Collage: Eine demonstrierende Menschenmenge läuft in einen Gerichtssaal hinein.

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Politik und Macht

Dieses Buch hat mir gezeigt, wofür Gerichte wirklich da sind

Gerichte sind nicht nur Orte, wo Verbrechen bestraft werden. Sie sind eines der wirksamsten Mittel für Bürger:innen, die Gesellschaft zu verändern.

Profilbild von Lea Schönborn
Reporterin

Was haben Jugendliche einer deutschen Nordseeinsel, eine ZDF-Journalistin und eine Anti-Abschiebungs-Aktivistin gemeinsam?

Diese Frage ist nicht der Anfang eines peinlichen Witzes, sondern der Beginn einer Revolution. Und die beginnt an dem Ort, an dem auch die alltägliche Ordnung in Deutschland sichergestellt wird: vor Gericht.

Aber erstmal einen Schritt zurück. Wenn wir in der Gesellschaft etwas ändern wollen, scheint es zwei Möglichkeiten zu geben:

  1. sich als Aktivist:in außerhalb des Parlaments zu engagieren oder

  2. Politiker:in zu werden.

Aktivist:in sein ist zermürbend, weil die Sachen, die man fordert, nur sehr selten umgesetzt werden. In die Politik zu gehen, ist frustrierend, weil man am Anfang sehr viele Ideale hat und am Ende sehr viele Kompromisse. Das ist nicht nur für einen selbst als Politiker:in schwer, sondern auch für die Wähler:innen.

Aber es gibt noch eine weitere Ebene, die ich zumindest nie in Betracht gezogen habe. Das hat sich erst geändert, als ich „Jura not alone“ von Nora Markard und Ronen Steinke gelesen habe. Trotz des Wortspiels: Der Inhalt hat mich beeindruckt.

Die beiden schreiben in ihrem Buch, dass Recht politisch sei und zwar „immer“. Und dass Bürger:innen vor Gericht womöglich die größte Macht haben, um etwas zu verändern. Bis dahin war Recht für mich eine Stütze des Systems, dafür da, die gesellschaftliche Ordnung zu bewahren. Aber die Beispiele in ihrem Buch zeigen eindrücklich, dass Recht noch eine zweite, revolutionäre Seite hat.

Bei dieser Revolution gibt es keine wehenden Fahnen und keine Straßenschlachten. Die Revolution vor Gericht ist kein 100-Meter Lauf, verspricht keinen schnellen Adrenalinkick. Sie entspricht eher der Sportart Gehen. Aber wenn man ins Ziel einläuft, fühlt es sich trotzdem verdammt gut an.

Warum wir uns unsere Nervigkeit zurückerobern müssen

Damit sich überhaupt jemand an die Revolution vor Gericht wagt, muss er oder sie ein noch tiefer liegendes Problem angehen und nicht so viel hinnehmen, wie es die meisten Menschen tun.

Die Bundesregierung hält die Klimaziele nicht ein? Deren Problem.

Der männliche Kollege verdient mehr als die Frauen im Team? Naja, wahrscheinlich mal wieder schlecht verhandelt.

Der Bundesnachrichtendienst liest Nachrichten vieler Deutscher mit. Schon irgendwie komisch, aber die meisten sollten ja auch nichts zu verstecken haben. Oder?

Wir müssen lernen, unserem Gefühl zu trauen: Etwas fühlt sich ungerecht an. Dann könnte es sein, dass es nicht rechtens ist.

Das widerspricht den Erfahrungen, die die meisten in der Schule und der Erziehung gemacht haben. Ob Vollkornmuffins beim Kindergeburtstag oder Mittagsschlaf, obwohl niemand müde war: In einer der prägenden Phasen des Lebens haben andere Entscheidungen für uns getroffen. Und das autoritär, also ohne Rücksicht auf Argumente.

Damit die Revolution vor Gericht gelingt, müssen wir diese Erfahrungen zur Seite schieben. Wir müssen uns unsere Nervigkeit zurückerobern und das beste Argument bis vors Gericht tragen.

Die folgenden drei Beispiele aus dem Buch zeigen besonders eindrücklich, wie man mit Nervigkeit unsere Gesellschaft verbessern kann.

1. Wie neun Jugendliche die Bundesregierung zum Handeln gezwungen haben

Neun Jugendliche, die zum Teil nicht mal wählen oder alleine Auto fahren durften, haben die Bundesregierung im Jahr 2021 zum Handeln gebracht. Mit einer einzelnen Klage.

Sie mussten bestimmt nie Vollkornmuffins essen. Oder wenn, haben sie ihre Eltern schnell überzeugt, dass es eine dumme Idee ist, Muffins aus Vollkornmehl zu backen.

