Wer nichts über die Europäische Union weiß, kann sich einer Sache sicher sein: Die EU ist „besorgt“. Über Deepfakes, Tiktok, die Situation in Gaza, Irans Angriff auf Israel, ein neues Agentengesetz in Georgien und Quecksilber in Energiesparlampen.
Egal, was auf der Welt passiert, EU-Politiker:innen und Institutionen reagieren mit dieser Floskel: Man sei „beunruhigt“ oder „besorgt“, sagen sie. Der X-Account „Is EU concerned?“ dokumentiert das seit Jahren. Aber sind die Bürger:innen vor der anstehenden Europawahl annähernd so besorgt wie die EU-Politiker:innen und Funktionäre?
Die kurze Antwort lautet: Ja. Die EU-Bevölkerung sorgt sich um Armut, ihre Sicherheit, die teuren Lebensmittelpreise und Migration. Das zeigt die jüngste Eurobarometer-Umfrage. Und vor dem Hintergrund der aktuellen Kriege und Machtkonflikte halten 81 Prozent der Befragten das Wählen für wichtiger denn je. EU-weit interessieren sich sechs von zehn Befragten für die Wahl – ein Anstieg um 11 Prozent seit der vergangenen Wahl.
Wenn vom 6. bis 9. Juni rund 400 Millionen Menschen wählen, dann ist das die erste EU-Wahl nach dem Brexit, der Corona-Pandemie, dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine und dem Krieg in Gaza. Der Ausgang der Wahlen entscheidet nicht nur darüber, wie viele Militärhilfen die Ukraine künftig bekommt, sondern auch über die Zukunft der EU-Klimaschutzpolitik.
Aktuell beginnt der Wahlkampf. Medien beschwören einen „gewaltigen Rechtsruck“ herauf, Grüne machen Werbung für eine Menschenrechts-EU, Konservative und Rechte halten die Bevölkerung für Klimaschutz-müde.
Die Realität ist komplizierter. Ich habe mir fünf Mythen angeschaut, die im Vorfeld der Europawahlen kursieren – und was sie darüber aussagen, worüber wir tatsächlich besorgt sein sollten.
Mythos 1: Bei der Europawahl droht ein Rechtsruck
Seit Monaten warnen Medien, Think-Tanks und Politiker:innen davor, dass rechtspopulistische Parteien bei den Wahlen viele Stimmen gewinnen könnten. „Bei der Europawahl droht ein gewaltiger Rechtsruck“, titelte Zeit Online, der European Council on Foreign Relations sieht eine „scharfe Rechtskurve“ kommen und Markus Söder bezeichnete die Wahl als „Schicksalswahl für den gesamten Kontinent“. Europa müsse vor den Populist:innen beschützt werden.
Es stimmt zwar, dass rechtspopulistische Parteien ihre Ergebnisse etwas verbessern werden. Ein „gewaltiger Rechtsruck“ droht jedoch nicht – zumindest nicht in dem Sinne, dass rechte Parteien die Wahlen haushoch gewinnen werden.
Trotzdem könnten sie massiv an Einfluss in Brüssel gewinnen. Ob das gelingt, hängt vor allem von anderen Parteien ab – unter anderem von Markus Söder und seinen Kolleg:innen. Das hat drei Gründe.
Erstens: Der große europäische Rechtsruck ist kein Sintflut-Ereignis, sondern ein Prozess. Er findet seit Jahren statt. Seit 2014 gewinnen rechtspopulistische und rechtsextreme Fraktionen im EU-Parlament stetig an Stimmen und Einfluss. Der vorherige Erfolg bedeutet auch, dass es 2024 „weniger Raum für Wachstum“ gibt, schreibt der Politikwissenschaftler Cas Mudde in einer ausführlichen Analyse.
Zweitens: Der rechte Flügel im EU-Parlament wird stärker – obwohl er nicht mehr Stimmen gewinnt. Denn nicht die Stimmen allein entscheiden darüber, wie viel Einfluss einzelne rechtspopulistische Parteien in Brüssel bekommen, sondern ihr Zusammenschluss in Fraktionen. Viktor Orbáns Fidesz-Partei war trotz ihrer antidemokratischen Ausrichtung lange Zeit Teil der konservativen EVP-Fraktion, der auch die Union angehört. 2021 verließ Orbán die Konservativen, jetzt will er Teil der rechten EKR-Fraktion werden – und könnte ihr so deutlich mehr Gewicht im Parlament verleihen.
