Frau Emcke, die Lage im Israel-Palästina-Konflikt und in der Ukraine ist dramatisch, bei den Europa- und Landtagswahlen steht ein Rechtsruck bevor – und im November könnte Donald Trump erneut US-Präsident werden. Über die Klimakrise haben wir noch gar nicht gesprochen. Was macht Ihnen aktuell Hoffnung?
Hoffnung ist etwas, das man sich erarbeiten muss. Wenn man rumsitzt und auf gute Nachrichten wartet, dann hat man die Möglichkeit, selbst tätig zu werden, schon versäumt. Insofern beschäftigt mich weniger die Frage: „Was macht mir Hoffnung?“; sondern: „Was kann ich tun, damit ich Hoffnung habe?“. Da würde ich sagen: Wir sehen in den letzten Wochen, aber auch in den letzten Jahren eine ganze Reihe von Bewegungen, Gesten und Engagements, die Hoffnung machen, weil sich Menschen engagieren. Ich glaube, dass wir darüber viel zu wenig sprechen.
Über welche Bewegungen sprechen wir viel zu wenig?
Wir haben in Deutschland seit 2015 immer wieder gesehen, wie sehr es in der Zivilgesellschaft eine Bereitschaft gibt, sich für andere zu engagieren. Wir haben im Sommer der Migration erlebt, wie Menschen aller sozialen, kulturellen und politischen Milieus Geflüchteten helfen wollten. Wir haben in der Pandemie erlebt, wie Menschen es einleuchtend fanden, sich aus Rücksichtnahme und Fürsorge einzuschränken und zu Hause zu bleiben. Wir haben es bei Russlands Überfall auf die Ukraine wieder erlebt: Einerseits bei der Aufnahme von ukrainischen Geflüchteten. Andererseits daran, dass es eine große Bereitschaft gab, darüber nachzudenken, wie man es schafft, mit dieser Krisensituation umzugehen – und das trotz Deutschlands Abhängigkeit von russischem Gas.
Es gibt in der deutschen Gesellschaft eine enorme Großherzigkeit und Hilfsbereitschaft, aber im politischen Diskurs dominieren rechtsradikale Positionen. Es gibt eine asymmetrische Repräsentation. Die politische und mediale Sphäre schaut ungeheuer ängstlich auf all das, was Rechtspopulist:innen als „Zumutung“ deuten – anstatt zu sehen, dass es eine ausgesprochen große Bereitschaft zur Solidarität für das Gemeinwesen gibt.
Sind wir als Gesellschaft also gar nicht so polarisiert und gespalten, wie wir oft glauben?
Es gibt einen sehr viel größeren, breiteren und stabileren demokratischen Konsens, als wir oft gezeigt bekommen. Ich habe den Eindruck, dass diese These der polarisierten Gesellschaft immer dann eingesetzt wird, wenn progressive Positionen heruntergedeckelt werden sollen. Wenn marginalisierte Gruppen ihre eigenen Rechte einklagen wollen, dann wird vor einer Spaltung gewarnt.
Ich würde sagen: Wenn es darum geht, eine liberale, offene Demokratie zu verteidigen, dann braucht es auch eine bestimmte Spaltung. Nämlich eine Spaltung, die die autoritären, rassistischen, antisemitischen Positionen raushält. Dafür ist das Grundgesetz da. Es zieht die normativen Grenzen. Die Würde des Menschen; die Gleichwertigkeit der Menschen, die nicht gleichartig sein müssen – wer das nicht anerkennt, bewegt sich außerhalb des Grundgesetzes.
Die Proteste der vergangenen Wochen haben gezeigt, dass es einen breiten Konsens in der Gesellschaft darüber gibt, Rechtsextremismus auszuschließen. Trotzdem wirkt es so, als ob der Rechtsextremismus den politischen Kurs im Land bestimme. Wie können wir lernen, wieder selbst unsere Zukunft zu gestalten?
