Eine Gruppe Menschen hält ihre traditionellen Tücher so in die Luft, dass sie nicht mehr zu erkennen sind.

picture alliance/dpa | Paul Zinken

Politik und Macht

Was die Pro-Palästina-Bewegung so erfolgreich macht

Palästina ist nur ein Symbol, eigentlich geht es um etwas anderes.

Profilbild von Isolde Ruhdorfer
Reporterin für Außenpolitik

Ein Nachmittag Anfang Mai vor der Humboldt-Universität in Berlin, mehrere Dutzend Menschen haben sich zu einer unangemeldeten Demonstration versammelt. Sie tragen Palästinensertücher und rufen „Viva Palästina“, „Stoppt den Genozid“, oder „Ceasefire now“. Es ist ein Protest von vielen und gerade deshalb ist er besonders.

Er ist angelehnt an die Studierendenproteste in den USA. Dort protestieren seit Wochen Tausende Studierende auf den Campussen, mehr als 2.000 Personen wurden verhaftet. Auch in Australien, Kanada und Frankreich kam es zu ähnlichen Protesten.

Das hier soll keine Bewertung der Proteste sein, ob sie richtig sind oder nicht. Ich war auf der Demonstration in Berlin und habe mit Demonstrierenden gesprochen, weil mich eine andere Frage umtreibt: Warum ist die pro-palästinensische Bewegung so erfolgreich?

Ja, die Situation in Gaza ist schlimm. Seit die Hamas Israel attackierte und Israel seitdem den Gazastreifen bombardiert, sind Zehntausende Menschen gestorben. Mehr als eine Million drohen laut des UN-Welternährungsprogramms zu verhungern. Doch das allein erklärt nicht, weshalb sich weltweit so viele Menschen für die Palästinenser:innen einsetzen.

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Auch in anderen Regionen der Welt leidet die Bevölkerung, beispielsweise im Sudan, wo sich gerade die „größte humanitäre Katastrophe der Welt“ abspielt. Oder in Äthiopien, wo von 2020 bis 2022 der zu dem Zeitpunkt blutigste Krieg der Welt herrschte. Doch gab es Kundgebungen für den Sudan? Friedensmärsche für Äthiopien? Wenn, dann waren sie klein und nicht in Ansätzen vergleichbar mit der pro-palästinensischen Bewegung.

Ich frage mich deshalb: Wieso ist die Bewegung so erfolgreich? Wie konnte sich eine internationale Bewegung entwickeln, die laut und über viele Jahre hinweg aktiv ist? Und was können sich andere davon abschauen – selbst wenn sie die pro-palästinensischen Demonstrationen kritisch sehen?

Die Diaspora vertritt auf der ganzen Welt palästinensische Interessen

Ein großer Teil der Palästinenser:innen lebt in der Diaspora – und das hat Einfluss auf die internationale Wahrnehmung des Israel-Hamas-Krieges in Gaza.

Nach Angaben des palästinensischen Zentralbüros für Statistik liegt die Zahl der Palästinenser:innen im Jahr 2022 bei rund 14,3 Millionen. Davon leben rund sieben Millionen Personen in Israel, dem Gazastreifen und dem Westjordanland. 6,4 Millionen Menschen, also fast genauso viele, leben in arabischen Staaten. Und rund 800.000 Palästinenser:innen leben in anderen Ländern. Nahost-Experte Jan Busse schätzt die Zahl der Paläsinenser:innen in Europa auf etwa 300.000 Personen.

Die Diaspora sei „seit Jahrzehnten ein prägendes Element der palästinensischen Politik, Wirtschaft und Gesellschaft“, heißt es in einem Papier der Konrad-Adenauer-Stiftung. Die im Ausland lebenden Palästinenser:innen würden durch politische Aktivitäten und finanzielle Unterstützung dazu beitragen, „das internationale Bewusstsein für die palästinensische Frage zu schärfen.“

Bei der Recherche für diesen Text telefoniere ich mit Annaïk, einer deutsch-französischen Studentin, die sich in Italien in einem pro-palästinensischen Kollektiv engagiert. Sie erzählt, dass sie erst über eine Freundin mit palästinensischen Wurzeln mit dem Nahostkonflikt in Kontakt gekommen sei. Auch auf der Demonstration in Berlin weist mich eine Teilnehmerin, die lieber anonym bleiben will, auf die in Deutschland lebende palästinensische Diaspora hin. „Ich fühle mich dafür verantwortlich, meine Mitmenschen zu verteidigen“, sagt sie mir.