Einige der Jugendlichen leben auf den Nordseeinseln Pellworm und Langeoog und ihr Zuhause ist bedroht. Bei steigendem Wasserspiegel und extremen Wetterereignissen werden die beiden Inseln bald unbewohnbar sein. Schon jetzt liegt Pellworm einen Meter unter dem Meeresspiegel und nur die acht Meter hohen Deiche verhindern, dass das Land vom Meer eingenommen wird. Deshalb haben sie geklagt und das Bundesverfassungsgericht davon überzeugt, dass die Bundesregierung zu wenig tut, um ihre Zukunft zu schützen.

Das Gericht hat dabei einige wegweisende Aussagen getroffen. Zum Beispiel, indem die Richter:innen das Grundgesetz „generationengerecht“ ausgelegt und bestimmt haben, dass Klimaschutz zum Grundrechtsschutz gehört. Die Begründung: Auch wenn die Grundrechtsbeeinträchtigung erst in Zukunft eintritt, kann sie nur noch jetzt verhindert werden. Mit dieser Begründung erklärten die Richter:innen das Klimaschutzgesetz in weiten Teilen für verfassungswidrig. Der Bundestag musste deshalb zusammenkommen und das Klimaschutzgesetz überarbeiten.

Für die Klimabewegung war das ein Riesenerfolg.

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Die jungen Menschen von Pellworm und Langeoog sind aber nicht die Einzigen, die für Klimaklagen vor Gericht gezogen sind. Und sie waren auch nicht die Einzigen, die erfolgreich waren. Wenn du mehr Beispiele lesen willst, klicke auf das kleine Plus am Ende dieses Absatzes.

Das zeigt, dass das Gericht ein besonderer Ort sein kann, um Klimaschutz voranzutreiben. Es hat einen grundlegenden Vorteil gegenüber politischen Institutionen wie dem Bundestag oder dem Europäischen Parlament: Richter:innen sind nicht darauf angewiesen, beliebt zu sein. Politiker:innen hingegen wollen bei der nächsten Wahl wiedergewählt werden.

Markard und Steinke schreiben deswegen, dass Gerichte auf Langfristigkeit ausgelegt seien und Politik auf Kurzfristigkeit. Deswegen wirken manche Verfassungsgerichtsurteile auch so radikal. Weil ihnen egal ist, was Politiker:innen und Wähler:innen von ihnen denken.

Das erinnert wieder an den 100-Meter-Lauf im Gegensatz zur Sportart Gehen: Das eine ist nach 100 Metern vorbei und das andere zieht sich schonmal über 20 Kilometer. Das eine ist extrem schnell vorbei, beim anderen geht es um Durchhaltevermögen. Aber natürlich können Gerichte nicht einfach nach Belieben Urteile fällen, sie müssen sich an bestimmte Regeln halten.

2. Birte Meier und ihr Kampf um ein faires Gehalt

Eine Regel ist zum Beispiel, dass man betroffen sein muss, um zu klagen. Es reicht nicht zu wissen, dass jemand anderes leidet. Zum Beispiel, dass eine Kollegin weniger verdient als all ihre männlichen Kollegen, obwohl sie dieselbe Arbeit leistet.

Markard und Steinke schreiben: „Am Anfang jeder Verbesserung stehen Menschen, die sich nicht abfinden möchten mit der Welt, wie sie ist.“ Birte Meier ist ein solcher Mensch geworden. Auch weil es kein anderer für sie gemacht hat.

Bei verschiedenen Gesprächen hatte sie herausgefunden, dass alle ihre männlichen Kollegen mehr verdienten als sie. Im Schnitt 800 Euro.

Meier ist Journalistin und hatte damals schon einige Preise gewonnen. Sie entschied, ihren Arbeitgeber, das ZDF, zu verklagen. Und dass, obwohl ihre Mutter sie warnte und ihre Freund:innen sich Sorgen um ihre finanzielle Zukunft machten. Das war 2016.

Im Recht ist längst verankert, dass Frauen für die gleiche Arbeit genauso viel verdienen sollten wie Männer. Aber eine Erkenntnis für mich beim Lesen dieses Buches war, dass Gesetze deshalb noch lange nicht in der Praxis eingehalten werden. Denn dafür muss es Behörden geben, die die Einhaltung überprüfen. Aber es gibt keine Behörde, die untersucht, ob Frauen so viel verdienen, wie ihnen laut Gesetz zusteht.

2016 stand Meier das erste Mal vor dem Berliner Arbeitsgericht. Sie beschreibt, der Richter habe mit den Achseln gezuckt und gesagt, Frauen verdienen eben weniger, weil sie bei Gehaltsverhandlungen nicht so geschickt seien. Sie verlor den Prozess. Aber gab nicht auf. Drei Jahre später sollte sie vor der zweiten Instanz beweisen, dass sie als Frau diskriminiert worden war und dass der Gehaltsunterschied nicht daran lag, dass sie schlicht schlechtere Arbeit leistete. Sie scheiterte wieder. 2020 setzte sie vor Gericht durch, dass die sogenannte Entgelttransparenz nicht nur für Festangestellte gilt. Also einen Anspruch auf Auskunft über die Gehälter der Kolleg:innen, auch wenn man nicht fest angestellt ist.

