An einem Januartag im Jahr 2017 war die U-Bahn in Washington, D.C. brechend voll. Mehr als eine Million Menschen waren unterwegs, ein Rekord, der seitdem nicht mehr gebrochen wurde. Grund dafür: Frauen! Der „Women’s March“ war ein Protestmarsch für Frauenrechte – und eine der größten Demonstrationen in der Geschichte der USA.
Später mobilisierte die Black-Lives-Matter-Bewegung weltweit Millionen Menschen gegen Rassismus, in Deutschland protestierten Zehntausende. Und Anfang des Jahres gingen fast eine Million Menschen gegen die AfD auf die Straße. Es scheint so, als gäbe es einen progressiven Zeitgeist.
Doch das hat einen Haken: Diese Bewegungen waren reaktiv, sie entstanden aus einem Schock heraus. Der „Women’s March“ war eine Reaktion auf die Amtseinführung von Donald Trump, die Black-Lives-Matter-Bewegung wurde erst nach dem Tod des Afroamerikaners George Floyd international bekannt und die „Demos gegen rechts“ konnten nur deshalb so viele Menschen mobilisieren, weil kurz vorher das Geheimtreffen von Rechtsextremen ans Licht kam.
Es gibt nämlich nicht nur eine progressive Bewegung, sondern auch eine Gegenbewegung. Eine lose Aufzählung: Die AfD könnte bei den Landtagswahlen in Ostdeutschland im Herbst stärkste Kraft werden, im April hat Bayern das Gendern an Behörden und Schulen verboten, die Ampel-Koalition verschärft ihre Migrationspolitik und der UN-Generalsekretär António Guterres warnte im März vor weltweiten Rückschritten bei den Rechten von Frauen und Mädchen.
Diese Nachrichten können Angst machen und verunsichern. Fortschritt ist nicht gesichert, so wirkt es. Erkämpfte Freiheiten und Rechte können einem jederzeit wieder genommen werden.
Es hilft, mit einem anderen Blick auf diese Nachrichten zu blicken. Denn so schockierend sie klingen, eigentlich sind sie es nicht. Wer versteht, wie gesellschaftliche Veränderung funktioniert, ist weniger geschockt von schlechten Nachrichten – und findet die Kraft, trotz allem weiterzukämpfen.
Wird mit der Zeit alles besser? Schön wärs!
Viele denken: Fortschritt ist linear. Die Zeit schreitet voran und um uns herum wird die Welt automatisch besser. Mit dieser Vorstellung stimmen zwei Sachen nicht.
Erstens können progressive Errungenschaften jederzeit rückgängig gemacht werden. Denn die politische Gegenseite macht ebenfalls mobil und schlägt meist noch härter zurück. Ein gutes Beispiel ist das Thema Schwangerschaftsabbrüche in den USA. Vor 50 Jahren (also einem halben Jahrhundert!) räumte das oberste US-Gericht ein weitgehendes Recht auf Abtreibung ein. Auf Druck der Abtreibungsgegner:innen kippte das Gericht die Entscheidung vor zwei Jahren.
Ein anderes Beispiel für einen gesellschaftlichen Rückschritt ist die sogenannte Bezahlkarte für Geflüchtete. Anstatt Bargeld zu bekommen, sollen Geflüchtete künftig mit einer Bezahlkarte ihre täglichen Einkäufe erledigen. Die Bezahlkarte gab es schon einmal: in den 1990ern. In den 2010er Jahren gab es unter anderem in Berlin ein ähnliches System der Einkaufsgutscheine für Geflüchtete. Meine Eltern tauschten mit Geflüchteten Bargeld gegen die Einkaufsgutscheine, damit sie selbstbestimmt einkaufen und auch Rückgeld an der Kasse erhalten konnten. Die Bezahlkarte und die Einkaufsgutscheine wurden abgeschafft, weil sie unpraktisch waren und die Geflüchteten entmündigten. Jetzt kommt sie wieder: die Bezahlkarte, eine Idee aus den 90ern.
Zweitens, wenn Fortschritt immer linear wäre, würde das bedeuten, dass die Zukunft bereits entschieden ist und dass niemand mehr Einfluss auf sie hat. Wir könnten dann aufhören, zu kämpfen. Schön wärs!
In einem Streitgespräch hat Svenja Flaßpöhler, Chefredakteurin des „Philosophie Magazins“, der Feministin Emilia Roig einmal vorgeworfen, Feminist:innen wie Roig wollten Frauen gar nicht befreien, weil sie sich immer in der Opferrolle sehen wollten.