Der Anschlag von Hanau und der Krieg in Gaza hängen für die Demonstrierenden zusammen

Vor der Humboldt-Universität skandieren die Demonstrierenden stundenlang Sprüche, doch nicht alle haben direkt etwas mit dem Gaza-Krieg zu tun. Einer davon ist: „Wo wart ihr in Hanau?“ Bei dem rassistischen Anschlag in Hanau 2020 erschoss ein rechtsextremer Täter neun Menschen mit Migrationshintergrund, anschließend seine Mutter und sich selbst. Bei dem Anschlag kam es zu Fehlern der Polizei, das soll der Spruch „Wo wart ihr in Hanau?“ anprangern.

Der Spruch wirkt nur auf den ersten Blick fehl am Platz, denn für die Demonstrierenden hängen Hanau und Gaza zusammen. Das Engagement für die Palästinenser:innen ist für viele eingebunden in antirassistische und postkoloniale Ideen: Israel ist diesem Verständnis nach ein Apartheidsstaat, der die Palästinenser:innen unterdrückt und sogar einen Genozid an ihnen begeht.

Der postkoloniale Blick auf den Nahostkonflikt und den jetzigen Gaza-Krieg ermöglicht es vielen Menschen auf der Welt, sich mit den pro-palästinensischen Protesten zu solidarisieren, auch wenn sie selbst nicht zur palästinensischen Diaspora gehören.

Ein US-amerikanischer Teilnehmer sagt mir auf der Demo: „Es ist nicht nur eine palästinensische Bewegung.“ Er sei hier für die „globale, kollektive Befreiung“. Er ist Jude, auf seinem T-Shirt steht: „Another Jew for a free Palestine“, dazu ein Davidstern in den Farben der Palästina-Flagge. Er sieht einen Zusammenhang zwischen den pro-palästinensischen Protesten und Sklaverei sowie der „Land Back“-Bewegung, bei der die indigene Bevölkerung aus den USA, Kanada und Australien Kontrolle über ihr angestammtes Gebiet wiedererlangen will.

Ein portugiesischer Demonstrant sagt mir: „Die Befreiung der Palästinenser bedeutet auch die Befreiung von anderen Menschen auf der Welt.“ Es erschüttere ihn, dass es in der EU ein starkes Machtgefälle zwischen Deutschland und Süd- sowie Osteuropa gebe.

Annaïk, die Studentin, die sich in dem italienischen Kollektiv engagiert, sagt: „Es geht für mich um viel mehr als nur um Gaza.“ Die Proteste brächten „Leute, die im internationalen System diskriminiert werden, zusammen.“

Die pro-palästinensische Bewegung ist ein Symbol für den Konflikt zwischen dem Globalen Süden und dem Globalen Norden

Es gibt zwei Begriffe, die oft fallen, wenn man mit Personen aus der pro-palästinensischen Bewegung spricht: Doppelstandard und Heuchelei. Eine Demo-Teilnehmerin sagte mir vor der Humboldt-Uni: „Ich verstehe nicht, wie wir diesen Doppelstandard haben können, dass wir der Ukraine bedingungslose Unterstützung geben und gleichzeitig auf der Seite Israels stehen. Diese Heuchelei macht viele Menschen wütend.“

Eine ähnliche Argumentation kenne ich bereits aus der Recherche für einen anderen Text, als ich darüber geschrieben habe, dass sich der Globale Süden vom Westen abwendet – und dass die wahrgenommene „westliche Doppelmoral“ diesen Prozess beschleunigt.

Die pro-palästinensische Bewegung hängt also mit einer globalen Entwicklung zusammen: Beide Bewegungen versammeln Menschen, die das System, in dem sie leben, als unfair wahrnehmen, die sich als unterdrückt sehen – und die ein neues Selbstbewusstsein entwickelt haben und Ungerechtigkeiten anprangern.

Ein gutes Beispiel dafür ist Südafrika, das Israel einen Völkermord an den Palästinenser:innen vorwirft und deshalb vor den Internationalen Gerichtshof gezogen ist. Auch Nicaragua hat Deutschland wegen Beihilfe zum Völkermord vor dem Internationalen Gerichtshof verklagt. Das letzte Verfahren gilt nach Einschätzung von Völkerrechtler:innen zwar als aussichtslos, doch der Internationale Gerichtshof ist auch eine politische Bühne. Und auf dieser Ebene spielt sich folgendes Schauspiel ab: Staaten des Globalen Südens bringen Staaten des Globalen Nordens vor Gericht – und zwar vor genau die Institutionen, die der Globale Norden gegründet hat.

