Manchmal sorgen erfundene Zahlen für echte Debatten.
Anfang des Jahres kursierte die Zahl von 315 Millionen Euro, die Deutschland angeblich für Radwege und Busse in Peru ausgebe. Die Zahl war falsch und wurde von einem AfD-Abgeordneten und dem Magazin Focus in Umlauf gebracht. Das Entwicklungsministerium stellte die falsche Zahl richtig, Medien hielten mit Faktenchecks dagegen. Aber sie konnten die Debatte nicht mehr stoppen.
Die Wahrheit ist komplizierter als es Focus und die AfD darstellen wollten: Das Entwicklungsministerium unterstützt mit Zuschüssen von insgesamt 44 Millionen Euro den Bau von Radwegen in Peru. Außerdem stellt das Ministerium insgesamt 155 Millionen Euro für ein Bussystem per Kredit zur Verfügung, das Geld wird also zurückgezahlt.
Für viele geht es aber um eine grundlegende Frage: Ist es richtig, Radwege am anderen Ende der Welt zu finanzieren, wenn die eigene Regierung Sparprogramme auflegen muss? Denn selbst 44 Millionen Euro Zuschuss für Radwege halten manche Deutsche für zu viel.
„Deutschland sollte zuerst dafür sorgen, dass die Menschen im eigenen Land nicht in Armut leben“, schrieb mir ein KR-Mitglied während der Recherche für diesen Text und brachte damit auf den Punkt, was die Mehrheit der Deutschen für richtig hält: Wenn gespart werden muss, dann erst einmal bei der Entwicklungshilfe.
Es gibt aber auch Gegenstimmen. „Globalen Krisen globale Lösungen entgegenzusetzen, hilft uns allen“, schreibt zum Beispiel Antonia Baskakov von der Organisation ONE in der Fachzeitschrift „Internationale Politik“. Und nachdem die Bundesregierung den Entwicklungsetat massiv kürzte, warnte die Organisation „Brot für die Welt“: „Die globalen Herausforderungen, zunehmende Konflikte und die Folgen des Klimawandels erfordern nicht weniger, sondern mehr internationale Zusammenarbeit.“
Wenn die Folgen des Klimawandels abgemildert werden, wenn weniger Menschen flüchten müssen, oder arme Länder wohlhabender werden, dann profitiert auch Deutschland von Entwicklungshilfe – so die Annahme. So ähnlich sagten es mir auch Hunderte KR-Leser:innen, die ich für diesen Artikel befragt habe. Schließlich ist die Welt so vernetzt wie nie zuvor: Was auf der anderen Seite des Globus passiert, kann Auswirkungen auf unser Leben haben.
Was stimmt also? Was bringt Entwicklungshilfe eigentlich? Und wem nützt sie wirklich?
Ironischerweise sind diejenigen, die sich über Radwege in Peru aufregen, die eigentlichen Idealist:innen, weil sie das Wort „Entwicklungshilfe“ wörtlich nehmen. Dabei geht es bei dieser Praktik weder um Entwicklung noch um Hilfe. Es geht um deutsche Interessen.
Was Entwicklungsleistungen bringen: …vielleicht nichts?
Die simple Frage, was Entwicklungspolitik eigentlich bringt, lässt sich nicht einfach beantworten. Politiker:innen, Wissenschaftler:innen und Mitarbeiter:innen von NGOs streiten seit Jahrzehnten darüber, welche Auswirkungen Hilfsleistungen auf das Wirtschaftswachstum der Empfängerländer haben. Die Ergebnisse sind durchwachsen. Je nach Studie ergibt sich, dass Hilfsleistungen nutzen, schaden oder gar nichts bringen. Die Daten sagen also: Es gibt wahrscheinlich gar keinen Zusammenhang zwischen Wirtschaftswachstum und Hilfsleistungen.