Wir müssen uns wieder darin üben, utopisch zu denken. Wir haben es verlernt, in politischen und sozialen Sehnsüchten zu denken. Wir müssen üben, uns wieder das vorzustellen, was es noch nicht gibt; was wir noch gestalten können. Wir müssen in Handlungsmöglichkeiten denken. Das setzt den Gebrauch bestimmter Fähigkeiten voraus, die wir zu wenig nutzen: Es braucht Fantasie. Und Fantasie ist wie ein Muskel, utopisches Denken ist wie ein Muskel. Wenn wir ihn nicht benutzen, wird er zu schwach.
Carolin Emcke
Sie ist Philosophin, Autorin und Podcasterin, studierte Philosophie in London, Frankfurt am Main und Harvard und berichtete als Reporterin aus Kriegs- und Krisengebieten weltweit. Heute schreibt sie eine Kolumne für die Süddeutsche Zeitung, ist Podcast-Host bei „In aller Ruhe“, moderiert an der Berliner Schaubühne das Diskussionsformat „Streitraum“ und publiziert Bücher, unter anderem „Gegen den Hass“, „Wie wir begehren“ und „Weil es sagbar ist“. 2016 erhielt sie den Friedenspreis des deutschen Buchhandels. Am 28. Februar 2024 ist ihr neues Buch „Was wahr ist: Über Gewalt und Klima“ im Wallstein-Verlag erschienen.
Ist die Voraussetzung dafür nicht, dass wir uns als mündige Bürger:innen und als lebendiger Teil unserer Demokratie verstehen?
Ganz genau. Eine Demokratie ist kein fertiges Ding – sondern ein unabgeschlossenes Projekt, das sich permanent erweitern und vertiefen muss. Eine Demokratie ist nichts, was wir besitzen, sondern etwas, woran wir arbeiten. Wenn wir die Demokratie nur als eine gegebene Ordnung verstehen, lädt uns das nicht ein, uns selbst als notwendig aktiven Teil dieser Ordnung zu sehen.
Wie kommt es, dass wir dieses demokratische Selbstverständnis und diesen Fantasie-Muskel aktuell überhaupt wieder trainieren müssen?
Seit 1989 gab es die Vorstellung, jetzt sei utopisches Denken erledigt und die Systemfrage beantwortet – der Westen und der Kapitalismus hätten triumphiert. Das hat uns die Möglichkeit genommen, darüber nachzudenken, wie wir leben wollen – und entsprechend tätig zu werden. Im Klima- und Menschenrechtsaktivismus geschieht dieses Nachdenken. Aber mein Eindruck ist, dass es noch tiefer in die Gesellschaft hineinreichen muss. Ich verstehe es als meine Aufgabe als Philosophin und Autorin, dafür eine Sprache zu finden, dafür Begriffe und Erzählungen zu entwickeln – auch, um den Aktivismus vor der Kriminalisierung und Dämonisierung zu wappnen, mit der der Staat auf diese Bewegungen reagiert. Dem muss man widersprechen.
Haben Sie dieses Selbstverständnis erst in letzter Zeit entwickelt?
Ich gehöre zu der Generation, die mitschuldig an der Klimakatastrophe ist. Ich habe immer den Fokus auf Menschenrechts- und Gewaltfragen gelegt – und ich habe mich viel zu spät der Klimakrise gewidmet. Das hat sicherlich auch damit zu tun, dass ich großen Respekt habe vor dem, was man da alles wissen und sich anlesen muss. Da einfach herein zu grätschen, fand ich unseriös. Deshalb habe ich die letzten fünf bis zehn Jahre sehr viel gelesen. Ich hatte das Gefühl: Das muss ich nachholen, das ist meine Pflicht, das ist die große Frage der Gegenwart. Ich bin auch zur Forschungsstation Ny-Ålesund in die Antarktis gereist. Für mich war das eine lebensverändernde Reise. Danach war nichts mehr so wie vorher.