Drittens: Darüber, wie rechts Europa wird, entscheidet vor allem die konservative EVP-Fraktion und deren rechter Flügel. Denn erstens übernehmen sie mit ihrer Anti-Migrations- und Anti-Klimaschutzkampagne die Themen der Rechten im Wahlkampf und normalisieren diese so. Zweitens arbeiten viele ihrer Mitglieder bereits in ihren Heimatländern mit Rechtspopulisten zusammen – und hätten damit auch in der EU kein Problem.
Bislang regierte in der EU quasi eine große Koalition aus Konservativen und Sozialdemokraten. Nach der Wahl könnte es erstmals eine Mehrheit für Konservative und Rechtspopulisten geben. Der rechte Flügel der Konservativen wird das nutzen. Sie werden Sozialdemokraten, Liberale und Grüne bei vielen Projekten drohen: Wenn ihr nicht macht, was wir wollen, koalieren wir mit den Rechtspopulisten – und machen eine noch rechtere Politik. Das könnte sich vor allem auf Klimaschutzpolitik auswirken.
Mythos 2: Rechtspopulistische Parteien wollen die EU verlassen oder abschaffen
„Wir möchten, dass die Europäische Union stirbt, damit das wahre Europa leben kann“, sagte AfD-Rechtsextremist Björn Höcke im April dem TV-Sender Welt. Einige Monate zuvor hatte Parteichefin Alice Weidel den Brexit in der Financial Times als „Modell“ für Deutschland bezeichnet. Die AfD steht mit diesen Forderungen ziemlich alleine da – nicht nur in Deutschland, sondern auch in Europa.
Im Unterschied zur AfD haben Le Pen, Orbán, Wilders oder Meloni schon lange nicht mehr vor, die EU zu verlassen. Spätestens seit dem Brexit haben sie verstanden, dass ein EU-Austritt dem eigenen Land bloß schadet. Viktor Orbán sagte erst kürzlich: „Es ist nicht genug, sauer zu sein, wir müssen Brüssel einnehmen“. Er wolle „weiter gehen, Positionen besetzen, Verbündete mobilisieren und die Europäische Union reparieren“.
Seine Strategie steht für eine zentrale Entwicklung der vergangenen Jahre: Rechtspopulisten und Extremisten wollen die EU nicht mehr verlassen oder abschaffen, sondern für ihre Ideologie und Zwecke einnehmen und nutzen.
Das hat ideologische und praktische Gründe.
Die ideologischen Gründe: Linke und Konservative in Europa dachten lange: Rechtsradikale verachten Menschen aus anderen Ländern und sind deshalb gegen die EU. Doch der Politikwissenschaftler Hans Kundnani wies 2023 in einem viel beachteten Essay darauf hin: Europas Rechte sprechen nicht nur im Namen der Nation gegen Europa, sondern auch im Namen einer „Europäischen Zivilisation“ gegen eine vermeintliche Bedrohung von außen. Einfach gesagt: Europa-Nationalismus ist der neue Nationalismus. Die weißen Europäer:innen müssen sich nach Ansicht der Europa-Nationalist:innen gegen einen Ansturm von Geflüchteten verteidigen.
Die praktischen Gründe: Rechtspopulisten haben in den vergangenen Jahren gesehen, wie erfolgreich sie andere Parteien beim Thema Migration vor sich hertreiben konnten – und wie bereit Konservative und Sozialdemokraten sind, rechte Politik zu tolerieren, solange die Rechtspopulisten ihre Ukraine-Politik unterstützen.
Die italienische Ministerpräsidentin Giorgia Meloni hat diese Taktik perfektioniert. Die Neofaschistin gilt Konservativen und Sozialdemokraten aufgrund ihrer Unterstützung der Ukraine als Verbündete – während sie gleichzeitig in Italien das Mediensystem umbaut und die Rechte queerer Menschen einschränkt.