Aber erst im Sommer 2023 endete ihr Verfahren, sieben Jahre nach seinem Beginn. Denn das ZDF ließ sich auf einen Vergleich ein. Der Sender zahlte ihr das gesamte Geld nach, das ihr über die Jahre verwehrt geblieben war.

Meier schreibt, dass man vor Gericht „revolutionäre Geduld“ brauche. Man kann vor Gericht also verdammt viel erreichen, aber das kann Jahre dauern. Auch deswegen ist Klagen meist was für Privilegierte. Man braucht Ressourcen, die nicht alle gleichermaßen haben: Zeit und Geld.

Während des Prozesses wurde Meier immer wieder das Gefühl gegeben, sie sei selbst schuld daran, dass sie weniger verdient als die Männer um sie herum. Ich finde es beeindruckend, dass sie sich davon nicht hat entmutigen lassen. Dass sie weitergekämpft hat. So ist sie ein Vorbild für andere Frauen geworden. Dass auch Nicht-Festangestellte das Recht haben, über die Gehälter und Honorare ihrer Kolleg:innen informiert zu werden, ist ein Schritt auf dem Weg, dass gleicher Lohn für gleiche Arbeit tatsächlich gilt.

3. Ein Prinzipien-Urteil für die Versammlungsfreiheit

Beim letzten Beispiel dieses Textes geht es um ein Grundrecht: die Versammlungsfreiheit.

Julia Kümmel hatte 2006 mit anderen Aktivist:innen am Frankfurter Flughafen gegen Abschiebungen protestiert. Dort heben bis heute regelmäßig Abschiebeflüge ab, es gibt sogar eine eigene Abschiebehaftanstalt. Die Aktivist:innen haben den Flügen einen eigenen Namen gegeben: „Deportation Class“. Sie verteilten damals Flugblätter an Passagiere und Mitarbeitende von Lufthansa, um sie über die Abschiebungen zu informieren.

Nach nur wenigen Minuten kam die Polizei und nahm ihre Personalien auf. Die Verantwortlichen des Flughafens sprachen Hausverbote aus und drohten mit Strafanzeigen wegen Hausfriedensbruchs. Kümmel wollte das nicht hinnehmen, es fühlte sich ungerecht an. Sie wollte dort protestieren können, wo das Unrecht geschah.

Die Frage war also: Hat die Aktiengesellschaft Fraport AG auf dem Flughafengelände Hausrecht, darf also entscheiden, dass dort keine Demos stattfinden, oder ist es ein öffentlicher Raum und Demos insofern erlaubt?

So trocken die Frage klingen mag, die Versammlungsfreiheit ist einer der Grundpfeiler der Demokratie.

Kümmel jedenfalls verlor vor jeder einzelnen Instanz. Dann wartete sie fünf Jahre auf eine Verhandlung vor dem Bundesverfassungsgericht. Die revolutionäre Geduld? Genau, hier wird sie wieder gebraucht.

2011 entschied das Bundesverfassungsgericht im Sinne von Julia Kümmel. Das Warten hatte sich gelohnt. Die Begründung: Die Fraport AG sei zwar eine private Aktiengesellschaft, wurde aber vom Staat gegründet, und 70 Prozent der Aktien gehören der öffentlichen Hand. Es sei also ein privatisierter öffentlicher Raum und Demonstrationen erlaubt. Auch weil es ein „Ort der allgemeinen Kommunikation“ sei, wie zum Beispiel auch eine Bahnhofshalle.

Das bedeutet für die Zukunft: Aktiengesellschaften können nicht einfach machen, was sie wollen. Der Staat ist auch an Grundrechte gebunden, wenn er seine Bahnhöfe und Flughäfen in Aktiengesellschaften und GmbHs umwandelt.

Markard und Steinke schreiben: „Ansonsten könnte sich der Staat durch Privatisierung einfach seiner Grundrechtsbindung entziehen. Es würde eine ‚Flucht ins Privatrecht‘ drohen, so nennen das Jurist:innen. Was, wenn plötzlich weite Teile der Innenstadt privatisiert werden würden – soll es dann Protest nur noch außer Hör- und Sichtweite geben dürfen, irgendwo am Stadtrand?“

Für mich bedeutet das: Nicht alles glauben, was Autoritäten sagen. Kritisch hinterfragen, ob die Polizei bei einer Demonstration das Recht hat, meine Daten aufzunehmen. Ob es zum Beispiel rechtens ist, dass ein Auto einen Parkplatz vor der Haustür hat, aber mein Fahrrad nicht. Wer das Buch liest, wird noch ein paar mehr Ideen bekommen – und vielleicht seine eigene Revolution anstoßen.


Redaktion: Rebecca Kelber, Schlussredaktion: Susan Mücke, Bildredaktion: Philipp Sipos, Audioversion: Iris Hochberger

Dieses Buch hat mir gezeigt, wofür Gerichte wirklich da sind

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