Die pro-palästinensische Bewegung ist also Ausdruck einer globalen Entwicklung. Gleichzeitig beschleunigt sie diese Entwicklung. Sie ist deshalb mehr als „nur“ eine Protestbewegung. Sie ist das Symbol für eine Welt, die viele als ungerecht empfinden.

Sie sehen sich selbst auf der richtigen Seite der Geschichte

Drei Stunden nach Beginn des Protests vor der Humboldt-Uni erscheint die FDP-Politikerin Karoline Preisler zu einem Ein-Frau-Gegenprotest vor dem Eingangstor der Uni. Sie trägt ein T-Shirt mit der Aufschrift „Bring them home now“, womit die israelischen Geiseln der Hamas gemeint sind. In den Händen hält sie ein Schild mit der Aufschrift „Rape is not resistance“. Damit spielt sie auf den Überfall der Hamas vom 7. Oktober an, bei dem Hamas-Kämpfer systematisch Frauen vergewaltigt hatten. Es kommt zu einem kurzen Handgemenge, dann stellen sich mehrere Polizisten vor Preisler. Die Protestierenden buhen sie aus.

Kurz darauf spricht mich eine Demonstrantin an und will wissen, ob ich „pro Palästina“ sei. Als ich ausweichend antworte, wendet sie sich kurz angebunden ab. Anscheinend gefällt ihr nicht, dass ich mich nicht eindeutig positioniere.

Nicht alle aus der pro-palästinensischen Bewegung sind so dogmatisch. Annaïk zum Beispiel erzählt mir, dass sie die Bewegung als intersektional wahrnimmt und bei Diskussionen Aktivist:innen mit unterschiedlichen Meinungen debattieren. Ihr Kollektiv habe schon eine Diskussion mit einem Rabbi und einem Imam organisiert.

Dennoch bleibt der Eindruck, dass einige pro-palästinensische Aktivist:innen zu Lagerdenken neigen und sich dabei selbst auf der richtigen Seite der Geschichte sehen. Immer wieder gibt es Medienberichte über pro-palästinensische Aktivist:innen, die Menschen mit anderen Meinungen „niederbrüllen“, so etwa vor wenigen Monaten an eben jener Humboldt-Uni bei einer Podiumsdiskussion mit einer israelischen Richterin, bei einer Hannah-Arendt-Lesung in Berlin oder bei einer Veranstaltung mit der FDP-Politikerin Marie-Agnes Strack-Zimmermann in Kiel. Es hilft jeder Protestbewegung, ein klares Feindbild zu haben. Für die Bauernproteste Anfang des Jahres waren es zum Beispiel die Grünen, bei den „Demos gegen Rechts“ war das Feindbild, logischerweise, Rechtsextremismus und die AfD.

Viele werfen den pro-palästinensischen Demonstrierenden Antisemitismus vor. Der Antisemitismusbeauftragte der Bundesregierung Felix Klein beobachtet an den deutschen Hochschulen „eine aggressive anti-israelische Stimmung, die auch antisemitisch motiviert ist.“ Und Josef Schuster, Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, sagt: „Jüdische Studenten sind seit vielen Monaten in hohem Maße von Antisemitismus betroffen und das hat ein extremes Unsicherheitsgefühl unter allen jüdischen Studenten hervorgerufen.“

Auf der Demo vor der Humboldt-Universität bestreiten die Demonstrierenden jegliche Antisemitismusvorwürfe. Antizionismus sei nicht das Gleiche wie Antisemitismus, sagt mir eine Frau, die ihr Gesicht mit einem Palästinensertuch vermummt hat.

Die Polizei sieht das anders: Im Laufe des Tages wird sie 37 Ermittlungsverfahren gegen Demonstrierende einleiten, unter anderem wegen möglichen Fällen von Volksverhetzung und Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte.

Die pro-palästinensischen Proteste wird das kaum aufhalten. Auch in der Schweiz, Mexiko oder Großbritannien demonstrieren Studierende. Und schon wenige Tage nach der Demonstration an der Humboldt-Uni errichten Demonstrierende ein Protestcamp an einer anderen Uni, der FU Berlin. Zwar räumt die Polizei das Camp, aber die Proteste werden wahrscheinlich trotzdem weitergehen.


Redaktion: Lea Schönborn, Schlussredaktion: Susan Mücke, Bildredaktion: Philipp Sipos; Audioversion: Iris Hochberger

Was die Pro-Palästina-Bewegung so erfolgreich macht

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