Liat Atzili ist am siebten Oktober aus dem Kibbuz Nir Oz entführt worden. Wochenlang hielten zwei Hamas-Mitglieder, ein Lehrer und ein Anwalt, sie als Geisel fest. Atzila wusste nicht, ob ihr Ehemann und ihre drei Kinder noch am Leben waren. Was sie erlebt hat, unterscheidet sich von allem, was wir bisher gehört haben.
Im Bücherregal von Liat Beinin Atzilis neuer Wohnung in Kirjat Gat, einer Stadt im Süden Israels, steht ein Buch mit dem Titel „Demon Copperhead“. Es ist ein Roman von Barbara Kingsolver, eine moderne Interpretation von Charles Dickens’ Klassiker „David Copperfield“. Das Buch sieht aus wie neu – bis auf ein paar Rußflecken. Am Morgen des siebten Oktobers 2023 lag es auf Atzilis Nachttisch im Kibbuz Nir Oz, weniger als zwei Kilometer vom Gazastreifen entfernt. Sie war kurz davor, es zu lesen.
Mehr als neun Monate später hat sie es immer noch nicht angefangen. Sie kann sich noch nicht genug konzentrieren, sagt sie mir. Dennoch ist es jetzt das wichtigste Buch in ihrer Bibliothek. Es war der erste Gegenstand, den sie aus den Überresten ihres niedergebrannten Hauses in Nir Oz geborgen hat.
Als ich Liat Atzili zum ersten Mal treffe, sind vierundfünfzig Tage seit ihrer Entführung vergangen. Sie ist als Teil des ersten und bisher einzigen Geiselabkommens im November 2023 freigekommen. Der Kibbuz organisierte eine Gedenkfeier zu ihren Ehren und zum Andenken an ihren Mann Aviv, den Vater ihrer drei Kinder. Er war am siebten Oktober bei der Verteidigung von Nir Oz gefallen. Sein ganzes Leben hatte er hier an diesem Ort verbracht. Sein Leichnam wurde entführt und befindet sich bis heute in Gaza.
Ungefähr drei Wochen nach dem Hamas-Massaker interviewte ich das älteste ihrer Kinder, Ofri, 22, sowie Avivs Mutter Talma Atzili und Liats Mutter Chaya Beinin. Sie waren in ein Hotel in Eilat evakuiert worden. Niemand hatte eine Ahnung, was mit Liat und Aviv geschehen war. Sie wussten nur, dass Aviv das Haus verlassen hatte und verschwunden war. Von Liat fehlte jedes Lebenszeichen.
Ofri und seine beiden Großmütter erzählten mir, dass Liat und Aviv ein glückliches Paar waren. Beide waren 49 Jahre alt und hatten sich schon mit 14 kennengelernt. Aviv arbeitete als Mechaniker und trug die Verantwortung für die landwirtschaftlichen Geräte des Kibbuz. In letzter Zeit hatte er sich auch als Künstler versucht und sich dabei als talentiert und sensibel erwiesen. Liat besitzt neben der israelischen auch die US-Staatsbürgerschaft und arbeitet als Geschichts- und Politiklehrerin. Unter anderem führt sie Jugendgruppen durch die Holocaustgedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem. Ofri und sein Bruder Neta, 20, befanden sich am Morgen des siebten Oktobers in einem anderen Teil des Kibbuz. Ihre Schwester Aya, mit 19 Jahren die jüngste der Geschwister, war auf Reisen. Eine liebevolle und lebensfrohe Familie, die das Reisen liebte und viele Freunde besaß. Ich fand es schade, dass wir uns nicht früher kennengelernt hatten.
„Ich muss da raus und schauen, was passiert“
Am 29. November kehrte Liat nach Hause zurück. Es war der vorletzte Tag eines viertägigen Waffenstillstands. In diesen Tagen wurden 50 israelische Frauen und Kinder gegen 150 palästinensische Gefangene ausgetauscht. Am Tag nach ihrer Heimkehr bestätigte die israelische Armee die schlimmsten Befürchtungen der Familie: Aviv war am siebten Oktober ermordet worden, seine Leiche befand sich in den Händen der Hamas.
Nach Liats Rückkehr wollte ich sie mit eigenen Augen sehen und aus erster Hand hören, was sie durchgemacht hatte. Ihre Geschichte ist nicht repräsentativ für die übrigen zweihundertfünfzig Geiseln. Man hielt sie nicht in den unterirdischen Tunnelnetzen der Terroristen gefangen, sie wurde weder grausam behandelt, noch Gewalt ausgesetzt. Genug zu essen bekam sie auch. Liat weiß, dass sie sehr viel Glück gehabt hat.
Am siebten Oktober fing sie an zu begreifen, dass etwas Ungewöhnliches im Gange war, als ein Freund von außerhalb des Kibbuz sie anrief. Er hatte die Ereignisse in den sozialen Medien verfolgt. „Ich sagte, dass das unmöglich wahr sein konnte“, erinnert sie sich heute.
Mit Aviv ging sie in den Schutzraum. „Unzählige Luftschutzsirenen heulten gleichzeitig. Nach wenigen Minuten hörten wir auch Gewehrfeuer. Aviv sagte: ‚Es sind welche im Kibbuz. Ich muss da raus und schauen, was passiert.‘ Als Mitglied der Schutztruppe des Kibbuz besaß er eine Pistole. Nach ein paar Minuten kehrte er zurück und sagte, dass er und unser Nachbar durch den Kibbuz patrouillieren würden und ging wieder. Es war das letzte Mal, dass ich ihn gesehen habe.“
Ich war sicher, es würde das Gleiche passieren, wie im Holocaust
Allein mit ihrem Hund blieb Liat im Schutzraum zurück. Gegen elf Uhr morgens stürmten zwei bewaffnete und uniformierte Männer in den Raum.
