Einem Neonazi wird mit der Faust ins Gesicht geschlagen. Er trägt kurze Haare, einen Backenbart, rote Hosenträger und ein weißes T-Shirt, auf dem Hakenkreuze abgedruckt sind.

Brian Blanco/Getty Images

Politik und Macht

Mit Nazis reden?

Niemand will sich die Hände schmutzig machen. Aber in der Vergangenheit war das oft der einzige Weg.

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Reporter für Macht und Demokratie

Wenn eine mutige Zivilgesellschaft sich Faschisten in den Weg stellt, kann sie gewinnen.

Daran müssen wir uns genau jetzt wieder erinnern.

Denn auf Sylt grölen Rich-Kids in Segelschuhen rassistische Parolen und fühlen sich sicher. Nazis kleiden auf Tiktok ihre Menschenverachtung in Memes und fühlen sich sicher. Und Mitglieder der AfD beleidigen, schlagen und hetzen gegen andere Menschen – und fühlen sich sicher.

Wie ist dieser Hass zu stoppen?

Mit Geld und Investitionen? Mit Bildungsangeboten und Aufklärung? Mit Strafverfolgung und Verbotsverfahren? Oder mit Zuhören und Argumenten?

All das kann Rechtsextremismus langfristig sicher bekämpfen. Kurzfristig hilft im Alltag aber vor allem eins: eine funktionierende Zivilgesellschaft.

KR-Mitglied Andreas hat mir geschrieben, dass Neonazis sich in seinem norddeutschen Heimatdorf in den 1990ern kaum auf die Straße trauten. Der Grund: Rund um ein Jugendzentrum gab es eine starke antifaschistische Kultur- und Musikszene. „Dadurch, dass die ganze Jugend der Kleinstadt quasi links war, haben die Faschos nie wirklich einen Fuß auf die Erde bekommen“, sagt er.

Heute müsse er oft an diese Zeit zurückdenken, sagt er. Es brauche wieder „eine stabile Zivilgesellschaft, die im Fall der Fälle auch Schutz geben kann.“

Er hat recht: Wie effektiv zivilgesellschaftliches Engagement gegen Rechtsextremisten sein kann, zeigt ein Blick in die Geschichte.

Der Tag, als hunderttausend Menschen sich in London den Faschisten in den Weg stellten – und gewannen

Am 4. Oktober 1936 wollten rund 3.000 Anhänger der „British Union of Fascists“ durch die jüdischen Nachbarschaften in Ost-London ziehen – gewaltbereit und schwarz gekleidet, ganz nach dem Vorbild ihrer Gesinnungsgenossen in Italien und Deutschland.

Die jüdischen Anwohner:innen hatten Angst. Innerhalb von zwei Tagen sammelten sie mehr als 77.000 Unterschriften, um den Aufmarsch der Faschisten zu verhindern – erfolglos. Es gelte das Recht auf freie Meinungsäußerung, sagte die Regierung.

Daraufhin planten mehrere jüdische Organisationen, sich dem Aufmarsch entgegenzustellen. „Wir beschlossen, dass wir es unter keinen Umständen erlauben würden, dass Faschisten mit ihrer Propaganda, ihren Beleidigungen und Angriffen in unsere Gemeinschaft kommen“, erinnerte sich laut dem Historiker Daniel Tilles später einer der Aktivisten.

Am Tag des geplanten Aufmarsches blockierten rund 100.000 jüdische Antifaschisten und ihre Verbündeten den Weg der Faschisten. Sie errichteten Straßenbarrikaden und attackierten die von der Polizei beschützte Gruppe mit Ziegelsteinen und Spottgesängen. „They shall not pass“, riefen sie immer wieder. Und setzten sich durch.

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Der Sieg der Antifaschisten ging als „Schlacht in der Cable Street“ in die Geschichte ein. Während der Faschismus in Italien und Deutschland längst an der Macht war, wurde er in Großbritannien an diesem Tag gestoppt. Zumindest vorerst.

Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs lebte er wieder auf. Zahlreiche vormals inhaftierte Faschisten wurden freigelassen und Großbritannien war eines der wenigen Länder Europas, in dem faschistische Propaganda im Namen der Meinungsfreiheit verbreitet werden durfte. Die Begründung: Die Bedrohung sei nicht groß genug. Doch die Angriffe auf britische Juden häuften sich, beflügelt von der antisemitischen Inspiration der Nationalsozialisten und den schon damals heftig geführten Diskussionen um den Nahen Osten.

Viele linke und sozialdemokratische Gruppierungen versuchten, mit Briefen, Anwälten und Vorträgen gegen die Faschisten vorzugehen. Sie waren stets darauf bedacht, sich im Rahmen der Legalität zu bewegen und den eigenen Ruf zu wahren. Doch das funktionierte nicht.