Diesen Vorwurf habe ich mir auch schon oft anhören müssen. Zum Beispiel in der 10. Klasse, als mir im Chemieunterricht das Buch „Feminist Theory“ von bell hooks aus der Tasche fiel. Mein Chemielehrer sagte mir sinngemäß, dass Feminismus in den 1970er Jahren noch sinnvoll gewesen sei, aber doch nicht mehr heute.
Ich versuche, in solchen Situationen zu argumentieren, dass das Patriarchat eine soziale Struktur ist, die sich historisch aufzeigen und systematisch nachvollziehen lässt. Diese ist nicht damit überwunden, dass Frauen Auto fahren oder wählen dürfen. Erst wenn Frauen wirklich frei und selbstbestimmt über ihren Körper und den Verlauf ihres Lebens entscheiden können, erst wenn sie und ihre Bedürfnisse und Perspektiven überall berücksichtigt werden, leben wir in einer feministischen Gesellschaft.
Ähnlich ist es beim Thema Rassismus, von dem viele zu denken scheinen, dass unsere Gesellschaft ihn längst hinter sich gelassen hat. Ich bin schon oft auf Abwehr gestoßen, wenn ich zum Beispiel kritisiert habe, wie schnell der rassistische Anschlag in Hanau aus dem medialen und öffentlichen Bewusstsein verschwunden ist. Dabei könnte so ein Anschlag jederzeit wieder passieren. Denn unsere Gesellschaft entwickelt sich eben nicht linear, sie wird nicht automatisch weniger rassistisch.
Auf Fortschritt folgt immer ein Rückschlag, gerade weil es einen Fortschritt gab
Vor einigen Monaten machte eine Studie Schlagzeilen. Die junge Generation driftet auseinander: Die Frauen sind eher links, die Männer eher rechts. Die US-Studie beobachtet in Wohlstandsländern weltweit eine stärkere Polarisierung. In Deutschland lässt sich das auch beim Wahlverhalten beobachten: Junge Menschen haben noch nie so unterschiedlich gewählt wie gerade, wobei Männer eher konservativ wählen und Frauen eher progressiv.
Das deckt sich mit meinem Gefühl, dass es ein explizit antifeministisches Lager gibt, das immer größer wird. Menschen, die vielleicht vor ein paar Jahren neutral bis leicht genervt auf Themen wie Feminismus reagiert hätten, sind heute viel aggressiver. Als ich während der Abizeit meinen Mitschüler:innen erzählte, Gender Studies studieren zu wollen, fragten die Menschen noch interessiert, was das sei. Als ich es später studierte, wurden die gleichen Menschen aggressiv und warfen mir Fake News an den Kopf. Zum Beispiel, dass es genau so viele Fälle von sexualisierter Gewalt an Männern von Frauen gebe. Oder sie hielten es für Schwachsinn, dass es für „so etwas“ überhaupt öffentliche Mittel gibt. Alle Menschen, die negativ gegenüber den Gender Studies eingestellt waren, waren Männer. Frauen erlebte ich auch weiterhin als interessiert.
Selbst wenn auf gesetzlicher Ebene Fortschritte erreicht werden, ist das immer noch keine Garantie für eine fortschrittliche Gesellschaft. In dem Buch „Backlash“ erklärt die Autorin Susanne Kaiser das „feministische Paradox“. Demnach nimmt die Gewalt gegen Frauen in besonderes fortschrittlichen Gesellschaften zu. Je mehr Frauen in Vorständen, desto mehr häusliche Gewalt, so könnte man es verkürzt ausdrücken. Die Autorin schreibt: „Feministischer Fortschritt und männliche Gewalt wachsen gemeinsam.“
Das zeigt sich auch daran, wenn ganze frauenfeindliche Ideologien und Gemeinschaften entstehen, wie etwa die Incels. Männer aus dieser Subkultur machen unter anderem Feminismus dafür verantwortlich, dass sie keinen Sex mit Frauen haben.
Wie Fortschritt und Rückschritt zusammenhängen – oder zumindest gleichzeitig passieren – zeigt sich auch an anderen Beispielen. Während sich einige mit Rassismus in der Sprache auseinandersetzen und Debatten über das N-Wort führen, greifen andere Geflüchtetenunterkünfte an. Während auf der einen Seite Zehntausende in Deutschland auf die Black-Lives-Matter-Demos gingen, forderten andere den Aufnahmestopp von Geflüchteten. Das neue Einbürgerungsgesetz, das Einbürgerungen leichter möglich machen soll, steht den neuen Migrationsgesetzen gegenüber, die unter anderem Abschiebungen erleichtern sollen.