Haben sie dir Angst gemacht?
Liat: „Nicht besonders. Beide hatten Waffen, aber sie bedrohten mich nicht. ‚Du brauchst keine Angst zu haben, wir tun dir nichts. Komm mit‘, sagten sie. Sie gaben mir Zeit, um mich zu sammeln und mich anzuziehen, aber ich stand unter Schock und habe das gar nicht geschafft.“
Hast du versucht, mit ihnen zu verhandeln?
„Nein.“
Kurz überlegt sie, das Kingsolver-Buch mitzunehmen. Sie lässt es da. Später, während der endlosen Tage, die sie in Gefangenschaft verbringt, in einem Haus in Khan Yunis im südlichen Teil des Gazastreifens, bereut sie das. „Ich sagte mir: Was, ausgerechnet jetzt denke ich über ein Buch nach? Es kam mir dämlich vor. Ich dachte, nach zwei oder drei Tagen wäre sowieso alles vorbei. Ich weiß nicht, warum. Kleider habe ich auch keine mitgenommen. Nur meine Brille habe ich gesucht. Die Männer haben mir sogar dabei geholfen. Gefunden haben wir sie nicht. Als ich nach zwei Monaten nach Hause zurückkehrte, war die Brille genau dort, wo sie sein sollte. Im entscheidenden Moment funktioniert dein Gehirn nicht.“
Was ging dir durch den Kopf?
„Ich war fest überzeugt, dass sie uns nach draußen bringen würden. Und dann würde das Gleiche passieren wie im Holocaust. Sie würden uns alle auf die große Wiese führen und dann… gottweißwas. Draußen bemerkte ich aber, dass ich ganz allein war. Das hat mich völlig überrascht. Die Männer haben mich nicht angerührt. Sie sprachen Englisch mit mir und sagten immer wieder: ‚Mach dir keine Sorgen, wir werden dir nichts tun.‘ Schließlich brachten sie mich zu einem Auto beim Speisesaal. Darin saß noch eine Person aus dem Kibbuz. Er ist bis heute in Gefangenschaft.“
„Die Mutter des Entführers nahm mich in den Arm“
Der Hund der Familie Atzili wurde an diesem Tag erschossen. Das erfuhr Liat erst später, nach ihrer Rückkehr. Im Gazastreifen angekommen, wurde sie von dem anderen Gefangenen getrennt und in das Haus der Familie eines der Entführer gebracht. „Seine Mutter nahm mich in Empfang. Ich konnte nicht aufhören, zu weinen. Sie setzte sich mit mir aufs Sofa, nahm mich in den Arm und sagte ‚Alles wird gut, alles wird gut.‘“
„Ich erklärte ihnen, dass ich nicht wusste, was mit meinem Mann und meinen Kindern war. Und bat sie, jemanden darüber zu informieren, dass ich noch am Leben war.“ Heute lacht Liat darüber. „Immer wieder sagten sie: ‚In ein paar Tagen, nur noch ein paar Tage.‘ Die ganze Zeit habe ich geweint. Sie schienen wirklich besorgt um mich und baten mich, zu essen und zu trinken. ‚Wir beschützen dich. Du bist hier sicher. Hier wird dir nichts passieren.‘ Sie ließen mich duschen und frische Kleidung anziehen, und sie wuschen sogar meine alte Kleidung.“
Hatten sie keine Angst, dass du fliehen würdest?
„Nein, und das auch zurecht. Das Haus war komplett offen. Ich konnte mich drinnen frei bewegen. Sie haben mich gefragt, ob ich irgendetwas bräuchte und ob ich allein sein wollte. Bewacht haben sie mich gar nicht. Wo sollte ich in Khan Yunis auch hin, was würde ich dort tun? Wir haben nicht viel geredet, weil sie kein Englisch oder Hebräisch sprachen und ich kein Arabisch kann. Im Haus waren außerdem noch die Eltern meines Entführers, seine Brüder und seine Schwester mit ihren Kindern. Es hat mich beruhigt, dass kleine Kinder im Haus waren.“
Am Abend des achten Oktobers wurde Liat in eine andere Wohnung gebracht. Dort befanden sich einige Hamas-Kämpfer und einige thailändische Gastarbeiter:innen, die aus den Siedlungen an der Grenze zu Gaza entführt worden waren. Auch eine weitere Frau aus Nir Oz war dort. Die Thailänder:innen wurde noch in derselben Nacht weggebracht. Zwei Wachen blieben bei ihr und der anderen Geisel. „Die beiden waren um die dreißig Jahre alt. Sie waren weder bewaffnet noch in Uniform. Ungefähr zehn Tage blieben wir in dieser Wohnung, bis man uns in eine andere verlegte. So begann unsere Gefangenschaft.“
Obwohl Liat und die andere Entführte aus demselben Kibbuz stammten, kannten sie einander nicht. Ihre gemeinsame Gefangenschaft war für die beiden Frauen ein großer Trost. Sie konnten sich unterhalten und über ihre Gefühle sprechen. Es passierte aber noch mehr: Während der langen Gefangenschaft entwickelte sich zwischen Liat und ihren Bewachern eine Art von Vertrauen.