Andere Antifaschisten machten es besser.

Wie jüdische Antifaschisten die Neonazis in Großbritannien besiegten

London, Winter 1945: Als Morris Beckman und sein Cousin Harry Rose nach einem Theaterbesuch auf dem Nachhauseweg waren, liefen sie an einer kleinen Nazi-Kundgebung vorbei. Beide hatten im Krieg gegen die Nazis gekämpft. Beide waren jüdisch. Als sie sahen, wie jemand schrie: „In Belsen wurden nicht genug Juden verbrannt“, beschwerten sie sich bei einem Polizisten. Doch der zuckte bloß mit den Schultern.

Als Beckman kurz darauf mit drei anderen Juden erneut auf eine faschistische Kundgebung traf, mischten sie sich unter die Gruppe, tarnten sich als Besucher und schlugen auf die Teilnehmer ein. Kurz darauf gründeten sie die „43 Group“.

Das Ziel der Gruppe: Faschisten aufhalten, um jeden Preis. Die meisten Gründungsmitglieder hatten selbst gegen die Nazis gekämpft und Familienmitglieder in den Vernichtungslagern der Deutschen verloren. Einer von ihnen war Leslie Hardman, der als erster Rabbi in der britischen Armee das befreite Konzentrationslager Bergen-Belsen betrat. Ein anderer, Vidal Sassoon, wurde später zu einem der berühmtesten Friseure der Welt. Sie alle wussten, wozu Faschisten fähig sind – und waren wütend darüber, dass die Polizei, Regierung und die Labour-Partei deren Aufstieg quasi tatenlos zusah.

Innerhalb kurzer Zeit hatte die Gruppe mehr als 1.000 Mitglieder. Jeder, der wollte, konnte mitmachen – auch konservativ eingestellte Menschen.

Gemeinsam störten und blockierten sie faschistische Treffen, stellten sich ihren Aufmärschen in den Weg und vertrieben sie aus ihren Stadtvierteln. Sie schleusten Spione in faschistische Kreise ein und veröffentlichten eine Zeitung, in der sie ihre Weltsicht und ihre Erkenntnisse über die faschistische Bewegung teilten.

Einem Mitglied der Gruppe, der Jüdin Wendy Turner, gelang es, zur Geliebten eines bekannten Faschisten zu werden und Informationen an die Gruppe weiterzugeben. Ein anderes Mitglied stieg zum Bodyguard des bekannten Faschistenführers Oswald Mosley auf. Eines Abends ließ er Mitglieder in Mosleys Haus, um Unterlagen zu stehlen, die Mosleys Verbindungen zu britischen Abgeordneten belegten.

Im Sommer 1946 störte die Gruppe laut eigenen Angaben sechs bis zehn faschistische Veranstaltungen pro Woche. Die reagierten, indem sie ihre Kundgebungen in Innenräume verlegten. Daraufhin fälschte die 43 Group Eintrittskarten und schleuste sich so in die Events. Einmal drinnen, begannen sie, lauthals mit anderen Besuchern zu streiten, die dieselbe Sitzplatznummer hatten, um so das Event zu unterbrechen. Sie gaben nicht auf – und hatten Erfolg.

1950 verkündete die faschistische Union-Movement-Partei vor einer anstehenden Wahl ihren Rückzug: „Ein Wahlkampf zum jetzigen Zeitpunkt wäre eine Geste ohne Realitätsbezug, unsere Zeit ist noch nicht gekommen“, sagten sie. Kurz darauf verließ der Faschistenführer Oswald Mosley das Land und zog nach Irland. Die faschistische Bedrohung in Großbritannien war schließlich so klein, dass die 43 Group sich auflöste.

Anfangs kritisieren Gewerkschaften, Sozialdemokraten und Konservative die Gruppe. „Das Establishment wollte vermeiden, dass Juden in Verruf geraten oder der Antisemitismus zunimmt“, schreibt der Historiker Daniel Sonabend in seinem Buch „We Fight Fascists: The 43 Group and their Forgotten Battle for Post-war Britain“. Später änderten laut Sonabend viele Kritiker:innen ihre Einstellung, besonders aus der linken Labour-Partei. Denn die 43 Group erreichte, dass die Faschisten sich immer weiter zurückzogen. .

Sagen wir so: Das ist heute in Deutschland und Europa ähnlich. Immer wenn es um Widerstand gegen Faschisten und Rechtsextreme geht, vereint sich der Großteil der Gesellschaft hinter der Flagge des „anständigen Widerstandes“. Das Motto: Bloß nicht die Hände schmutzig machen.

Aber genau das ist der Kern von antifaschistischen Aktionen: Es ist eine illiberale Politikstrategie, die sich die Hände schmutzig macht.

