Eine Person mit einer roten Warnweste klingelt an einer Haustür.

© Christoph Winkler

Politik und Macht

So könnte linke Politik in Zukunft erfolgreich sein

Alle reden über den Rechtsruck, aber an einem Ort in Sachsen konnte die Linke trotz allem gewinnen. Warum hat es in Leipzig geklappt? Das könnte am Wahlkampf von Nam Duy Nguyen liegen.

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Reporterin

„Der Chef persönlich war schon da“, rief ein alter Mann aus dem Fenster im ersten Stock des graubraunen Blocks zu dem Wahlkämpfer herunter. Seine Arme hatte er auf dem Fenstersims abgestützt. Er klang ein wenig stolz.

Gemeint hat er Nam Duy Nguyen, den 28-jährigen Direktkandidaten der Linken im Wahlkreis 25 in Leipzig.

Nam Duy, der am 1. September eines der beiden Direktmandate geholt hat, das die Linke trotz allem in den sächsischen Landtag gebracht hat. Mit fast 40 Prozent der Stimmen in seinem Wahlkreis.

Nur einen Monat zuvor stand ein Wahlkämpfer der Linken auf dem Gehweg vor dem Haus des weißhaarigen Mannes, an der Laterne neben ihm hing ein Wahlplakat mit Nam Duys grinsendem Gesicht. Da war noch unklar, ob sich die Hoffnugen erfüllen würden.

Im Auto auf dem Weg zum Haustürwahlkampf in Leizpig Zentrum-West tönte aus den Lautsprechern „Calm Down“ von Rema, die Klimaanlage lief. Nam Duy redete über den Rapper Apsilon, Fußball und wie es ist, plötzlich auf der Straße erkannt zu werden und sagte: „Am Ende kann es die eine Tür sein, an der man nicht geklopft hat, die es entscheidet.“

Nam Duy Nguyen sitzt im Auto am Steuer. Er lächelt.

Im Auto auf dem Weg nach Zentrum-West, draußen ist es heiß, aus den Lautsprechern tönt „Calm Down“ von Rema. © Lea Schönborn

Vielleicht war es die eine Tür, an der Nam Duy geklopft hat, aufgrund der es geklappt hat. Jetzt könnte der Wahlkreis 25 als Vorbild dafür genommen werden, wie linke Politik heute und in Zukunft funktionieren kann.

Die Prognosen für die Linke sahen schlecht aus. Lange war sie Volkspartei in den ostdeutschen Bundesländern, doch vor der Wahl sahen Umfragen die Linke selbst in Sachsen nur bei 3,5 Prozent. Und auch am Wahlabend waren die Ergebnisse ernüchternd, nur 4,5 Prozent für die Linken in Sachsen. Über Zweitstimmen wäre die Linke nicht in den Landtag gekommen.

Nam Duy und sein Team haben gegen diese Prognosen angekämpft: Seit April haben sie an Haustüren geklingelt und mit den Menschen im Wahlkreis 25 gesprochen. Für eine Aktionswoche im August sind fast 400 Menschen aus ganz Deutschland gekommen, um die Leipziger Linken beim Wahlkampf zu unterstützen. Mit ihrer Hilfe wollte Nam Duy ein Direktmandat für die Linke gewinnen, eins von zwei, die die Partei brauchte, um in den Landtag einzuziehen. Und er hat es geschafft. Sie haben dafür an über 40.000 Türen geklingelt, in einem Wahlkreis, der 50.000 Wahlberechtigte zählt. 11.000 Menschen haben ihnen die Haustür geöffnet.

Haustürwahlkampf heißt warten und geschlossene Türen aushalten

Es gab Szenen, die sich beim Haustürwahlkampf wiederholten und Biografien, die sich ähnelten.

Wie zum Beispiel die des alten Mannes aus dem ersten Stock des Wohnblocks. Wir liefen ihm im Hausflur beim Müllrausbringen über den Weg. Dabei erzählte er, dass er 46 Jahre gearbeitet habe und trotzdem weniger als 800 Euro Rente im Monat bekomme. Für einen Urlaub spare er drei bis vier Jahre, lege jeden Monat etwas Geld zurück. „Ach“, sagte er und wischte mit einer einzigen Handbewegung die multiplen Identitätskrisen der Linken weg. Er habe schon immer links gewählt, erst die SED, dann die PDS, jetzt die Linke.

Damit ist er einer der wenigen, den die Linke noch nicht verloren hat.