Das neue Drehbuch der Rechten in der EU lautet deshalb: Wer innerhalb der EU zur Ukraine hält, kann Zuhause quasi machen, was er will – und in der EU die Konservativen bei Identitätsfragen, Migrationspolitik und Islam nach rechts drängen.
Gleichzeitig haben die Rechtspopulisten ein weiteres Ziel: Geld. Sie wollen Subventionen ohne Sanktionen. Wenn sie Zuhause gegen das Rechtsstaatlichkeit-Prinzip verstoßen, sanktioniert die EU-Kommission die Länder, hält also zum Beispiel Subventionsgelder zurück. Die Rechtspopulisten wollen das ändern, indem sie ihre Macht in der EU ausbauen und in Zukunft Subventionen einstreichen, ohne sich an die Regeln zu halten.
Mythos 3: Die EU ist ein Menschenrechtsprojekt
2012 erhielt die Europäische Union den Friedensnobelpreis. Die EU und ihre Vorgänger hätten „über mehr als sechs Jahrzehnte zur Förderung von Frieden und Versöhnung, Demokratie und Menschenrechten in Europa beigetragen“, hieß es in der Begründung des Nobelkomitees. Es hagelte berechtigte Kritik, unter anderem weil Frankreich zur Zeit der EU-Gründung Kolonialkriege führte, der Balkan in den 1990ern von mehreren Kriegen erschüttert wurde und die EU Menschenrechte schon damals nur selektiv verteidigte – während sie durch ihre Wirtschaftspolitik zahlreiche Menschen in die Armut trieb und Geflüchtete an den EU-Grenzen unmenschlich behandelte.
Fakt ist aber: Die Gründung der EU markierte den Beginn einer Ära, in der Mitgliedstaaten keinen Krieg gegeneinander führen. Das trug ihr den Ruf ein, ein von Natur aus progressives, liberales oder kosmopolitisches Projekt zu sein.
Doch spätestens seit dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine wandelt sich die EU rasant von einem Wirtschafts- und Menschenrechtsprojekt zu einem Wirtschafts- und Sicherheitsprojekt.
Im März 2022 beschloss die EU, die gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik bis 2030 auszubauen. Seither hat sie über 40.000 ukrainische Soldaten trainiert, Hilfen im Wert von 88 Milliarden Euro beschlossen, gemeinsam Munition gekauft und die erste gemeinsame EU-Militarübung in Spanien durchgeführt. Dort trainierte die neue schnelle Eingreiftruppe der Europäischen Union (EU Rapid Deployment Capacity): 5.000 Soldat:innen, die aus dem EU-Budget finanziert werden. „Wenn wir Frieden wollen, müssen wir uns auf den Krieg vorbereiten“, sagte der Präsident des Europäischen Rates, Charles Michel, kürzlich.
Die EU sucht nach der eigenen Rolle in einer neuen Weltordnung – und Sicherheit ist ihr dabei wichtiger als Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit. Das zeigt sich nicht nur daran, dass Konservative bereit sind, über den Rechtsextremismus von Meloni und Co. hinwegzusehen, solange sie in Sicherheitsfragen kooperieren. Auch die jüngsten Gas-Deals der EU mit Aserbaidschan sind ein Beispiel einer solchen Strategie: Die Gaslieferungen Aserbaidschans in die EU sollten bis 2027 von acht Milliarden Kubikmetern auf bis zu 20 Milliarden Kubikmeter ausgebaut werden – trotz der Vertreibung von Armenier:innen aus Bergkarabach und der Verhaftung kritischer Journalist:innen. Und während Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen gemeinsam mit Diktator Ilham Alijew in Kameras lächelte, verlor sie kein Wort über seine Menschenrechtsverletzungen.
Mythos 4: EU-Bürger:innen haben den Klimaschutz satt
Bauernproteste, Inflationsmüdigkeit, Verbrennerverbot: Überall in Europa haben die Bürger:innen den Klimaschutz satt. So zumindest lautet einer der zentralen Mythen im Vorfeld der EU-Wahl. Zahlreiche Politiker:innen und Medien verbreiten sie. Auch AfD-Rechtsextremist Björn Höcke und CDU-Politiker Mario Voigt behaupteten das bei ihrem TV-Duell am 11. April. Beide inszenierten sich als Anwälte einer von der EU gegängelten Bevölkerung, die Klimaschutzpolitik satt habe.