„Es war alles sehr verwirrend“, erinnert sie sich. „Natürlich hatte ich Angst. Vor allem am Anfang. Aber sie haben uns ständig gesagt, dass Hamas einen Deal wollte, dieser bald passieren würde und es ihre Aufgabe sei, unsere Sicherheit zu gewährleisten. Dass es in ihrem besten Interesse sei, uns in gutem Zustand zu halten. Nach einigen Tagen war mir klar, dass sie uns nicht verletzen würden. Mir machte Angst, dass sie uns vielleicht jemand anderem übergeben würden. Manchmal erwähnten sie diese Möglichkeit und ich sagte dann: ‚Aber ihr bleibt bei uns, richtig?‘“
„Wir kämpfen nicht gegen Frauen“
Die Wachen erlaubten den beiden Geiseln, den katarischen Sender Al Jazeera zu sehen. So konnten sie sich ein Bild davon machen, was am siebten Oktober geschehen war. Doch der Sender erwähnte Nir Oz nicht, sodass sie keine Informationen darüber hatten, was mit ihren Freund:innen und Familien geschehen war. Auch hatten sie keinerlei Vorstellung von der Zahl der Opfer aus dem Kibbuz. Sie wussten weder, wie viele getötet noch wie viele, wie sie selbst, als Geisel genommen worden waren.
Liat: „Ich wusste nicht, was mit Aviv geschehen war. Bis zu meiner Entführung stand ich per SMS in Kontakt mit meinen Kindern, aber danach hatte ich keine Ahnung, wie es weiterging. Die Ungewissheit machte mich verrückt: Wie hatte der Tag meiner Entführung geendet? Was war noch passiert? Auf Al Jazeera berichteten sie über den Kibbuz Be’eri und die Militärbasis bei Kibbuz Nahal Oz, aber über Nir Oz hörten wir nichts. Unsere Wächter erzählten uns, dass in Nir Oz nicht viel passiert sei und sie keine Informationen über meine Familie hätten. Sie erwähnten weder die Gräueltaten noch die Vergewaltigungen und Morde. Als wir ihnen sagten, dass es Plünderungen gegeben hatte, dass wir diese selbst gesehen hatten, schauten sie ganz überrascht. Immer wieder beteuerten sie: ‚Wir haben keine Ahnung, warum sie euch entführt haben. Wir kämpfen nicht gegen Frauen.‘ Ich erwiderte: ‚Okay, ihr versteht also nicht, warum wir entführt wurden, aber ihr haltet uns trotzdem hier fest.‘ Darauf wussten sie nichts zu sagen. Irgendwann fasste ich Mut und verlangte: ‚Bringt uns nach Asaban.‘ Das ist eine Stadt im Gazastreifen, nahe der Grenze zu Israel, gegenüber von Nir Oz. Ich erklärte ihnen, dass wir von dort aus allein weiterkämen. Ich sagte auch, dass mein Vater viel Geld für meine Freilassung zahlen würde. Sie entgegneten: ‚Wenn es nach uns ginge, würden wir euch helfen. Aber ihr wisst, dass man uns dann umbringen würde. Entweder tötet uns die israelische Armee oder die Hamas.‘“
Viele der Geiseln, die aus Gaza zurückkehrten, berichteten, dass sie in der Gefangenschaft unter Hunger gelitten hatten. Auch hier hatte Liat Glück: Während ihrer Zeit in Khan Yunis gab es dort ausreichend Verpflegung. „Sie waren schockiert, dass ich Vegetarierin bin”, erzählt Atzili. „‚Was isst du denn dann?‘, fragten sie. Ich sagte, dass ich Pizza mag. Also stieg einer auf sein Fahrrad und brachte eine Pizza von Crispy Pizza in Khan Yunis. Danach baten wir um Obst und Gemüse, und auch das brachten sie. Die Eier gingen jedoch schnell aus, und es war nicht möglich, neue zu bekommen. Es gab Tage, an denen wir nicht viel zu essen hatten. Es ist ein seltsames Gefühl, wenn du plötzlich keine Kontrolle mehr darüber hast, was und wann du isst. Aber wir mussten keinen Hunger leiden. Sie gaben sich Mühe.“
Mit der Zeit entwickelten sich tiefgehende Gespräche zwischen den gefangenen Frauen und ihren Entführern. „Mir wurde klar, dass meine Überlebenschancen stiegen, je mehr ich mit ihnen sprach. Sie wollten, dass wir sie als Individuen wahrnehmen, und ebenso wollten wir, dass sie uns als solche sehen. Also begannen wir bald, über unsere Familien und unser Leben zu reden. Und das zeigte Wirkung. Ich war völlig auf diese Menschen angewiesen. Es war mir wichtig, dass sie mich mögen, mich verstehen und sich um mich kümmern. So überlebt man.“
Vielleicht hat diese Strategie Liats Leben gerettet. Die Idee kam ihr dank jenem anderen Gefangenen aus Nir Oz, der am siebten Oktober mit ihr im selben Auto entführt wurde. „Etwas an seinem Verhalten, an dem kurzen Gespräch, das wir vor unserer Trennung führten, ließ mich erkennen, dass ich auch in der Gefangenschaft so authentisch wie möglich bleiben musste.“
„Ich bekam eine Vorstellung davon, wie die Hamas in ihr Leben passt“
Kennst du die Namen der Wachen?
„Ich weiß, welche Namen sie mir genannt haben.“
Was haben sie dir über sich erzählt?
