Sein Auftritt ist ruhig, doch umso heftiger sind die Reaktionen. Karim Khan, Chefankläger des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH), steht an einem weißen Pult und erklärt seine jüngste Entscheidung.
Er hat einen Antrag auf Haftbefehl gestellt. Einmal gegen drei Anführer der radikalislamischen Hamas. Und gegen den israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu sowie den israelischen Verteidigungsminister Joaw Galant. Es geht um Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit.
Die Reaktionen folgten umgehend: Es sei der „unzutreffende Eindruck einer Gleichsetzung“ zwischen der Hamas-Führung und israelischen Amtsträgern entstanden, heißt es in einer Stellungnahme des Außenministeriums. „Ein schwarzer Tag für das Völkerrecht!“, schreibt der SPD-Politiker Michael Roth auf X.
Andere reagierten zustimmend auf die Entscheidung des Chefanklägers Khan. „Diese Anklage ist richtig“, schreibt der Journalist und Jurist Ronen Steinke in der Süddeutschen Zeitung. Christian Mihr von Amnesty International in Deutschland bezeichnete die Haftbefehle als „wichtige Botschaft“.
Doch die Frage, ob die Entscheidung des Chefanklägers Khan richtig ist oder nicht, geht an der eigentlichen, etwas versteckten Sensation vorbei.
Sollten die Haftbefehle kommen, wäre es das erste Mal, dass der Internationale Strafgerichtshof gegen einen engen Verbündeten des Westens vorgeht.
Viele Länder des Globalen Südens kritisieren den IStGH schon seit Jahren dafür, dass er meistens afrikanische Kriegsverbrecher wie etwa den Kongolesen Thomas Lubanga verurteilt, während Kriegsverbrechen von westlichen Akteuren ungestraft bleiben.
Die jetzigen Haftbefehle könnten der erste Schritt sein, dieses viele Jahre währende Ungleichgewicht richtigzustellen.
Wie der Strafgerichtshof funktioniert – und warum ihn vor allem Afrika kritisiert
124 Länder erkennen den IStGH an, darunter auch Deutschland. Das ist relevant, weil der IStGH nur gegen Personen vorgehen kann, die aus diesen Ländern kommen oder wenn die Verbrechen in diesen Ländern begangen wurden. Alle anderen Länder sind keine Mitglieder des IStGH, darunter China, Russland, Israel und die USA. Die palästinensischen Gebiete traten 2015 dem IStGH bei. Bei den jetzt beantragten Haftbefehlen geht es auch um Verbrechen auf palästinensischen Gebieten, weshalb es möglich ist, Haftbefehl gegen Israelis zu beantragen.
Vor allem afrikanische Staaten sehen im IStGH ein neokoloniales Projekt. Das Gericht hat bis jetzt in 31 Fällen die Strafverfolgung aufgenommen. Auf der Anklagebank landeten Verbrecher aus Mali, Sudan, Kongo oder Uganda.
Theresa Reinold ist Politologin und Gastprofessorin an der Université Côte d’Azur, außerdem war sie einige Jahre Juniorprofessorin für globale und transnationale Kooperationsforschung an der Uni Duisburg-Essen. Sie stellt klar: „Alle Personen, die vom IStGH strafverfolgt wurden, verdienen es auch.“ Das Problem bestehe darin, dass viele andere Personen es auch verdienen, aber nicht auf der Anklagebank landen.
Vor einigen Jahren versuchte Fatou Bensouda, die damalige Chefanklägerin in Den Haag, gegen Mitglieder des US-Militärs und der CIA vorzugehen. Diese sollen in Afghanistan Häftlinge gefoltert haben. Die USA reagierten mit Einreiseverboten und Finanzsanktionen gegen Mitglieder des IStGH. Der IStGH stellte die Ermittlungen zurück.
Reinold erzählt, dass sie mit Diplomaten und Vertretern der Afrikanischen Union gesprochen habe. „Ich habe gesehen, was das für eine emotionale Komponente hat vor dem Hintergrund des Kolonialismus.“ Der IStGH, hauptsächlich finanziert von westlichen Ländern, werde als Instrument der ehemaligen Kolonialmächte wahrgenommen. Mehrere afrikanische Länder drohten deshalb damit, den IStGH zu verlassen. Südafrika zum Beispiel, das Land blieb dann aber doch. Burundi trat 2017 als erstes Land tatsächlich aus.
Dieses Ungleichgewicht wird umso deutlicher, wenn man versteht, wie vor allem die USA das Gericht torpedieren. Unter der Bush-Regierung handelten die USA bilaterale Abkommen aus, um zu verhindern, dass Länder, die den IStGH anerkennen, US-Soldat:innen ausliefern.