Die Erzählung klingt plausibel. Aber sie ist irreführend.
Der Politikwissenschaftler Markus Kollberg von der Humboldt-Universität Berlin hat gemeinsam mit drei Kollegen jeweils 5.000 Menschen in Deutschland, Frankreich und Polen zu ihren Einstellungen und Meinungen über Klimakrise und Klimaschutz befragt. Das Ergebnis fasst er am Telefon so zusammen: „Den großen Anti-Klima-Backlash sehen wir in unseren Daten nicht.“
Die Daten ihrer Studie zeigen: Eine Mehrheit der Menschen macht sich Sorgen um die Klimakrise und findet, die Politik sollte mehr tun, um die Klimakrise zu bekämpfen – allerdings unter bestimmten Bedingungen.
Während Subventionen und grüne Industriepolitik – also Investitionen in öffentliche Verkehrsmittel oder das Stromnetz – besonders beliebt sind, sehen viele Befragte höhere CO2-Preise und Verbote skeptisch. Mit Ausnahme eines Privatjetverbots.
Wie jemand zum Klimaschutz steht, hängt stark davon ab, welche Partei er oder sie gut findet. Anhänger:innen progressiver Parteien befürworten fast alle Klimaschutzmaßnahmen. AfD-Wähler:innen lehnen fast alle Klimaschutzmaßnahmen ab – mit Ausnahme von Investitionen in Infrastruktur, also zum Beispiel in Bahnlinien oder Busse.
Klimaschutz wird also immer mehr zu einer ideologischen Frage.
„Ein Teil der Gesellschaft hat sich vom Klimaschutz abgewendet – und je stärker die AfD wird, desto mehr verfestigt sich diese Spaltung“, sagt Markus Kollberg. Das Problem sei, dass andere Parteien deren Positionen übernehmen, um Wähler:innen zurück zu gewinnen – auch wenn das laut Studien vermutlich nicht funktioniert und obwohl die gesellschaftliche Mitte mehr Klimaschutz wolle.
Mythos 5: Migration ist die größte Herausforderung für die EU
Mehr als eine Million Menschen haben 2023 einen Asylantrag in der EU gestellt. Nach jahrelangem Streit haben sich die Mitgliedstaaten im April 2024 auf eine restriktive Asyl-Reform geeinigt und 28 Prozent aller EU-Bürger:innen halten Migration für die derzeit größte Herausforderung der EU. Zahlreiche Parteien und Politiker:innen haben das Thema deshalb zum Mittelpunkt ihrer Wahlkampagne gemacht.
Dabei übersehen sie etwas. Wirklich entscheidend für die Zukunft der EU ist nicht, wie viele Menschen über das Mittelmeer flüchten oder welche Migrations-Deals die EU aushandelt. Viel relevanter ist das Ergebnis der US-Präsidentschaftswahlen im November.
Sollte Donald Trump die Wahl gewinnen, wird sich für die EU fast alles ändern. Die Nato wäre als Verteidigungsbündnis erheblich geschwächt und Europa auf sich selbst gestellt. Die USA würden die Unterstützung für die Ukraine vermutlich einstellen. Sollte Russland dann den Krieg gewinnen, würde das ganz Europa unsicherer machen – besonders, wenn Nato-Mitgliedstaaten nicht mehr darauf vertrauen können, dass die USA sie im Falle eines Angriffes unterstützen. Angriffe auf EU-Länder wie die baltischen Staaten wären dann realistischer, genau wie mehr Fluchtbewegungen, die Russland in Richtung EU lenkt.
Außerdem hat Trump angekündigt, in einer zweiten Amtszeit einen Mindestzoll von zehn Prozent für Importe zu erheben, um die US-Wirtschaft zu schützen. Das würde die EU-Wirtschaft erheblich schwächen, laut dem Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung könnte die Maßnahme allein Deutschland rund 150 Milliarden Euro kosten.
In anderen Worten: Wäre ich die EU und Donald Trump würde erneut US-Präsident werden, ich wäre zutiefst besorgt.
Redaktion: Isolde Ruhdorfer, Schlussredaktion: Lars Lindauer, Bildredaktion: Philipp Sipos, Audioversion: Christian Melchert