Zweimal schon trat Marine Le Pen an, um französische Präsidentin zu werden. Zweimal scheiterte sie. Aber nach den Europawahlen und den französischen Parlamentswahlen ist sie ihrem Ziel so nah wie nie zuvor.
Den Grundstein für ihren Erfolg legte mehr als 50 Jahre zuvor eine Gruppe ultrarechter Studierender und Akademiker. Im Januar 1968 trafen sie sich in Nizza und schmiedeten einen Plan. Nach zahlreichen Wahlniederlagen und Rückschlägen wollten sie dem Rechtsextremismus einen modernen Anstrich verpassen. Die alten Rechte fanden sie rückwärtsgewandt und zu oberflächlich. Es brauche eine geistreiche Bewegung, die sich nicht in der Tagespolitik verliert, sondern langfristig denkt, glaubten sie. Nur so könne man eines Tages an die Macht kommen.
Also gründeten sie eine Denkfabrik und machten sich daran, ihre Weltsicht und Strategien auszuarbeiten. Aus dieser Bewegung heraus entstand die sogenannte Neue Rechte. Mit Konferenzen, Theorien, öffentlichen Auftritten, Zeitschriften und Büchern haben ihre Vertreter jahrzehntelang daran gearbeitet, den Wahlsieg von Marine Le Pen überhaupt erst möglich zu machen.
Jetzt, während der Rassemblement National triumphiert, lohnt es sich deshalb, ihre Ideen und Strategien anzuschauen. Denn sie werden auch von der AfD jeden Tag genutzt.
Was will die Neue Rechte?
Brennende Autos, Tränengas, Massendemonstrationen: 1968 herrschten in Paris fast bürgerkriegsähnliche Zustände. Die Studierendenbewegung protestierte gegen Arbeitslosigkeit, den Kapitalismus und den Algerienkrieg. Auch rechte Gruppen lieferten sich heftige Straßenschlachten mit der Polizei. Einer, der damals auf die Straße ging, war der junge Faschist Alain de Benoist. Während der Proteste realisierte er, dass die Gesellschaft sich nur langfristig verändern lasse – und ohne Gewalt. Benoist gilt bis heute als einer der einflussreichsten Denker des modernen Rechtsextremismus. Er begründete damals in Nizza die Nouvelle Droite, die Neue Rechte.
Während linke politische Bewegungen für die Gleichheit der Menschen kämpfen, glauben Rechtsextreme seit jeher an deren „natürliche“ Ungleichheit. Die Nationalsozialisten und Faschisten behaupteten, dass es unterschiedliche menschliche „Rassen“ gebe. Ungleichheit sei etwas, das „in der Natur“ des Menschen liege und deshalb nicht geändert werden könne.
Benoist und die Neue Rechte wollten sich von diesem offenen Rassismus distanzieren. Deshalb erfanden sie das Konzept des „Ethnopluralismus“. Sie behaupteten, es gäbe verschiedene Kulturen, die alle gleichwertig, aber nicht kompatibel miteinander seien. Sie dürften sich also nicht vermischen, weil das zum Untergang der jeweiligen Kulturen führe. Besonders zum Untergang der europäischen oder westlichen Kultur, die Benoist und Co. bedroht sahen und retten wollten.
Die Neue Rechte spricht also nicht von „Rassen“, ordnet Menschen aber trotzdem einer Gruppe zu, die in ihren Augen feste Eigenschaften hat. Der Mechanismus ist letztlich derselbe: Leute wie Alain de Benoist oder Marine Le Pen behaupten, Unterschiede zwischen Menschengruppen seien „natürlich“. Deshalb verachten sie auch sämtliche Ideen, die die Gleichheit aller Menschen befürworten. Zum Beispiel die allgemeinen Menschenrechte. Benoist selbst sagte einmal in einem Interview, er sei ein Fan der alten Griechen, Römer, Kelten und Germanen, „weil dort der alte Grundsatz naturgegebener Ungleichheit Gültigkeit hatte“.
Benoist und Co. haben damals das Kulturkampf-Rezept von heute vorbereitet. Denn sie glaubten, dass der Mensch nur dann ein sinnerfülltes Leben finden kann, wenn er auf seinem „angestammten“ Territorium und im Einklang mit seiner traditionellen Kultur lebt. Deshalb ist die Neue Rechte auch seit jeher ein Gegner von Globalisierung und zu viel Kapitalismus. Die Globalisierung vermischt Kulturen, sorgt für wachsende Ungleichheit und verändert die jeweiligen Wirtschaften so stark, dass sich auch die Lebensweise der Menschen verändert. Und weil der entfesselte Kapitalismus immer auch Kulturen verändert und zerstört, kämpft die Neue Rechte für einen starken Sozialstaat.
„Der Staat muss die Ökonomie beherrschen, nicht umgekehrt“, sagte Alain de Benoist schon 1979 in einem Interview mit dem Spiegel. Diese Haltung ist heute auch bei Marine Le Pen zu sehen. Sie inszeniert sich als Kümmerin und greift das Unbehagen vieler Menschen an der Globalisierung auf. Und sie hat die französische Identität und Kultur zu ihrem zentralen Thema gemacht.