In einem bestimmten Bereich ist aber ziemlich klar, dass Entwicklungsleistungen nicht die gewünschten Effekte bringen: Migration. Immer wieder betonen Politiker:innen, sie wollten „Fluchtursachen bekämpfen“, also die Situation in armen oder unsicheren Ländern so verbessern, dass weniger Menschen nach Europa flüchten. Studien zeigen: Das funktioniert so nicht. In einer aktuellen Studie des Kiel Instituts für Weltwirtschaft heißt es: „Entwicklungshilfe ist weitgehend ineffektiv bei der Reduzierung irregulärer Migration.“ In Ländern von Subsahara-Afrika sei diese Art der Entwicklungsleistungen sogar „unwirksam und senkt die Zahl der Asylsuchenden gar nicht.“
Diese Untersuchungen betrachten die Effekte von Entwicklungspolitik auf einer großen Ebene. Im Kleinen muss die deutsche Entwicklungspolitik – im Gegensatz zu anderen Bereichen in der Politik – ständig Ergebnisse vorweisen. Vereinfacht gesagt muss das Verkehrsministerium nicht begründen, warum es eine Existenzberechtigung hat – das Ministerium für Entwicklung und Zusammenarbeit aber schon. Deshalb finanziert es sogar ein ganzes Institut, das „Deutsche Evaluierungsinstitut für Entwicklungszusammenarbeit“ (Deval). Dieses Institut untersucht und bewertet deutsche Entwicklungsprojekte.
Es ist sinnvoll, die Arbeit eines Ministeriums zu überprüfen. Mit wissenschaftlichen Studien kann das Institut abschätzen, was einzelne Projekte gebracht haben – und das Ministerium kann unter Umständen beim nächsten Mal in ein besseres Projekt investieren.
Das Problem ist, dass es bei Entwicklungsprojekten nicht immer ein einfaches Ursache-Wirkung-Prinzip gibt. In der Theorie reicht es, eine Schule zu bauen, damit Kinder eine bessere Bildung erhalten und später in besser bezahlten Jobs arbeiten. In der Praxis ist es schwer, mit einzelnen Projekten messbare und nachhaltige Ergebnisse zu erzielen. Eine neue Schule in einem Dorf führt nicht dazu, dass ein paar Jahre später weniger Menschen in diesem Dorf arm sind.
Paradoxerweise kann gerade dieser Rechtfertigungsdruck dazu führen, dass Entwicklungsprojekte auf Messbarkeit getrimmt werden – und nicht auf Sinnhaftigkeit. Ein Evaluator von Entwicklungsprojekten, der anonym bleiben will, hat mir folgendes Beispiel erzählt: Ein Projekt im Senegal sollte dafür sorgen, dass Fachkräfte eher Arbeit finden (und nicht nach Deutschland migrieren). Deshalb bot die „Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit“ (GIZ) ein „Bewerbungstraining“ an, das möglichst viele Personen in möglichst kurzer Zeit durchlaufen sollten. Auf diese Weise ist es möglich, schon nach wenigen Jahren Ergebnisse zu präsentieren, nämlich die Zahl der Teilnehmenden. Ein „Bewerbungstraining“ allein bringt den Leuten aber wenig, wenn sie keine gute Schulbildung haben oder wenn es generell wenig freie Stellen auf dem Arbeitsmarkt gibt.
An dieser Stelle ist mir wichtig zu sagen: Nicht alle Entwicklungsprojekte sind falsch. Viele Menschen, die in diesem Bereich arbeiten, sind sich dieser Probleme bewusst. Einige Organisationen geben sich große Mühe, nachhaltige Projekte zu organisieren. Und gerade bei humanitärer Hilfe, also zum Beispiel einer Rettungsaktion nach einem Umweltkatastrophe, ist die Notwendigkeit ziemlich eindeutig, schließlich geht es darum, Menschenleben zu retten.
Doch bei vielen Projekten, die deutsche Ministerien in Auftrag geben oder finanzieren, ist die Wirkung eben nicht so klar. 2021 gab Deutschland mehr als 33 Milliarden Euro für Entwicklungsleistungen aus und war damit das weltweit zweitgrößte Geberland. Deshalb ist es gerechtfertigt, zu fragen: wozu eigentlich?
Was ist überhaupt „Entwicklung“? Es ist schwer, das universell festzulegen
Ob „Entwicklungshilfe“ den Empfängerländern wirklich „hilft“, ist also fraglich. Genauso zweifelhaft ist das Wort „Entwicklung“. Kritik an diesem Konzept gibt es schon seit Jahrzehnten. Weil Entwicklung nicht linear und eindimensional ist, weil westliche Länder vorgeben, was ein „entwickeltes Land“ sein soll und weil der Lebensstil „entwickelter Länder“ eine Katastrophe für das Klima ist.