„Einer meinte, er sei Anwalt, der andere Lehrer. Beide waren verheiratet und hatten je ein Kind. Einmal kam die Frau eines der beiden mit ihrem Neugeborenen vorbei. Wir sprachen über Kinder, unsere Ehemänner, Eltern und Geschwister. Sie erzählten viel aus ihrem Leben. Einer von ihnen hatte eine Katze, also redeten wir auch über unsere Haustiere. Sie erzählten von Hochzeiten und ihrem Alltag. Oft ging es ums Essen. Einer der Wächter liebte es zu kochen und schwärmte von verschiedenen Gerichten: Makluba, gefülltes Gemüse, und von allerlei Salaten.“
Liat fragte sie, warum sie sich mit der Hamas eingelassen hatten. „Ich bekam eine Vorstellung davon, wie die Hamas in ihr Leben passt. Sie erzählten viel über die Armut im Gazastreifen und wie schwierig es ist, dort wegzukommen. Beide träumten davon, einmal nach Mekka zu pilgern. Sie gehörten zur Mittelschicht, kamen aus alteingesessenen Familien in Gaza, nicht aus Flüchtlingsfamilien. Obwohl sie Wohneigentum hatten, konnten sie es sich trotzdem nicht leisten, zu reisen. Neugierig fragten sie uns, ob wir jemals bei McDonald’s gegessen hätten. Wir sagten: ‚Ja, aber was ist daran besonders? Das Essen dort ist nicht gut.‘ Sie antworteten, dass es in der Werbung so lecker aussehe.“
Habt ihr über Politik gesprochen?
„Ja. Manches hat mich dabei überrascht. Einerseits hatten sie einiges über die israelische Politik und die Armee gehört. Andererseits waren sie in vielen anderen Bereichen völlig ahnungslos. Zum Beispiel sprachen wir über Sabra und Schatila [das Massaker an Tausenden von libanesischen und palästinensischen Zivilisten in Beirut 1982]. Ich erklärte, dass die israelische Armee nicht hinter dem Massaker steckte. Natürlich gibt es Leute, die die Armee dafür verantwortlich machen, weil sie es hätte verhindern müssen. Aber sie war nicht direkt daran beteiligt. Das hat sie erstaunt, und sie fragten: ‚Wer war es dann?‘“
„Ich wusste nicht, dass so viele Juden ermordet wurden.“
Ein anderes Mal hatte Liat das Gefühl, ihre Entführer über etwas aufklären zu können, von dem sie kaum etwas wussten: den Holocaust. Als Geschichtslehrerin und Tourguide in Yad Vashem ist das ihr Fachgebiet. Das Gespräch geschah mit einem der Wächter, der bis dahin nicht viel geredet hatte. „Anfangs war er ziemlich unsicher beim Englischsprechen, aber mit der Zeit wurde es besser. Es gab Tage, an denen die andere Geisel und der zweite Wächter krank waren und viel schliefen. Also waren nur wir beide wach und konnten uns in Ruhe unterhalten. Er erzählte, dass er im Internet vom Holocaust erfahren hatte und mehr darüber wissen wollte. Ich erklärte ihm die Details, und am Ende sagte er: ‚Es ist wirklich furchtbar, was mit euren Leuten passiert ist.‘ Ich sagte: ‚Ja, es war echt schrecklich.‘ Und er antwortete: ‚Ich wusste nicht, dass so viele Juden ermordet wurden.‘“
Andererseits sei klar gewesen, meint Liat, dass die beiden Männer messianische Muslime waren, die an den globalen Dschihad glaubten. „Wir redeten über die Zwei-Staaten-Lösung. Einer von ihnen meinte, die müsse irgendwann passieren, aber nur vorübergehend. ‚Am Ende wird die ganze Welt islamisch sein‘, sagte er. Das sei das eigentliche Ziel. Sie beschwerten sich, dass die arabischen Staatschefs und die israelischen Araber sie nicht genug unterstützen würden, aber sie waren überzeugt, dass sich das eines Tages ändern würde. Sie sagten auch immer wieder, wir Juden sollten Israel verlassen und in die Länder zurückkehren, aus denen wir gekommen sind. Wir versuchten ihnen klarzumachen, dass das einfach nicht realistisch ist.“
Glaubst du, ihre Ansichten kamen aus einem tiefen religiösen Glauben?
„Bei einem der beiden hatte ich das Gefühl, dass er das alles ernsthaft glaub. Der andere schien eher zu wissen, dass Ideologie und Glaube das eine sind, aber die Realität noch einmal etwas anderes.“
Hattet ihr Angst, weil ihr als Frauen von Männern festgehalten wurdet?
„Am Anfang haben wir uns große Sorgen gemacht, dass uns etwas zustoßen könnte, vielleicht sexuelle Belästigung oder Schlimmeres. Aber später wurde uns klar, dass sie diese Grenze nicht überschreiten würden.“
Während das Geiselabkommen verhandelt wurde, versuchten die Entführer, die Frauen zu täuschen. „Sie erzählten uns den größten Unsinn. Mal waren wir auf der Liste, mal nicht. Sie logen und versuchten, uns zu verwirren, aber wir haben sie schnell durchschaut. Schließlich entschuldigten sie sich. Bis heute weiß ich nicht, wie viel sie tatsächlich über die Verhandlungen wussten.“
In den Wochen vor dem Austausch gab es laut Liat mehrere Stromausfälle, weshalb sie nicht immer Al Jazeera schauen konnten. „Schon etwa einen Monat vorher kursierten Gerüchte über einen Deal. Wir hatten das Gefühl, sie redeten ständig darüber. Normalerweise baten wir nachmittags oder abends darum, fernsehen zu dürfen. Eines Tages berichtete das Fernsehen nicht über Krieg, sondern über die Wahlen in den Niederlanden und einen Vulkanausbruch in Island. Das hat mich richtig glücklich gemacht. Ich habe eine gute Freundin in den Niederlanden und dachte, ich könnte sie später über die Wahlen ausfragen. Vielleicht konnte ich ihr zeigen, dass ich ein bisschen was über die niederländische Politik weiß.“
Einige Tage vor unserer Freilassung wurden die beiden Geiseln ins Nasser-Krankenhaus gebracht, wo die anderen Geiseln versammelt waren. „Es fühlte sich an wie in einem ‚Hasamba‘-Buch [eine populäre hebräische Kinderbuchserie]. Die Wachen sagten uns, dass wir nachts dorthin gebracht würden, weil sie Angst hatten, dass uns wütende Hamas-Anhänger oder Zivilisten lynchen könnten. Tatsächlich kamen die Männer mitten in der Nacht und verbanden uns die Augen. Einer unserer Entführer holte uns aus der Wohnung und setzte uns in einen Van.“
Wie habt ihr euch verabschiedet?