Jeder Backlash bedeutet: Wir machen etwas richtig
Nach der Frauenbewegung der 1970er und 1980er setzte eine Ära des Postfeminismus ein, schreibt die Kulturwissenschaftlerin Angela McRobbie in ihrem Buch „The Aftermath of Feminism“ (Die Nachwirkungen des Feminismus). Postfeminismus ist eine bestimmte Art von Antifeminismus, die zwar anerkennt, dass Feminismus mal notwendig war, aber jetzt nicht mehr ist. Erst ab 2010, schreibt McRobbie, sei nach und nach eine neue Frauenbewegung entstanden, die dieses Narrativ nicht mehr hinnehme.
Rechte Gruppen haben es in der Vergangenheit geschafft, bestimmte Menschen, die ökonomisch benachteiligt sind, davon zu überzeugen, dass Feminismus und Antirassismus ein Luxus-Problem sind. Dadurch ist bei ihnen ein verzerrtes Ungerechtigkeitsgefühl entstanden. Dieses Gefühl hat die ehemalige Integrations- und Gleichstellungsministerin Sachsens Petra Köpping in ihrem Buch „Integriert doch erst mal uns!“ beschrieben. Dieser Satz wurde ihr von Demonstrierenden in den neuen Bundesländern an den Kopf geworfen, als sie sich für die bessere Integration von Geflüchteten einsetzte.
Dies war auf dem Höhepunkt der Geflüchtetenbewegung 2015/16. Zu dieser Zeit wurden auch sehr viele Geflüchtetenunterkünfte angegriffen. Seitdem haben alle anderen Parteien entweder die Rhetorik der AfD übernommen oder Gesetze verabschiedet, die Abschiebungen leichter machen sollen.
Die feministische Journalistin und Autorin Susan Faludi hat bereits 1991 nach der Frauenbewegung der 1970er Jahre das Phänomen des antifeministischen Backlashs untersucht. Ihre These lautet, dass ein Backlash immer aus Erfolg entsteht. Die eine Seite stellt Forderungen und erzielt Erfolge – und die andere Seite fühlt sich benachteiligt und bedroht. Faludi schreibt, dass der antifeministische Backlash nicht deshalb entstanden ist, weil die feministische Bewegung tatsächlich vollumfänglich gewonnen hat, sondern weil die Gegenseite das Gefühl hatte, dass sie gewinnen könnte. Also ein vorbeugender Schachzug, um Frauen zu stoppen, bevor es zu spät ist. Dabei wird versucht, die Errungenschaften als die eigentlichen Probleme darzustellen. Gerade, als Feminist:innen Erfolge feiern konnten, begannen Angriffe auf sie und ihre Bewegung. Zwei Schritte nach vorne und einer zurück, so beschreibt es Faludi. Das klingt zwar mühsam, man kann es aber auch so sehen: Es ist immer noch ein Fortschritt.
Dieses Gefühl von Vor- und Rückwärtsbewegung kenne ich auch aus meinem Studium. Ich fing 2016 an, Gender Studies zu studieren, ein Studienfach, das es erst seit dem Jahr 1997 in Deutschland gibt. Ein Schritt nach vorne, könnte man meinen. Doch es gab immer heftigen Gegenwind: Jemand entfernte den Flyer über das Studienfach vom Infobrett und hängte stattdessen einen Zettel über die „wahre Familie“ auf, die, wie der Flyer suggerierte, aus Papa, Mama und Kindern bestand. Die abgebildete Familie war weiß und blond. Wenige Wochen später kritzelte jemand einen transfeindlichen Spruch auf den Raumplan des Raumes, in dem das Einführungsseminar in die Trans Studies stattfand. Derjenige fand das Seminar „so unnötig wie ein Schwanz an einer Frau“.
Dieser Text soll kein Gefühl der Ohnmacht verursachen, im Gegenteil. Wenn es Rückschritte gibt, sollte unsere Konsequenz der Widerstand sein. Wir sollten uns organisieren, engagieren und noch härter zurückkämpfen. Anerkennen, was wir schon erreicht haben und dann nicht ausruhen, sondern weitermachen und nachhaltig widerständige Strukturen aufbauen.
Auch wenn es nicht immer so wirkt, dass Kämpfen lohnt sich. Denn egal wie stark der Backlash auch sein mag, er bedeutet immer auch: Wir haben etwas richtig gemacht.
Hinweis 29.05.2024: In einer vorherigen Version hieß es, der Women’s March habe im Jahr 2021 stattgefunden. Richtig ist: Er fand im Jahr 2017 statt. Wir haben den Fehler korrigiert.
Redaktion: Isolde Ruhdorfer, Schlussredaktion: Susan Mücke, Bildredaktion: Philipp Sipos, Audioversion: Christian Melchert