Denn viel häufiger lief es so ab:

Nam Duy drückte die Klingel eines weiteren siebenstöckigen Blocks, dessen Fassade aus derselben undefinierbaren Zementsteinmischung bestand. Es summte und Nam Duy hat die Tür aufgeschoben. Im ersten Stock hat er auf der rechten Seite geklingelt und innegehalten. Es war ein kurzer Moment der Ruhe, einer der wenigen an diesem Tag Anfang August, in denen er weder zuhören noch sprechen musste.

Er hat gelauscht, ob er ein Rascheln oder das Klimpern eines Schlüssels hörte, ein Zeichen, dass jemand zuhause war. Die Tür ist einen Spalt weit aufgegangen. Nam Duy hat „Guten Tag“ gesagt, freundlich gelächelt und die Hand rausgestreckt, angesetzt zu: „Ich bin Nam Duy Nguyen von den Linke …“ Da war die Tür schon wieder zu und der Schlüssel hat sich im Schloss gedreht.

Österreich und Rostock machen vor, wie linke Politik funktionieren kann

Allen Prognosen zum Trotz hat die Kommunistische Partei Österreich (KPÖ) vorgemacht, wie linke Politik heute noch funktionieren kann. Bei den Lokalwahlen in Salzburg und Innsbruck erzielte die KPÖ Anfang des Jahres überraschend hohe Ergebnisse, in Salzburg stellen sie sogar den stellvertretenden Bürgermeister.

Aber funktioniert das, was die KPÖ in Österreich erreicht hat, auch in Deutschland?

Es gab Zeiten, in denen in Sachsen jeder Fünfte die Linke wählte, bei den kommenden Landtagswahlen wird es vielleicht nur jeder Fünfundzwanzigste sein. Bei der sächsischen Landtagswahl 2019 ist die Linke auf zwölf Prozent gefallen, ein Minus von neun Prozent. 2024 haben sie nicht einmal die Fünfprozenthürde erreicht.

Drei große Wahlplakate. In der Mitte steht das Plakat der Linken mit einem Bild von Nam Duy Nguyen.

Die Plakate von Nam Duy fallen auf, weil er lächelt, während die anderen ernst schauen. © Marlene Ickert

Für die einen ist die Linke heute eine woke Partei, die nur Identitätspolitik macht und für die anderen eine muffige Partei mit DDR-Altlasten. Für beide Seiten ist sie unwählbar.

Einen kleinen Erfolg hatte die Linke 2023 in Rostock gefeiert: Dort wurde überraschend eine Linke Oberbürgermeisterin, Eva-Maria Kröger. Sie und ihr Team hatten einen Fokus auf Haustürwahlkampf gelegt und sind überzeugt, dass das der entscheidende Schritt war.

Wie die Linke in Rostock setzte auch die KPÖ in Österreich auf Haustürgespräche. Und sie bieten wöchentliche Sprechstunden für Bürger:innen an, aus denen sie auch ihr wichtigstes Wahlkampfthema entwickelten: Miete. Von ihren Gehältern geben Abgeordnete der KPÖ alles über einen durchschnittlichen Facharbeiterlohn (aktuell 2.300 Euro) an Salzburger:innen in Notlagen ab, schreibt der Vorsitzende Kay-Michael Dankl auf seiner Website.

Die Strategie: sich selbst auf eine Stufe mit den „Arbeitnehmenden“ stellen, deswegen auch die Gespräche und das gedeckelte Gehalt. Zeigen, dass man nicht in einer anderen Liga spielt, sondern gemeinsam mit den Bürger:innen Politik machen möchte. Die KPÖ hat ihr Image so sehr aufpoliert, dass sie sogar für diejenigen, die eigentlich beim Wort „Kommunismus“ die Nase rümpfen, wählbar geworden ist. Sie heißen jetzt „KPÖ PLUS“.

Nam Duy hat sich für seinen Wahlkampf ein paar Sachen aus Österreich abgeschaut, zum Beispiel den Fokus auf finanzielle und lebensnahe Themen. Immer wieder betonen er und seine Unterstützer:innen in den Gesprächen die hohen Mieten und Lebensmittelpreise sowie die Probleme im Nahverkehr. Falls Nam Duy in den Landtag einzieht, will er sein Gehalt auf 2.500 Euro netto deckeln. Das eigentliche Gehalt der Politiker:innen im sächsischen Landtag liegt netto doppelt so hoch, den Rest will er abgeben. Und dann natürlich die Haustürgespräche plus die wöchentliche Sprechstunde, immer freitags von 15 bis 17 Uhr.