„Bevor er ging, sagte er noch: ‚Viel Glück. Gott segne euch.‘ Wir dankten ihm und klopften einander auf die Schulter. Am Ende hatten wir ja doch irgendwie Zeit zusammen verbracht. Klar, einerseits war es ein schreckliches Verbrechen, und sie haben dabei mitgemacht. Aber andererseits haben sie uns so menschlich behandelt, dass wir diese Zeit irgendwie überstehen konnten.“
„Ich wünsche ihnen nicht den Tod“
Liat weiß nicht, was aus ihren Entführern geworden ist. Als ich sie frage, ob sie es wissen möchte, schweigt sie eine Weile. „Ich weiß es nicht“, sagt sie dann leise. „Manchmal will ich es wissen, manchmal lieber nicht. Ich bin neugierig, aber gleichzeitig habe ich Angst davor, was ich erfahren könnte. Ich wünsche ihnen nicht den Tod, aber sie haben falsche Entscheidungen getroffen. Ihr Weltbild ist komplett verdreht, das ist mir klar. Aber auch hier in Israel gibt es Menschen, die völlig falsch denken. Trotz allem, wie leicht ich jetzt darüber sprechen kann – ich hatte wirklich wahnsinniges Glück.“
Im Nasser-Krankenhaus trafen die beiden auf andere Geiseln und erfuhren Neuigkeiten, die sie völlig überraschten.
Wusstet ihr nicht, dass es andere Geiseln gab?
„Wir hatten einmal im Fernsehen Demonstrationen für die Freilassung der Geiseln gesehen. Auf einem der Schilder war ein Bild von Ofer Calderon und seinen Kindern [eine Familie aus Nir Oz]. Ich war völlig schockiert und dachte, ‚Was? Es gibt sechs Gefangene aus Nir Oz?‘ Das kam mir unglaublich vor. Im Krankenhaus traf ich dann noch andere Geiseln, Shani Goren und Irena Tati. Shani war schon länger im Krankenhaus und war weiteren Leuten aus Nir Oz begegnet. Einige hatten sogar während der Gefangenschaft israelisches Radio gehört. Ich war völlig perplex. Shani sagte, sie wisse nichts über meine Familie. Ich fragte sie: ‚Weißt du es wirklich nicht, oder willst du es mir nicht sagen?‘ Sie schwor, dass sie es wirklich nicht wüsste.“
Was hat dich besonders überrascht?
„Ich hatte mir schon gedacht, dass die Bewohner von Nir Oz nicht zurückkehren würden, solange der Krieg weiterging. Aber das Ausmaß der Zerstörung im Kibbuz war viel größer, als ich es mir vorgestellt hatte. Ich hätte nie erwartet, dass die Schule komplett zerstört wäre. Ich dachte, vielleicht seien zwanzig oder dreißig Menschen in Nir Oz getötet worden – das schien mir logisch –, aber dass so viele entführt worden waren, hätte ich nie geahnt. Und die Gräueltaten konnte ich mir überhaupt nicht ausmalen. Ich wusste, dass Hamas gemordet und Geiseln genommen hatte, aber die anderen Schrecken hatte ich mir nicht vorgestellt. Im Nachhinein war es besser, dass ich das nicht wusste. Solche Informationen sind in so einer Situation kaum zu verkraften.“
Also hat es dir geholfen, es nicht zu wissen?
„Ja. Ich wusste nicht, dass Aviv nicht mehr lebte. Ich wusste überhaupt nichts, und das hat mich geschützt. Andere Leute haben ganz andere Dinge durchgemacht. Ich glaube, wie ich das alles erlebt habe, hilft mir heute, so zu sprechen, wie ich es tue, und damit klarzukommen. Ich verstehe die Menschen, die nur noch Rache wollen und voller Zorn sind, wirklich gut. Diese Gefühle müssen ernst genommen werden. Aber trotzdem ist es wichtig, dass es auch andere Stimmen gibt. Das ist sogar entscheidend.“
Am Tag nach ihrer Ankunft im Krankenhaus wurde Liat von der anderen Geisel getrennt, die vor ihrer Freilassung in einen Tunnel gebracht wurde. Nach ein paar Stunden war sie die Einzige, die noch in dem Raum blieb. „Gegen acht oder neun Uhr abends sagte ein Mann zu mir: ‚Es ist nicht sicher, ob du heute nach Hause kommst. Du bist die einzige Israelin hier.‘ Das hat mir richtig Angst gemacht. Ich rief nach dem Mann, wollte, dass er bei mir bleibt. Ich wollte auf keinen Fall allein sein. Dann fragte er plötzlich: ‚Willst du nach Hause?‘ Und dann brachten sie mich raus.“
Liat kam zu einer Sammelstelle, wo andere Geiseln bereits warteten. „Ich hatte das Gefühl, dass etwas Schlimmes auf mich zukam. Ich hatte Angst davor, herauszufinden, was mit Aviv und den Kindern passiert war.“
Diese letzten Minuten vor ihrer Freilassung – bis zu dem Moment, als sie einem israelischen Offizier begegnete, der ihr sagte, was mit ihrer Familie geschehen war – haben sich als Momente purer Angst in ihr Gedächtnis eingebrannt. „Ich spürte keine Erleichterung und keine Freude, bis man mir sagte, dass meine Kinder in Sicherheit waren. Erst da konnte ich wieder atmen. Zu dem Zeitpunkt hieß es, Aviv sei verletzt und entführt worden. Nur zwölf Stunden später erfuhren wir, dass er im Kibbuz getötet und seine Leiche entführt worden war.“
Hat man mit dieser Nachricht absichtlich gewartet, bis du draußen warst?