Aber ist es nicht grundsätzlich gut, wenn etwa weniger Menschen hungern? Das habe ich Aram Ziai gefragt, Professor für Entwicklungspolitik und Postkoloniale Studien an der Uni Kassel. Er sagt: „Auf jeden Fall, beim Thema Hunger ist man sich da relativ schnell einig.“ Aber generell sei es schwer, universell festzulegen, was eine positive Entwicklung ist. In der Entwicklungszusammenarbeit könne „Entwicklung“ für alles Mögliche stehen: für Ernährungssicherheit, aber zum Beispiel auch für Wirtschaftswachstum. „Und das eine hängt nicht mit dem anderen zusammen.“
Es gebe Fälle, in denen in Jahren einer Rekordernte Hungersnöte aufgetreten seien, zum Beispiel 1943 in der indischen Region Bengalen. „Ausschlaggebend ist, ob die Leute genug Geld haben, sich diese Nahrungsmittel zu kaufen“, sagt Ziai. Und bei niedrigen Löhnen könnten sich Hungernde die Nahrung schlicht nicht leisten. „Das Problem liegt nicht bei der angeblich zu geringen Nahrungsmittelproduktion, sondern bei der ungleichen Verteilung von Land und Einkommen.“ Die werde aber in der Entwicklungszusammenarbeit meist nicht thematisiert.
Entwicklungsprojekte, die für bessere Ernten sorgen, können zwar an bestimmten Stellen sinnvoll sein – sie lösen aber die Grundprobleme nicht, unter denen viele Länder der Welt leiden. Diese hängen aus Ziais Sicht mit nationalen und internationalen Machtverhältnissen zusammen. Zwar fließt im Rahmen der Entwicklungspolitik Geld aus dem Globalen Norden in den Globalen Süden. Doch noch viel mehr Geld fließt in die andere Richtung, also aus dem Globalen Süden in den Globalen Norden. Dafür sind laut Ziai vor allem drei Punkte verantwortlich:
- Irreguläre Finanzflüsse: Geld, das Eliten in Ländern des Globalen Südens mit Korruption oder organisierter Kriminalität erwirtschaften und z. B. auf einem Schweizer Bankkonto lagern.
- Schulden: Viele arme Länder stecken in einer Schuldenkrise. Anstatt in das eigene Land zu investieren, müssen sie Schulden und Zinsen an reichere Länder zurückzahlen, oft ein Vielfaches von dem, was sie geliehen haben.
- Repatriierung von Gewinnen: Große Unternehmen investieren zwar in arme Länder, indem sie zum Beispiel eine Fabrik bauen. Die Gewinne fließen aber zurück in ohnehin schon reiche Länder, zum Firmensitz oder zu den Anteilseignern an der Börse.
Ziai findet deshalb: „Entwicklungszusammenarbeit kann auch als Ablenkungsmanöver gesehen werden; ein Feigenblatt für eine ungleiche Weltwirtschaft.“
Es kann sogar schaden, wenn sich Entwicklungs- und Geopolitik vermischen
In der Umfrage für diesen Artikel haben mir mehr als 400 Menschen erzählt, was sie von Entwicklungsprojekten halten. Die meisten finden Entwicklungsleistungen positiv – viele sehen bei Deutschland sogar eine moralische Verantwortung. KR-Mitglied Dija schreibt: „Der Globale Norden hat sich jahrhundertelang am Globalen Süden bereichert, die Rohstoffe geplündert, die Menschen versklavt.“ Hilfszahlungen seien eine „Wiedergutmachung“. Und KR-Mitglied Marc findet: „Trotz aller Unkenrufe ist Deutschland immer noch ein reiches Land und damit in der moralischen und ethischen Pflicht, andere Länder zu unterstützen.“
Politiker:innen betrachten dieses Thema aber nicht so moralisch wie viele KR-Mitglieder. Die niederländische Denkfabrik ECDPM hat vertraulich mit 14 hohen EU-Beamt:innen gesprochen und sie gefragt, wie sich die internationale Zusammenarbeit verändert hat. Die eindeutige Antwort: Sie orientiert sich stärker an den eigenen Interessen. Dabei gebe es „zunehmende Spannungen“ zu den früher erklärten Werten wie Armutsbekämpfung oder Friedenssicherung.
Diese eigenen Interessen sind vielfältig. Es geht darum, Migration zu verhindern (auch wenn wir inzwischen wissen, dass das nichts bringt). Es geht darum, den Einfluss Chinas zu begrenzen. Und es geht darum, „Stimmen zu kaufen“, also Empfängerländer dazu zu bringen, in internationalen Gremien für die eigenen Ziele zu stimmen.
