Herr Kundnani, rechtsradikale Parteien wollten die EU lange abschaffen, jetzt wollen sie plötzlich konstruktiv mitarbeiten. Haben wir die rechten Parteien falsch verstanden?
Ja. Wir haben lange angenommen, dass die extremen Rechten nicht mit der EU vereinbar sind, weil sie Nationalisten sind – und die EU im Prinzip ein anti-nationalistisches Projekt ist, weil sich dort viele verschiedene Nationen zusammenschließen. Diese Annahme war falsch. Sie beruht auf zwei Denkfehlern: einem über die EU und einem über die extreme Rechte.
Welche Denkfehler haben wir über die extreme Rechte gemacht?
Wir sind davon ausgegangen, dass die extreme Rechte automatisch nationalistisch ist. Dabei ist sie oft nicht nur nationalistisch, sondern auch europäisch: Die extreme Rechte in Europa spricht nicht nur im Namen ihrer Nation gegen Europa, sondern auch im Namen Europas – insbesondere im Namen einer von außen bedrohten „europäischen Zivilisation“, die sich gemeinsam verteidigen müsse. Diese zivilisatorische Denkströmung ist sehr gut mit der Europäischen Union verträglich. Die extreme Rechte hat eine europäische Vision.
Und inwiefern haben wir gleichzeitig die EU missverstanden?
Wir haben die EU als progressives oder kosmopolitisches Projekt betrachtet, das sich nicht mit rechtsradikalem Gedankengut vereinbaren lässt. Wer sich als Europäer begreift, sieht sich auch als Weltbürger, dachten wir. Dabei haben wir übersehen, dass es auch in der Geschichte der Europäischen Union und des pro-europäischen Denkens immer diese zivilisatorische Idee einer europäischen Identität gegeben hat, die eng mit der Idee des Weißseins verbunden ist. Hier treffen sich Rechtsextreme und die EU: Es geht um die Idee einer europäischen Zivilisation, die von außen und innen bedroht ist. Wenn wir also unsere Sichtweise ein bisschen anpassen, sehen wir: Eine rechtsradikale EU ist denkbar.
Hans Kundnani
Hans Kundnani ist ein britischer Politikwissenschaftler. Außerdem ist er Germanist und Autor. 2023 veröffentlichte er das Buch „Eurowhiteness“ über koloniale Ideen im europäischen Projekt.
Gibt es einen konkreten Grund, warum rechte Parteien nicht mehr aus der EU austreten wollen?
Ja, den Brexit. Seitdem haben sich viele rechtsextreme Parteien von der Idee eines EU-Austritts verabschiedet. Schon für Großbritannien war der Austritt aus der EU kompliziert, für ein Land der Eurozone wäre es noch viel schwieriger.
Welche Gründe gibt es noch?
Die extreme Rechte hat das Gefühl, dass sich die EU in den vergangenen Jahren in ihre Richtung entwickelt hat. Wenn man sich die EU-Flüchtlingspolitik seit 2015 ansieht, dann ist ziemlich klar, dass Orbán den Kampf gegen Merkel gewonnen hat: Die EU spricht zunehmend die Sprache der extremen Rechten. Die Art, wie sie Migranten bloß noch als Bedrohung Europas behandelt, kommt direkt aus dem Lehrbuch der extremen Rechten.
Welche Themen sind wichtig für die extreme Rechte in Europa?
Die extreme Rechte konzentriert sich auf Fragen rund um Identität, Einwanderung und den Islam. Dabei schafft sie eine Verbindung von inneren und äußeren Bedrohungen. Migration ist ein externes Problem. Aber die extreme Rechte bemüht auch das Bild eines „inneren Feindes“, der aus muslimischen Bevölkerungsgruppen besteht, die bereits im Land leben. Sie stehen im Verdacht, von Natur aus antidemokratisch und antisemitisch zu sein.
Haben Sie dafür ein Beispiel?
In Deutschland sehen wir seit dem 7. Oktober 2023 einen Generalverdacht, dass Muslime von Natur aus anfällig für Antisemitismus sind. Diese Idee eines importierten Antisemitismus ist nicht nur ein rechtsextremer Diskurs: Große Teile der politischen Mitte haben ihn übernommen.