„Offiziell heißt es dazu: Nein. Die Familie werde benachrichtigt, sobald es klare Informationen gibt. Für mich ist das so in Ordnung.“ Der Schock ihrer Rückkehr half ihr, die Nachricht von Avivs Tod ein wenig abzufedern. „Meine Befreiung ist jetzt mehr als ein halbes Jahr her, und es gibt immer noch Dinge, die unklar sind. Aviv hat immer gesagt, dass ein Albtraum, der endet, irgendwann nur noch eine Erfahrung ist. Die Geiselnahme ist in den Hintergrund gerückt, und die größte Herausforderung in meinem Leben ist jetzt, mit seinem Verlust umzugehen. Natürlich hat die Geiselnahme Spuren hinterlassen, aber das ist nicht das Wichtigste. Sie ist keine Kleinigkeit, aber sie steht nicht im Zentrum meines Lebens.“
„Wie gut, dass du mich überredet hast, früh Kinder zu bekommen“
Liat kam mit zwanzig nach Nir Oz, nachdem sie sich in Aviv verliebt hatte. „Ich bin ein persönlicher Import“, sagt sie lächelnd. 1974 wurde sie im Kibbuz Shomrat im Norden Israels als Tochter von Einwanderern aus den USA geboren. Aviv traf sie mit 14 Jahren bei einem Kurs für junge Gruppenleiter. „Wir hatten immer mal wieder Kontakt – bei Wanderungen, Seminaren und so. Beide machten wir ein freiwilliges Jahr im nationalen Dienst und lebten in einer Kommune in Haifa. Gegen Ende des Jahres kamen wir uns näher und wurden schließlich, mit 19, ein Paar.“
Nachdem sie ihren Militärdienst abgeschlossen hatten, lebten sie eine Weile in Nir Oz, bevor sie auf eine lange Reise gingen. „Wir waren drei Jahre unterwegs und sind dann nach Israel zurückgekehrt, weil ich studieren und eine Familie gründen wollte. Mit dreißig hatte ich meinen Bachelor und drei Kinder – Ofri, Neta und Aya. In den letzten Jahren hat Aviv mir oft gesagt: ‚Wie gut, dass du mich überredet hast, früh Kinder zu bekommen. Jetzt sind wir noch keine fünfzig und unsere Jüngste hat die Schule abgeschlossen.‘ Plötzlich waren wir wieder ein Paar ohne kleine Kinder, und es fühlte sich an, als stünde uns alles offen.“
Bei Avivs Gedenkfeier kam auch der lockere Erziehungsstil des Paares zur Sprache. Jemand sagte, dass eines ihrer Kinder immer unterwegs war. „Als sie fünf, sieben und neun Jahre alt waren, verbrachten wir ein paar Monate in Indien und Fernost. Aviv meinte damals, dass ihm auf dieser Reise klar wurde, wie wenig er seine Kinder wirklich kannte. Abgesehen davon, wie sie ihre Spiegeleier mochten, wusste er kaum etwas über sie. Es war ihm wichtig, sie wirklich kennenzulernen, er hat dann viel Zeit mit ihnen verbracht.“
„Als Eltern dachten wir ziemlich frei. Unsere Beziehung zu unseren Kindern basierte auf ‚wollen‘, nicht auf ‚müssen‘. Ich bin froh, dass sie sich keine Sorgen mehr um meine Sicherheit machen müssen und ich immer noch diejenige bin, die sie beschützt. Als ich aus dem Gazastreifen zurückkam, dauerte es eine Weile, bis sie sich daran gewöhnt hatten, dass wieder ein Elternteil da war. Während meiner Gefangenschaft waren sie schließlich fast allein.“
Liat weiß nicht genau, was passiert ist, als Aviv am 7. Oktober ihr Zuhause zum letzten Mal verließ. Die Informationen der Armee lassen sie vermuten, dass er in Nir Oz getötet und seine Leiche danach nach Gaza verschleppt wurde. „Ich stelle mir immer wieder vor, wie ihm klar wurde, dass er gehen musste. Und dass es für ihn in Ordnung war, mich im Haus zurückzulassen. Sein Pflichtgefühl galt seiner Gemeinschaft und seinem Ort.“
Macht dich das wütend?