Die Bundeslinke ist derweil noch hin- und hergerissen, wo sie hinwill. Die älteren Genossen sehen die Stärkung einer bewegungsnahen Linken kritisch. Also einer Linken, die auf Arbeit außerhalb des Parlaments setzt, zum Beispiel auf Haustürgespräche, Streiks oder Stadtteilversammlungen. Die Jüngeren vermissen eine Offenheit gegenüber Neulinken.

Nam Duy Nguyen vereint einen Widerspruch, den es gar nicht gibt

Am Samstagmorgen beim Workshop für den Haustürwahlkampf waren junge Männer mit Ohrringen und Frauen mit Vokuhila in der Überzahl. Viele hier kommen aus der Klimabewegung oder sind in anderen politischen Gruppen aktiv. Bevor sie in die Stadt ausströmten, rief eine Person vorne ins Mikro „niemals“ und alle anderen „alleine“, die Person mit Mikro „immer“ und alle anderen „gemeinsam“.

Die Frage ist, ob diese Sprüche skandierenden jungen Linken Politik machen können für den alten Mann aus dem ersten Stock, der im Plattenbau lebt und sich nur alle paar Jahre einen Urlaub leisten kann.

Aber vielleicht ist dieser scheinbare Gegensatz auch viel zu platt.

Nam Duy Nguyen ist das beste Beispiel dafür: Er hat Politikwissenschaften und Soziologie studiert und bewegt sich in der linken Szene, als wäre es seine Familie. Aber er ist auch in Armut aufgewachsen, in Riesa, einer kleinen Stadt zwischen Dresden und Leipzig. Die Geschichte seiner Eltern ist eine typisch ostdeutsche Geschichte: erst Arbeit im Stahlwerk, dann Arbeitslosigkeit nach der Wende, irgendwann ein kleiner Kiosk, den sie bis heute betreiben.

Was ihn von vielen anderen ostdeutschen Biografien unterscheidet: Nam Duy muss auch Geschichten von Rassismus erzählen. Davon, wie seine Mutter angespuckt oder er selbst beschimpft wurde.

Nun wird er die erste nicht-weiße Person sein, die im sächsischen Landtag sitzt.

Arm aufgewachsen und trotzdem studiert, ostdeutsche Herkunft und gleichzeitig Erfahrungen mit Rassismus: Nam Duy vereint in seiner Biographie viele Eigenschaften, die andere als Gegensätze wahrnehmen. Wahrscheinlich will er deshalb „die Arbeitenden in den Fokus stellen, aber nicht auf Kosten der Einwanderer und Geflüchteten“. Er sagt, es fehle der deutschen Linken an Menschen, die das verkörpern.

Die Gespräche sind anspruchsvoll, weil sie so unterschiedlich sind wie die Lebensrealitäten in Leipzig

Nach der Mittagspause in Leipzig Zentrum-West stand Nam Duy im dritten Stock eines siebenstöckigen Wohngebäudes, wie immer hat er die Bewohner:innen mit ihrem Namen angesprochen, den er vorher vom Klingelschild abgelesen hat und ihnen die Hand gereicht.

Eine Frau hat die Tür geöffnet, sie trug hohe Schuhe und eine rote Brille und stellte sich als Christina vor. Sie wollte gerade Kaffee aufsetzen für ihre Gäste, weil sie heute 79 wird. Eigentlich hatte Christina also gar keine Zeit. Aber dann hat sie trotzdem erzählt, wie wichtig sie die Linke findet. Dass sie die schon immer wähle, um der Regierung „in die Suppe zu spucken“.

Nam Duy Nguyen steht vor der Haustür einer Anwohnerin und unterhält sich mit ihr.

Nam Duy hält Christina das Handy hin und sie sagt: „Man muss der Regierung in die Suppe spucken!“ © Lea Schönborn

Nam Duy hat den passenden Moment erahnt und sie gefragt, ob sie gemeinsam ein Video aufnehmen könnten. Sie hat sich überreden lassen und er hat das Video bei Instagram hochgeladen.

Und dann ist noch etwas Spannendes passiert: Erst hat sie ihm gesagt, dass er nicht aufgeben soll und er ihr, dass Momente wie diese ihm helfen würden, weiterzumachen. Dann hat er noch eine linke Parole rausgehauen, von der er wahrscheinlich nicht mal gemerkt hat, dass es eine war: „Es lohnt sich, für ein gutes Leben für alle zu kämpfen, weil die Leute es verdient haben.“

Das stieß auf Widerwillen, sie schüttelte den Kopf. „Gut ist immer relativ“, sagte die 79-Jährige. „Versprechen Sie nicht zu viel, sonst enttäuschen Sie nur die Leute. Und erzählen Sie auch nicht, dass Sie die Preise runtermachen können, das können Sie doch gar nicht.“

Viele, die für Nam Duy Haustürwahlkampf machten, waren euphorisiert. Die Gespräche mit den Menschen bewegten etwas in ihnen. Nam Duy sagte, er würde dadurch ein anderes Gefühl für den Ort, die Menschen und deren Sorgen entwickeln. Und auch dafür, was nicht funktioniert, platte linke Parolen zum Beispiel.