Zeigt das nicht, dass die extreme Rechte den Kampf um die Themen Migration und Islam schon lange gewonnen hat? Ich habe den Eindruck, sie kritisiert inzwischen vor allem Klimaschutzmaßnahmen.
Die Klimafrage ist kompliziert. Denn einerseits gibt es in der extremen Rechten eine gewisse Skepsis gegenüber dem Klimawandel und grüner Politik. Andererseits gibt es eine lange Tradition grüner Politik von rechts, besonders in Deutschland. Die Denkströmungen rechtsextremer Ökologie gehen bis zu den deutschen Romantikern zurück, Umweltschutz gilt dann als Heimatschutz.
Wir müssen also aufpassen, dass wir nicht zu sehr vereinfachen, wofür die extreme Rechte steht. Sie mobilisiert auch deshalb um identitätsstiftende Themen wie Migration und Islam, weil sie in fast keinem anderen Bereich, auch nicht in der Klimafrage, eine gemeinsame Position hat.
Im Juni stehen die EU-Wahlen an. Welche Rolle spielen Europas Konservative, wenn wir über die Machtoptionen der extremen Rechten nach der Wahl sprechen?
Alles hängt von den Konservativen ab. Immer, wenn Rechtsextreme stärker werden, kommt es darauf an, was die rechte Mitte tut. Das war in Deutschland in den 1930er Jahren so. Das ist auch aktuell so. Mitglieder der konservativen EVP haben sehr deutlich gemacht, welche Lehre sie aus dem Aufstieg der extremen Rechten ziehen. Und die lautet: Wir müssen noch härter gegen Einwanderung vorgehen. Darin sehen sie den Schlüssel für die EU-Wahlen im Juni. Das ist auch der Grund für die vielen Migrationsabkommen, die die EU mit autoritären Staaten abschließt.
Sie übernehmen also die Themen der extremen Rechten?
Ja, die entscheidende Frage ist aber eine andere: In der Vergangenheit wurde die EU von einer Art großen Koalition geführt. Diese dauerhafte Koalition beginnt aktuell ihre Mehrheit zu verlieren. Daher steht die Frage im Raum, ob Europas Konservative in Zukunft mit der extremen Rechten koalieren. Die Konservativen werden zunehmend der Mitte-Links-Fraktion drohen, mit Rechtsaußen zusammenzuarbeiten, wenn Mitte-Links nicht den konservativen Forderungen nachkommt.
Werden die Mitte-Links-Parteien darauf eingehen?
Sie stehen vor einem Dilemma. Ich denke, sie sollten in die Opposition gehen, anstatt Teil einer Koalition zu sein, die zunehmend die Handschrift der extremen Rechten trägt.
Seit Beginn des Ukraine-Kriegs tolerieren die Mitte-Links- und Mitte-Rechts-Parteien der EU immer häufiger die Politik von Politiker:innen wie Meloni in ihren Heimatländern, solange sie deren Ukraine-Politik unterstützt. Ist das das neue rechte Drehbuch in der EU: Solange sie die Ukraine unterstützen, können sie machen, was sie wollen?
Sobald Meloni nach ihrer Wahl deutlich machte, dass sie die Wirtschaftspolitik der Eurozone nicht stören und die Ukraine unterstützen würde, signalisierte die konservative EVP-Fraktion: Okay, damit sind wir zufrieden. Die Erkenntnis war, dass Europas Konservative kein Problem mit der extremen Rechten haben, sie haben nur ein Problem mit Euroskeptizismus – und mit Figuren, Parteien und Bewegungen, die zu pro-russisch sind.
Europas Konservative drücken also ein Auge zu.
Das Problem geht noch weiter. Ich glaube, es fällt Europas Konservativen zunehmend schwer, rechtsextreme Parteien überhaupt als solche zu erkennen – weil sie Rechtsextremismus zu sehr mit Euroskepsis und einer pro-russischen Position verbinden. In den Köpfen vieler Menschen ist es zur Definition geworden, dass Rechtsextreme immer pro-russisch und euroskeptisch sind. Sobald die extreme Rechte diese Positionen fallen lässt, sehen viele Menschen sie nicht mehr als extrem an. Das öffnet ihnen viele Türen.
Redaktion: Isolde Ruhdorfer, Schlussredaktion: Susan Mücke, Bildredaktion: Philipp Sipos