„Nein. So war er einfach. So sind die Leute in den Schutztruppen. An diesem Tagen haben viele aus der Truppe ihre Leben riskiert. Aviv hat bis zur letzten Minute dafür gekämpft, was ihm am wichtigsten war. Er hätte nicht damit leben können, wenn er nicht alles getan hätte, was er konnte.“
Das letzte Jahr im Leben ihres Mannes sei besonders schön und erfüllend gewesen, erzählt Liat. Das gibt ihr Trost. „Er reiste mit seinem Bruder Ronen nach Indien und ging Skifahren. Wir machten mit den Kindern und unserer Familie eine Reise in die USA. Ich glaube, er ging mit dem Gefühl, sein Leben wirklich ausgekostet zu haben. Sein WhatsApp-Status lautete: ‚Besser ausbrennen als rosten.‘“
„Ich werde auf den Feldern auf dich warten“
Am 21. Juni wäre Aviv 50 geworden. Die Menschen, die ihm nahe waren, feierten seinen Geburtstag mit einer Ausstellung seiner Kunstwerke in der RawArt Galerie in Tel Aviv. „Er malte schon immer oder arbeitete mit Metall, aber im letzten Jahr fing er an, einige seiner Werke auszustellen und zu verkaufen“, sagt Liat. „Das war neu. Er verteilte seine Kunst überall in Nir Oz und sah den öffentlichen Raum als seine Leinwand. Es ist schmerzhaft zu wissen, dass er nur so wenig Zeit hatte, seine künstlerische Leidenschaft auszuleben.“
Obwohl Avivs Leichnam bisher nicht an die Familie zurückgegeben wurde, hat sie am sechsten Dezember eine Beerdigung für ihn in Nir Oz abgehalten. Auf seinem Grabstein steht eine Zeile aus einem Lied der Band Mashina: „Ich werde auf den Feldern auf dich warten.“ Die Schrift ähnelt seiner eigenen Handschrift. Die Worte haben eine besondere Bedeutung, erzählt Liat: „Eines Tages wurde im Kibbuz ein neuer Betonplatz gebaut, um die Traktoren zu waschen. Aviv hat den Satz ‚Ich werde auf den Feldern auf dich warten‘ in den frischen Beton graviert und mir gezeigt.“ Unter der Inschrift steht auf dem Grabstein schlicht: „Gefallen im Kampf um unsere Heimat Nir Oz.“
Liat betont, dass sie es nicht für richtig hält, andere zu gefährden, um Avivs Leichnam nach Israel zurückzubringen. „Ich glaube nicht, dass sein Körper jemals nach Israel zurückkommt, und ich habe mich damit abgefunden. Ich könnte keinen Frieden finden, wenn jemand stirbt, nur um seinen Leichnam zurückzuholen. Es macht keinen Sinn, ein Leben zu riskieren, um eine Leiche heimzubringen. Man kann ihn nicht zurückholen.
Bevor er sich zum Mittagsschlaf hingelegt hat, schrieb Aviv seinen Kindern immer: ‚Schhhh – Papa schläft.‘ Zu mir sagte er: ‚Ich wünsche mir vollkommene Ruhe‘ – ein Satz aus einem Gebet, das bei Beerdigungen gesprochen wird. Ich denke, er hat diese Ruhe jetzt gefunden.“
Anfang Juli Monat hat sich Liat im Weißen Haus mit US-Präsident Joe Biden getroffen. Als sie aus der Geiselhaft freikam, war er der Erste, der ihre Eltern anrief, um ihnen zu gratulieren. Von der israelischen Regierung kam nicht einmal eine SMS, erzählt sie. „Das hat mich nicht enttäuscht und auch nicht wütend gemacht. Es zeigt nur, wie unterschiedlich die Erwartungen an Führungskräfte in verschiedenen Ländern sind. Das Konzept eines gewählten Politikers, der wirklich für die Menschen da ist, ist hier nicht so stark verankert. Die persönliche Verbundenheit, das tiefe Verantwortungsgefühl, das zwischen den Amerikanern und ihren gewählten Vertretern besteht, ist wirklich beeindruckend. Da könnten wir einiges von lernen.“
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Das Treffen mit Biden war sehr bewegend: „Er ist ein unglaublich charmanter Mann. Er erzählte mir von seiner ersten Frau, die bei einem Autounfall ums Leben kam, und sprach über das Schicksal, das wir teilen – den Verlust von Angehörigen. Er sagte: ‚Es wird der Tag kommen, an dem du an Aviv denkst und lächelst, bevor du weinst.‘“
Seit ihrer Rückkehr unterrichtet sie wieder an der Berufsschule. Vor dem siebten Oktober war sie dort Klassenlehrerin einer zwölften Klasse. „Während meiner Gefangenschaft habe ich entschieden, dass ich das Schuljahr mit meiner Klasse zu Ende bringen will. Ich bin also ziemlich schnell wieder an die Schule und nach Yad Vashem zurückgekehrt. Das war für mich wichtig. Ich weiß nicht, ob es für meine Schüler das Beste war, mich in diesem Zustand zu sehen, aber mir hat es geholfen. Ich wollte mir beweisen, dass ich immer noch die Alte bin. Aber nächstes Jahr werde ich mir eine Auszeit nehmen.“
Die Geschichte der Geiseln ist wie eine offene Wunde
Hat sich deine Arbeit als Guide in Yad Vashem verändert, nachdem, was du durchgemacht hast?
„Nicht wirklich. Ich habe nur gemerkt, dass ich darüber sprechen muss, was passiert ist, weil sonst die anderen Guides hinter meinem Rücken geredet hätten.“
Wirst du gefragt, ob das, was du in Gaza erlebt hast, mit dem Holocaust vergleichbar ist?
„Ja, das kommt vor, und die Antwort ist ganz klar: Nein, das ist es nicht. Ich habe eine zehnte Klasse unterrichtet, die nach der Evakuierung in Hotels am Toten Meer untergebracht war. Die meisten Schüler kamen aus den Kibbuzim Be’eri und Kissufim, und ich habe sie nach Yad Vashem mitgenommen. Einer der Schüler fragte: ‚Liat, hatten die Juden in Europa die gleiche Angst wie du am siebten Oktober?‘ Ich habe ihnen gesagt, dass diese Angst für die Juden damals sechs Jahre lang andauerte. Fast alles, worüber wir gesprochen haben, hat Erinnerungen an den siebten Oktober wachgerufen. Ich hoffe, sie haben das Gefühl, dass sie hier einen sicheren Ort haben, um solche Fragen zu stellen. Und dass sie damit Werkzeuge bekommen haben, um das, was sie am siebten Oktober erlebt haben, besser zu verstehen und zu verarbeiten.“
Liat will sich in diesem Jahr ganz dem Wiederaufbau ihrer Gemeinde und ihres Kibbuz widmen. Die Bewohner sind momentan in Wohnungen an anderen Orten untergebracht, bis sie wieder nach Nir Oz zurückkehren können.