Offiziell befürchten Länder wie die USA, China, Indien oder Russland Eingriffe in ihre eigene staatliche Souveränität. Wahrscheinlicher ist, dass sie befürchten müssen, sich vor dem Gericht verantworten zu müssen. Russland zum Beispiel zog seine Unterschrift 2016 zurück, nachdem die damalige Chefanklägerin Bensouda erklärt hatte, die russische Besetzung der Krim und die Kämpfe in der Ostukraine deuteten auf einen bewaffneten internationalen Konflikt zwischen Russland und der Ukraine hin. Russland dementierte offiziell, einen Krieg in der Ostukraine zu führen.
Es ist das erste Mal, dass Verbündete des Westens angeklagt werden könnten. Das hat Sprengkraft
Neutral, gerecht, eine Institution, welche die Verbrecher:innen dieser Welt richtet – so wünschen sich wahrscheinlich viele den IStGH. Allerdings ist es genau das: eine Wunschvorstellung.
Politikwissenschaftlerin Reinold sagt: „Der Internationale Strafgerichtshof ist eine Rechtsinstitution, aber es ist eine Institution, die in einem stark politisierten Umfeld arbeitet.“
Der IStGH steht unter einem immensen Druck. Von Ländern wie den USA, die verhindern wollen, dass das Gericht gegen ihre Bürger:innen ermittelt. Von Mitgliedsländern, die den IStGH hauptsächlich finanzieren, wie etwa Deutschland. Und von Ländern in Afrika, die sich zu sehr im Fokus des Gerichtshofs sehen.
Nie war das so deutlich wie jetzt. Der Konflikt zwischen Israel und Palästina interessiert Menschen auf der ganzen Welt. Seit Wochen protestieren Studierende auf ihren Campussen und fordern ihre Universitäten auf, alle Verbindungen zu Israel zu kappen. Für viele ist Palästina zum globalen Symbol für Unterdrückung und Ungerechtigkeit geworden. Deshalb solidarisieren sich vor allem Länder des Globalen Südens mit den Palästinensern. Sie sehen darin Parallelen zu ihrer eigenen Kolonialgeschichte.
Es steckt deswegen eine mächtige Symbolik darin, dass mit Netanjahu und Galant zwei Männer aus der Spitze von Israel angeklagt werden könnten. Israel ist ein enger Verbündeter des Westens, vor allem der USA.
Das Gericht könnte jetzt ausgewogener werden
Die Haftbefehle bedeuten wahrscheinlich nicht, dass der IStGH nun häufiger gegen Personen aus westlichen Ländern vorgeht. Jeder Fall ist heikel und kann Widerstand in den betroffenen Ländern auslösen. Das, was den IStGH bis jetzt dazu gebracht hat, eher selektiv Fälle auszuwählen, wird ihn auch noch weiter einschränken.
Trotzdem: Die Haftbefehle sind ein Novum. Reinold sagt dazu: „Wir sehen aktuell, dass sich der Gerichtshof weigert, eine Marionette der Mächtigen zu sein.“ Der IStGH dürfe nicht den Eindruck vermitteln, dass bestimmte Länder über dem Recht stehen. „Deswegen muss er bei den Ermittlungsentscheidungen sichergehen, eine gewisse Balance reinzubringen.“ Dafür seien die aktuellen Haftbefehle sehr wichtig.
Auch die Juristin Stefanie Bock schreibt beim Verfassungsblog: Chefankläger Khan bringe zum Ausdruck, „dass das Völkerstrafrecht für alle Konfliktparteien gilt und bemüht sich um einen ausgewogenen und (soweit in diesem Konflikt überhaupt möglich) neutralen, zumindest entpolitisierten Ansatz.“
Erst vor wenigen Tagen sagte der Chefankläger Khan in einem Interview, dass er wegen seiner Ermittlungen gegen die israelischen Regierungsmitglieder Drohungen erhalten habe. Ein hochrangiger US-Politiker habe ihm gesagt: „Dieser Gerichtshof ist für Afrika und Schurken wie Putin geschaffen“ und nicht für den Westen und dessen Verbündete. Khan sagte dazu: „Dieser Gerichtshof sollte der Triumph des Rechts über Macht und brutale Gewalt sein.“
Nachtrag 27.05.2024: In einer vorherigen Fassung hieß es, Theresa Reinold sei Juniorprofessorin an der Uni Duisburg-Essen. Wir haben ergänzt, dass sie inzwischen Gastprofessorin an der Université Côte d’Azur ist.
Redaktion: Rico Grimm, Schlussredaktion: Susan Mücke, Bildredaktion: Philipp Sipos, Audioversion: Christian Melchert