Die Gespräche waren anspruchsvoll, weil sie so unterschiedlich waren wie die Lebensrealitäten in Leipzig. Sogar im selben Haus: Da war der Vater, der skeptisch reagierte, sich aber trotzdem aufs Gespräch einließ. Der sagte, dass er noch nie die Linke gewählt habe, weil die Linke, als er angefangen habe zu wählen, „einen Touch des Ewiggestrigen“ gehabt habe. Weit weg wäre er nicht von den Forderungen, „auch wenn es eine schräge Partei mit einem schrägen Erbe ist.“ Der Wahlkämpfer blieb zurück, etwas unsicher, ob das jetzt ein gutes oder schlechtes Gespräch war. Und ein paar Stockwerke weiter unten wohnte ein Mann, der im Unterhemd dasaß, bei dem unklar war, ob er überhaupt verstanden hatte, was der Wahlkämpfer sagte, der nur undefinierbare Geräusche als Reaktion auf das Gesagte gab, aber den Flyer annahm, der ihm in die Hand gedrückt wurde.

Nam Duy Nguyen und ein Kollege sitzen rauchend im Café.

Mittagspause in dem Café, in dem ein Capucchino 3,90 Euro kostet. © Lea Schönborn

Viele Menschen in den Wohnungen würden niemals in dem schicken Café gegenüber sitzen, in dem ein Cappuccino 3,90 Euro kostet. Zum Beispiel der Mann mit dem offenen Gürtel und den verwuschelten Haaren, der einen nervösen Eindruck machte, als zwei fremde Menschen vor seiner Tür standen. Oder die Männer, die die Gespräche in Unterhosen führten. Oder Christina, die sagte, das Wetter an ihrem Geburtstag wäre ihr egal: Sie bleibe eh drinnen. Auf dem Weg vom siebten Stock nach draußen sagte Nam Duy, dass die Bewohner:innen dieser Blocks die Wohnungen häufig von innen abgeschlossen hätten. Im Altbau wäre das anders.

„Es geht ja nicht nur um mich, sondern darum, ob dieses Projekt funktioniert“

Abends sagte Nam Duy: „Es ist schon Druck da.“ Er saß auf der Bordsteinkante, in seiner Hand ein großer Pappbecher mit Sekt auf Eis. „Es geht ja nicht nur um mich, sondern darum, ob dieses Projekt funktioniert.“ Kurz schaute er ins Leere.

Unten im Keller feierten die anderen die Abschlussparty der Aktionswoche, viele junge Leute waren da. Nam Duys Handy klingelte: Drinnen an der Bar waren Sekt und Eiswürfel ausgegangen, ausgerechnet! Nam Duy ist aufgesprungen, hat beides besorgt und lief nur ein paar Minuten später die Treppenstufen in den muffigen Keller hinunter.

Kurz darauf stand er hinter dem DJ-Pult, in seinem Mundwinkel eine selbstgedrehte Zigarette. Da war es kurz nach Mitternacht und Nam Duy seit 16 Stunden unterwegs. Er spielte „Zeit, dass sich was dreht“ von Herbert Grönemeyer. Der Song, der auch sein Wahlkampfslogan war.

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An dem Abend herrschte eine Euphorie unter den Wahlkämpfer:innen, die fast vergessen ließ, dass es bis zur Wahl noch vier Wochen waren. Dass die Prognosen so mies waren. Ein paar Tage nach der Party erzählte Nam Duy, dass er und sein Team angefangen hätten, über die verschiedenen Szenarien nachzudenken, die am 1. September eintreten könnten. Damit sie nicht überrumpelt würden.

Der für die Wahlfeier gemietete Raum wäre zum Beispiel zu klein, wenn er in den Landtag einziehen würde. Denn dann würden aus den geplanten 350 schnell 500 Menschen werden.

Und so ist es passiert. Nam Duy hat fast 40 Prozent in seinem Wahlkreis geholt. Jetzt ist die Frage, ob die Bundeslinke sich davon etwas abschaut.


Redaktion: Isolde Ruhdorfer, Schlussredaktion: Susan Mücke, Bildredaktion: Philipp Sipos; Audioversion: Iris Hochberger

So könnte linke Politik in Zukunft erfolgreich sein

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