„Wir haben es geschafft, hier wieder eine funktionierende Gemeinschaft aufzubauen. Die Leute leiden immer noch unter dem akuten Trauma und reagieren sehr unterschiedlich. Manche meinen, es ist am besten, einfach nach vorne zu schauen und weiterzumachen. Andere tun sich damit schwerer. Und dann ist da noch das Thema mit den Geiseln. Solange das nicht geklärt ist, können wir nicht richtig heilen und kein neues Leben aufbauen.“
„Die Situation der Geiseln ist wie eine offene Wunde. Sie ist allgegenwärtig und schwer zu ertragen. Eine ständige Erinnerung an das Gefühl, im Stich gelassen worden zu sein. Ein Symbol für ein schreckliches Versagen, das die meisten einfach hinter sich lassen wollen. Aber das ist immer noch nicht möglich.“
Liat betont, dass dieses Versagen nicht erst vor neun Monaten begonnen hat: „Wir leben seit zwanzig Jahren in einem Zustand der Vernachlässigung und ohne eine klare politische Strategie. Der siebte Oktober ist das Ergebnis von Netanjahus Politik und der rechten Regierungen in dieser Zeit. Dazu gehört, wie die Hamas auf Kosten der palästinensischen Autonomiebehörde unterstützt wurde, der Versuch, das Problem der Palästinenser unter den Teppich zu kehren, und das Versagen, echte Verhandlungen zu führen.“
Hat dir das vorher keine Angst gemacht?
„Nein, nicht wirklich. Aviv war in Sicherheitsfragen bewandert und sagte mir, dass es ein Szenario gäbe, bei dem es zu schweren Feuergefechten und dem Eindringen von Terroristen in einige Gemeinden kommen könnte. Aber niemand hätte gedacht, dass so etwas in diesem Ausmaß möglich wäre. Wir haben uns in falscher Sicherheit gewogen.“
„Frieden bedeutet nicht, mit meinen Entführern Falafel zu essen“
Im Moment ist Liat zufrieden mit ihrem neuen Zuhause in Kirjat Gat, wo sie vorübergehend wohnt. „Es gibt immer noch Dinge in diesem Land, die funktionieren. Wenige Länder, selbst solche, die zur Ersten Welt gehören, hätten die Gesellschaft nach einer solchen Tragödie so schnell mobilisieren können. Wir haben möblierte Wohnungen bekommen, die alles bieten, was man zum Leben braucht. Ja, es ist kein Kibbuz, aber es gibt hier Felder und Sonnenuntergänge. Ich konzentriere mich lieber auf das, was ist und was noch werden kann, anstatt auf das, was nicht mehr ist und nie wieder sein wird. Ich stelle mir die Alternative vor – vielleicht ein Zelt der Vereinten Nationen und humanitäre Hilfspakete. Für die meisten Menschen, die durchmachen, was wir erlebt haben, ist das alles, was sie bekommen.“
Denkst du dabei an die Menschen in Gaza?
„Natürlich“, sagt sie nach einer kurzen Pause. Dann fährt sie ruhig fort: „Ich war und bin eine Linke, fest überzeugt von Koexistenz und Frieden. Frieden ist kein utopischer Traum. Wir haben keine Alternative. Ohne Frieden werden wir nicht überleben. Und Frieden bedeutet nicht, mit meinen Entführern in Khan Yunis Falafel zu essen, sondern die Abwesenheit von Krieg. Wenn dieser Krieg nichts grundlegend ändert, können wir tatsächlich unsere Sachen packen und diesen Ort verlassen.“
„Die widerwärtige Behauptung, dass der ganze Gazastreifen Hamas ist, ist schlicht falsch. Es war falsch von den Menschen dort, das, was passiert ist, zu unterstützen, aber auch in Israel haben die Menschen schon viele falsche Entscheidungen getroffen. Wir haben hier eine fürchterliche Regierung. Ein unwürdiger Premierminister wird immer wieder mit einer verstörenden Mehrheit gewählt. Und ja, ich denke über das nach, was in Gaza passiert. Ich fühle mit den Menschen, die dort leiden. Auf beiden Seiten gibt es Familien, die von Trauer und Verlust überwältigt werden, und meine Trauer ist nicht wichtiger als ihre. Krieg ist kein Selbstzweck, und für mich ist klar, dass dieser Krieg nur politischen Interessen dient. Es ist offensichtlich, dass die Regierung die Geiseln für ihr eigenes Überleben geopfert hat.“
Wirst du nach Nir Oz zurückkehren?
„Ich wünsche mir einen Tunnel von meinem Haus zu dem meiner Nachbarn, damit ich nicht allein bin, falls wieder etwas passiert“, sagt Liat mit einem Lachen. Aber sie weicht einer klaren Antwort aus. „Ich habe vor, zurückzukehren. Mein Sohn ist dort. Es hängt davon ab, welche Menschen noch zurückkommen. Einige Mitglieder unserer Gemeinschaft wollen nicht zurück. Aber ich möchte, dass es wieder ein Ort wird, an dem Leben möglich ist. Ein Ort, der Kontinuität und Erneuerung vereint. Ich liebe Nir Oz sehr, und ich will nicht, dass der siebte Oktober der einzige Tag bleibt, der es definiert. Dort ist auch meine Verbindung zu Aviv. Ohne zu zögern hat er sein Leben für diesen Ort gegeben.“
Dieser Artikel ist eine Übersetzung, im Original ist er in der israelischen Tageszeitung Haaretz erschienen.
Übersetzung: Tristan Oetker-Kast, Redaktion: Theresa Bäuerlein, Schlussredaktion: Lea Schönborn, Audioversion: Iris Hochberger und Christian Melchert