Sie glaubt nicht an unbegrenzte Meinungsfreiheit und einen fairen Wettkampf der Ideen, der auf einem Marktplatz der Aufmerksamkeit ausgetragen wird – sondern daran, dass faschistoide Gruppen von Anfang an klein gehalten werden müssen.

Jules Konopinski, der als 17-Jähriger der Gruppe beitrat, sagte dem Guardian kurz vor seinem Tod: „Es gab eine Menge Gewalt, aber sie war gerechtfertigt. Ich debattiere und diskutiere gerne, aber wenn man es mit Schlägern, dem Pöbel auf der Straße zu tun hat, kann man nicht mit ihnen reden. Wir haben unsere Community verteidigt. Es war eine notwendige Verteidigung.“

Diese Verteidigung der eigenen Gruppe muss aber nicht immer gewaltvoll sein.

Wie eine dänische Nachbarschaft Nazis mit Gesang vertrieb

Als der dänische Nazi Gunnar Gram 1998 starb, vermachte er sein zweistöckiges Haus in der Stadt Aalborg der Dänischen Nationalsozialistischen Bewegung. Ein willkommenes Geschenk. Die Partei bezog das Gebäude und dekorierte die Vorderseite mit einem großen Hakenkreuz. Immer mehr Neonazis begannen, in der Nachbarschaft rumzuhängen, sich zu betrinken und die Anwohner:innen zu belästigen. Antifaschistische Organisationen gab es vor Ort nicht.

Also schloss sich die lokale Zivilgesellschaft zusammen, um die Nazis zu verjagen. Jeden Abend trafen sie sich vor deren Haus und sangen. Dazu muss man wissen: Singen ist in Dänemark quasi eine antifaschistische Widerstandstradition. Weil während des Zweiten Weltkrieges politische Versammlungen in Dänemark verboten waren, organisierte sich der Widerstand über öffentliche Chortreffen.

Die Aalborger Nazis versuchten, sich zu wehren und beschallten die Gegend mit rechter Musik. Aber die Nachbarschaft hatte mehr Ausdauer. Sie trafen sich auch tagsüber, um Fotos der Nazis in der Stadt zu verteilen, damit die lokalen Ladenbesitzer:innen nichts an sie verkauften. Später spürten sie eine Halbschwester des Verstorbenen auf – und zogen mit ihr vor Gericht, um das Testament des Verstorbenen anzuzweifeln. Mit Erfolg.

Im Mai 2001 ordnete ein Gericht an, dass die Nazis das Haus räumen mussten. Während zehn Neonazis in Bomberjacken ihre Möbel in einen Transporter luden, feierten etwa 40 Menschen aus der Nachbarschaft, die meisten laut einem Zeitungsbericht in Bademantel oder Jogginghose, ihren Sieg, applaudierten und jubelten.

Antifaschismus wirkt, steht heute aber vor einem großen Problem

Die Aktionen in Großbritannien und Dänemark haben ihre Spuren hinterlassen. Die Nationalsozialistische Bewegung in Dänemark musste Aalborg verlassen, in England sind wichtige Strukturen der Zivilgesellschaft aus der 43 Group und deren Nachfolgeorganisationen entstanden, zum Beispiel die Nichtregierungsorganisation Community Security Trust (CST). Die Gruppe schützt nicht nur Synagogen und jüdische Einrichtungen vor Neonazis, sondern auch Moscheen. Andere Ex-Aktivist:innen gründeten das antifaschistische Magazin „Searchlight“.

Die antifaschistischen Aktionen funktionieren, wenn es sich um kleinere Gruppen von mehreren Dutzend oder Hundert Neonazis handelt. Gegen rechtsextreme Aufmärsche, bei denen Tausende mitlaufen, helfen die Taktiken nicht immer.

Und heutzutage organisieren sich die Rechtsextremen eben nicht mehr in kleinen Gruppen von Skinheads in Springerstiefeln. Sie tragen Jeans und Sneakers, haben Tausende Follower auf Instagram und Tiktok und mischen sich unter Bauernproteste und Anti-Corona-Demonstrationen. Sie verstecken sich hinter einer abgeschwächten Rhetorik, organisieren Dorffeste und unterstützen Fußballvereine in Finanznot.

Vielleicht haben sie im Kopf, was der Historiker Mark Bray in seinem Buch „Antifa: The Anti-Fascist Handbook“ schreibt: Faschisten kommen in der Regel nicht durch eine Revolution an die Macht, sondern auf legale Art und Weise. Schritt für Schritt.


Redaktion: Rico Grimm, Schlussredaktion: Susan Mücke, Bildredaktion: Philipp Sipos, Audioversion: Christian Melchert

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