Die Neue Rechte distanziert sich bewusst von alten Neonazi-Klischees
Dass Marine Le Pen wahrscheinlich die nächste Präsidentin von Frankreich wird, hat nicht nur mit ihrer Ideologie zu tun, sondern vor allem auch mit der Strategie der Neuen Rechten. Sie benutzt zwei zentrale Konzepte: Dédiabolisation und Metapolitik. Dédiabolisation ist der französische Begriff für „Entteufelung“. Die Neue Rechte arbeitet seit den 1970er Jahren daran, das Klischee der Springerstiefel-Nazis hinter sich zu lassen. Denn sie weiß: Um an die Macht zu kommen, muss man die ganze Breite der Gesellschaft erreichen. Also gibt man sich harmloser, als man ist. Marine Le Pen wollte zum Beispiel, dass der RN nicht länger rechtsextrem wirkt. Er sollte etwas Neuartiges sein, Patriotismus und Sozialpolitik miteinander verbinden, weder rechts noch links wirken, für alle wählbar sein.
Deshalb beschloss Le Pen, ihre Partei von „Front National“ zu „Rassemblement National“ umzubenennen. Sie schmiss ihren offen rechtsextremen Vater aus der Partei und inszeniert sich als Kämpferin gegen Antisemitismus. Diese Taktik ging auf.
Die Neue Rechte in Deutschland hat sich diese Taktik abgeschaut und „Selbstverharmlosung“ genannt: Das sei „der Versuch, die Vorwürfe des Gegners durch die Zurschaustellung der eigenen Harmlosigkeit abzuwehren und zu betonen, dass nichts, von dem, was man fordere, hinter die zivilgesellschaftlichen Standards zurückfalle“, schreibt Götz Kubitschek, Stratege der Neuen Rechten in Deutschland, in einem 2017 veröffentlichten Essay.
Die Strategie: Die Neue Rechte will zuerst kulturellen Einfluss erreichen, um dann die Macht zu erobern
Zurück zu Alain de Benoist. Der veröffentlichte im Jahr 1985 sein bis heute bekanntestes Werk: „Kulturrevolution von Rechts“. Darin skizziert er, mit welcher Strategie die Neue Rechte über Jahrzehnte die Gesellschaft verändern will, um jemanden wie Marine Le Pen überhaupt wählbar zu machen. Diese Strategie heißt „Metapolitik“ und bedient sich der Idee eines linken Denkers.
Der Philosoph Antonio Gramsci wurde im Juni 1928 von der faschistischen Justiz in Italien zu zwanzig Jahren Haft verurteilt. Zuvor hatte der zuständige Staatsanwalt gefordert: „Wir müssen für zwanzig Jahre verhindern, dass dieses Hirn funktioniert.“ Das klappte nicht. Im Gefängnis schrieb Gramsci seine berühmten „Gefängnishefte“.
Darin fragte er sich: Was braucht es, damit eine Bewegung politische Macht erobern kann? Seine Antwort: Eine Revolution oder Machtübernahme mit Gewalt reicht nicht aus. Viel wichtiger ist es, zuerst breite Zustimmung in der Bevölkerung für die eigenen politischen Ideen zu erlangen. Kulturelle Macht gehe der politischen Macht voraus, glaubt er. Im Umkehrschluss bedeutet das: Vor der politischen Revolution braucht es eine geistige oder kulturelle. Gramsci ahnte damals wohl nicht, welchen Weg seine Gedanken nehmen sollten. Denn Europas Neue Rechte bedient sich großzügig an Gramscis Ideen, um den eigenen Weg an die Macht vorzubereiten.
Ihre Metapolitik-Strategie setzt darauf, ihre Weltanschauung über Jahrzehnte Schritt für Schritt zu normalisieren, bis sie irgendwann normal wirkt und nicht mehr extrem. Besonders wichtig ist dabei die Zivilgesellschaft, also Vereine aus den Bereichen Kultur, Sport, Medien und Gewerkschaften. Die Neue Rechte glaubt, dass die einen großen Einfluss auf die Meinungsbildung der Gesellschaft haben. Deshalb sollen Intellektuelle ihre politischen Ideen am Stammtisch, auf der Arbeit und im Fußballverein unter die Menschen bringen. Und deshalb gründet die Neue Rechte Sportvereine, übernimmt Kulturzentren und Kneipen, trifft sich zum Wandern oder zum Kanuausflug und veröffentlicht in Zeitschriften und „alternativen Medien“ die eigene Weltsicht. Sie will die kulturelle Vorherrschaft erreichen, indem ihre Ideen langsam in die Zivilgesellschaft einsickern. Das Kalkül: So bereitet man die Bevölkerung langsam auf die politische Machtübernahme vor.
Diese Strategie entwarf die Neue Rechte in den 1970er Jahren in Frankreich. Jetzt, 50 Jahre später, geht ihr Plan auf. Nach Deutschland kamen die Ideen und Strategien der Neuen Rechten etwas später. Aber die Wahlerfolge und Umfragewerte der AfD zeigen: Auch hierzulande funktionieren sie.
Redaktion: Rico Grimm, Schlussredaktion: Susan Mücke, Bildredaktion: Philipp Sipos; Audioversion: Iris Hochberger