführen sind. Sie würden sagen, dass hier auch Israel terroristisch handelte.

Eine Karte von Libanon und den Nachbarländern

Der Libanon ist von Israel und Syrien umschlossen.

Die Hisbollah ist auch eine politische Partei. Welche Macht hat die Partei im Libanon?

Die Partei hat keine Mehrheit mehr im Parlament. Seit der Parlamentswahl von 2022 gäbe es theoretisch eine Mehrheit gegen sie. Aber die Hisbollah blockiert mit Verfahrenstricks, dass sich eine neue Regierung bildet und ein neuer Präsident gewählt wird, denn sie will ihren eigenen Kandidaten durchdrücken. Und sie hat die Justiz lahmgelegt, weil sie verhindern will, dass die Verantwortlichen der Hafenkatastrophe vor Gericht kommen.

…2020 wurden wegen einer Explosion im Beiruter Hafen über 220 Menschen getötet, 300.000 Beiruter wurden wohnungslos…

Mehrere der damaligen Minister, die seitdem als mögliche Angeklagte gehandelt wurden, stehen der Hisbollah oder ihren Verbündeten nahe. Die Partei Hisbollah diskreditiert jegliche juristische Aufarbeitung der Hafenkatastrophe als „Verschwörung“. Die Hisbollah fordert zwar den Aufbau eines starken Staates, faktisch unterminiert sie ihn aber.

Wie schafft es die Hisbollah, den Libanon derart zu kontrollieren?

Die Hisbollah sieht sich selbst als Keimzelle einer idealen islamischen Gesellschaft. Deshalb ist sie sehr breit aufgestellt: Es gibt einen Fußballverein, ein theologisches Netzwerk und soziale Wohltätigkeitsorganisationen, die sehr wichtig sind im Libanon, weil es kaum soziale Fürsorge gibt. Die Hisbollah hat ein Wirtschaftsunternehmen, wenn Sie hier bei der Tankstellenkette Wardieh tanken, dann tanken Sie Hisbollah-Benzin. Nicht zu vergessen der riesige Militärapparat, über den die Hisbollah verfügt.

Deshalb wird die Hisbollah auch „Staat im Staat“ genannt.

Im Grunde ist der ganze Libanon eine Ansammlung solcher Milieus. Beirut ist durch den Bürgerkrieg unterteilt in verschiedene Lebenswelten, die einander nicht unbedingt wohlgesonnen sind. Menschen aus anderen Milieus trifft man im öffentlichen Raum und zunehmend nur auf der Arbeit.

Die Menschen im Libanon haben unterschiedliche Konfessionen, es gibt Christen, Sunniten, Schiiten oder Drusen. Verstärkt das diese Teilung?

Das ist ein wichtiger Faktor, aber nicht der einzige. Man kann sich die Konfessionszugehörigkeit seit 2009 zwar aus dem Ausweis entfernen lassen, aber wer sich im öffentlichen Raum begegnet, klopft sich meistens trotzdem auf das Thema hin ab. Auch am Namen oder am Erscheinungsbild erkennt man meistens, welche Konfession jemand hat. Aber Religion ist nicht das Entscheidende, was man zum Beispiel daran erkennt, dass nicht alle Schiiten die Hisbollah unterstützen. Auch das christliche Lager ist tief gespalten.

Haben andere Lager genauso viel Macht und Einfluss wie die Hisbollah?

Auch andere Parteien haben solche Netzwerke, nur schlechter ausgebaut und mit weniger Geld. Sie haben auch nicht so einen schlagkräftigen Militärapparat wie die Hisbollah. Aber Waffenlager haben sie trotzdem, ich habe sogar mal eines bei der Kataeb-Partei gesehen.

Sie sind einfach in ein Waffenlager spaziert?

Nicht ganz, sie haben die Tür nicht rechtzeitig zugemacht und ich habe die Gewehre gesehen. Man schätzt, dass im Libanon 70 Prozent der Bevölkerung Zugang zu Kriegswaffen haben. Als der Syrienkrieg vor rund zehn Jahren auf dem Höhepunkt war, konnte man überall im Libanon bewaffnete Parteianhänger auf der Straße sehen. Es ist eine Gesellschaft, in der man sich an Waffen gewöhnt hat.