Manchmal vermischen sich Entwicklungs- und Geopolitik. Das wird vor allem beim Thema Ukraine deutlich, zivile Hilfen für die Ukraine zählen nämlich als Entwicklungszusammenarbeit. 2022 flossen fast 18 Milliarden US-Dollar von OECD-Ländern an die Ukraine. Das geopolitische Eigeninteresse liegt hier auf der Hand. Die Vermischung von Entwicklungs- und Geopolitik hat auch historische Gründe. Entwicklungspolitik entstand in der Zeit des Kalten Krieges und diente vor allem dazu, die frisch unabhängig gewordenen Länder an den eigenen Block zu binden. Diese Logik scheint nie vollständig verschwunden zu sein.
Die Analystin Themrise Khan hat einen kritischen Kommentar über die Vermischung von Entwicklungs- und Geopolitik geschrieben. Die breite Öffentlichkeit, inklusive der Länder des Globalen Südens, gehe davon aus, dass es bei der Hilfe darum gehe, Gutes zu tun. Doch Hilfsinstitutionen seien zu „politischen Institutionen“ geworden, die sich den Zugang zu Ressourcen sichern wollten. Zum Beispiel habe sich Kanada mit seinen Hilfsprogrammen viele Jahre auf die Mongolei konzentriert, wobei es in Wahrheit nicht darum gegangen sei, Armut zu reduzieren, sondern Rohstoffe wie Kohle, Gold oder Kupfer zu fördern.
Eine Konsequenz ist Khan zufolge, dass Regierungen aus dem Globalen Süden immer misstrauischer gegenüber zivilgesellschaftlichen Organisationen werden – und sie deshalb gewaltsam schließen oder ihre Rechte einschränken. „Diese repressiven Versuche zielten in erster Linie auf den Entwicklungssektor ab.“ Es sei eine „Gegenreaktion auf die westliche Außenpolitik.“
Wer die eigentlichen Ziele der Entwicklungspolitik begreift, ist weniger enttäuscht
Wer Entwicklungspolitik so begreift – als eine Politik, die in erster Linie deutsche Interessen vertritt und nicht etwa Armut verringern will – misst also auch die Ergebnisse mit anderen Maßstäben. Dann geht es nämlich nicht nur um Wirtschaftswachstum oder weniger hungernde Menschen.
In der öffentlichen Debatte würde es wahrscheinlich helfen, wenn diese Ziele klarer herauskommen. Wer wirklich denkt, dass es darum geht, Ländern bei ihrer Entwicklung zu helfen, kritisiert natürlich Radwege in Peru. Wer aber die eigentlichen Ziele der Entwicklungspolitik begreift, erwartet weniger schnell messbare Effekte von einzelnen Projekten.
Bei den Radwegen in Peru geht es einerseits um Klimaschutz, von dem auch Deutschland profitiert, wie Umweltministerin Svenja Schulze immer wieder betonte. Was sie nicht sagte, worum es aber wahrscheinlich auch geht: um deutsche Präsenz in Lateinamerika, um die Konkurrenz zu China, das in der Region massiv in Infrastruktur investiert. Und es geht um ein gutes Verhältnis zur peruanischen Politik, die sich dann eher nicht mit autoritären Regimen verbündet und in internationalen Gremien wahrscheinlicher mit Deutschland stimmt.
Zu Deutschlands Charme-Offensive gehört auch, dass das Entwicklungsministerium im Juli 2023 ein „neues Kapitel in der Zusammenarbeit mit Lateinamerika“ ankündigte, wenige Monate zuvor reiste Bundeskanzler Olaf Scholz in mehrere rohstoffreiche Länder Südamerikas. „Sicherlich nicht ganz ohne den Hintergedanken, bei den Rohstoffen selbst dann auch besser beliefert zu werden“, schreibt die Tagesschau.
Die Radwege in der peruanischen Hauptstadt Lima werden übrigens gerade gebaut. Unter einem Facebook-Post des Bürgermeisters von Lima häufen sich die positiven Kommentare über die Radwege. Es versteht sie auch, wer nur wenig Spanisch spricht: „Muy bien“, steht da zum Beispiel, also „sehr gut“. Ein anderer schreibt: „Buenissimooo“ und „Gracias Alemania“. Die Bewohner:innen von Lima kriegen von der Debatte in Deutschland nicht so viel mit. Sie freuen sich einfach nur über die neuen Radwege.
Redaktion: Rico Grimm, Schlussredaktion: Lea Schönborn, Bildredaktion: Philipp Sipos, Audioversion: Christian Melchert