Zurück zu Hisbollah, wie drückt sich die Feindschaft zu Israel aus?

Die Hisbollah nennt Israel nie beim Namen, sondern spricht beispielsweise von der „zionistischen Entität“. Wenn in der Hisbollah-Presse oder der ihr nahestehenden Presse Tel Aviv erwähnt wird, dann ist nicht von der Stadt, sondern von der Siedlung Tel Aviv die Rede. Womit sie klarmachen, das sind keine normalen Zivilisten, sondern eine politische Waffe. Das lässt erahnen, dass sie in Paradigmen denken, die, wenn es um Israel geht, keine Unterscheidung zwischen israelischen Zivilisten und Militärs vornehmen.

Wie ist die Stimmung in der libanesischen Bevölkerung in Bezug auf Israel?

Im Libanon herrscht eines der negativsten Israel-Bilder im ganzen Nahen Osten. Allerdings ist das nicht gleichmäßig verteilt, unter den Schiiten ist es am stärksten negativ ausgeprägt, unter den Christen am geringsten. Das hängt unter anderem damit zusammen, dass die wichtigste christliche Miliz während des Bürgerkriegs militärische Unterstützung aus Israel bekommen hat.

Als wichtigste geistliche Figur für die Hisbollah gilt Ajatollah Ali Chamenei, Irans „Oberster Führer“. Ist die Hisbollah nur ein verlängerter Arm von Iran?

Nein, sie sind Verbündete. Die Hisbollah führt nicht einfach nur die Befehle des Iran aus, sie agiert eigenständig. Das sieht man auch daran, dass sich die Hisbollah in gewisser Weise auf den Libanon einlassen musste. Sie weiß, dass sie hier keine Islamische Republik wird errichten können, weil sie nicht ohne Verbündete aus den Reihen der Sunniten, Christen oder Drusen regieren kann. Das ist anders als in Iran.

Die Hisbollah bekommt natürlich finanzielle und militärische Unterstützung aus Iran. Doch selbst wenn diese Unterstützung wegfiele, würde sie wahrscheinlich überleben. Die Hisbollah ist tief verwurzelt in der schiitischen Bevölkerung und würde weiter existieren als das, was sie jetzt schon ist, als Milieu.

Hat die Hisbollah Interesse an einer Eskalation mit Israel?

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Der Raketenanschlag auf den Golanhöhen, für den mutmaßlich die Hisbollah verantwortlich ist, war wahrscheinlich ein Fehlschlag, es handelte sich um eine veraltete und ungenaue Rakete. Das einzugestehen würde aber Schwäche bedeuten und die Hisbollah stellt sich selbst immer als stark und Israel als schwach dar.

Ich deute die Rhetorik der Hisbollah eher defensiv. Hassan Nasrallah, der Generalsekretär der Hisbollah, ist ein begnadeter Rhetoriker, unabhängig davon, was man von ihm hält. In seinen Reden ist nichts dem Zufall überlassen. In seiner Rede für die Gedenkfeier des getöteten Hisbollah-Kommandeurs Fuad Schukr hat er angedeutet, was die Ziele von militärischen Schlägen der Hisbollah sein könnten und die israelische Industrie beschrieben, unter anderem eine Chemiefabrik bei Haifa. Beide Seiten kommunizieren sozusagen über begrenzte Gewaltanwendung.

Das klingt nicht unbedingt positiv, aber auch nicht fatalistisch.

In diesem vermeintlich kaltblütigen Spiel kann man die Gefahren nicht kalkulieren. Raketen können ihr Ziel nicht treffen und unbeabsichtigt Zivilisten treffen. Es ist immer die Frage, ob sich die Eskalation begrenzen lässt.


Redaktion: Rebecca Kelber, Schlussredaktion: Lea Schönborn, Bildredaktion: Philipp Sipos, Audioversion: Christian Melchert und Iris Hochberger

„Die Hisbollah führt nicht nur die Befehle von Iran aus“

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