Was hat Ihnen dort die Dringlichkeit der Klimakrise vor Augen geführt?
Erst einmal diese Landschaft – unberührt vom menschlichen Zerstörungswahn. Zum anderen haben mir internationale Klimaforscher:innen aus den unterschiedlichsten Disziplinen – von Glaziolog:innen über Meeresbiolog:innen – vor Ort in ihren jeweiligen Feldern erklärt, wie fatal die Veränderungen sind. Das Eindrücklichste war, die Verzweiflung derer zu spüren, die genau verstehen, was die Klimakrise bedeutet. Ihre Verzweiflung über unser Unverständnis, über unser Nicht-Handeln war für mich transformierend. Ich wusste, ich muss mich dem anders stellen. Ich habe auch nochmal eine ganze Menge philosophischer Theorie gelesen und natürlich die Demonstrationen von Fridays for Future mitverfolgt. Ich bin auch in Lützerath gewesen. Mich beeindrucken die Aktivist:innen sehr.
Wir haben jetzt viel darüber gesprochen, wie sehr wie uns die Fähigkeit zu utopischem Denken wieder antrainieren müssen. Müssen wir über die Klimawende dann auch weniger als Katastrophe sprechen und mehr als Möglichkeit zur positiven Veränderung?
Beim Nachdenken über die Klimakrise können wir uns grundsätzlich in zwei Richtungen bewegen. Wir können rückwärts erzählen – also davon, was diese Zerstörung angerichtet hat, wie sie entstanden ist und wer verantwortlich ist. Gleichzeitig können wir aber auch vorwärts erzählen – davon, was noch nicht ist. Das ist zum Teil das, was viele der Klimaforscher:innen in ihren Disziplinen tun. Sie liefern uns Modellierungen, wie sich Temperaturerhöhungen entwickeln, oder zu welchen Entwicklungen das Unterlassen von Klimaschutzmaßnahmen führen kann.
Aber die Bereitschaft der Gesellschaft und der Politik, auf die Klimakrise zu reagieren, steht und fällt meiner Ansicht nach mit der Frage, ob wir immer in diesen dystopischen Szenarien denken: Was für Gefahren, Verwüstungen, Zerstörungen unsere Lebensgrundlage und uns bedrohen. Oder ob wir in utopischen Szenarien denken – darin, was wir retten und gewinnen können. Schaffen wir es, die notwendigen Veränderungen mit positiven Sehnsüchten, mit Hoffnungen, mit Bildern zu verbinden, die man wollen kann? Wir müssen die nötigen Veränderungen als solche beschreiben, die mit dem guten Leben zu tun haben.
Wie sieht das für Sie aus?
Ich glaube, ich kann das an einem Best-Practice-Beispiel festmachen. Das Aufatmen, das ich erlebe, wenn ich heute nach Paris komme, ist unglaublich. In den vergangenen fünf Jahren hat die Bürgermeisterin Anne Hidalgo gegen große Proteste durchgesetzt, dass Paris eine fußgängerfreundliche und fahrradfreundliche Stadt wird. Das körperliche Empfinden, wenn ich jetzt durch die Stadt gehe, ist eines, das mich nachträglich spüren lässt, wie belastend und eingeschränkend vorher auch nur 200 Meter zu Fuß in Paris waren. Es ist ein ungeheurer Gewinn an Lebensqualität.
Zum guten Leben gehören aber auch eine ganze Reihe von unter Menschenrechtsfragen sortierten Punkten. Man kann nicht über Klimafragen nachdenken, ohne über Demokratie- und Menschenrechtsfragen nachzudenken. Fossiles Wirtschaften belastet nicht nur die Natur – sondern zerstört auch die Lebensgrundlagen und Körper von Menschen. Besonders im globalen Süden. Auch das gehört für mich zum gerechten Leben hinzu: Es gibt kein gutes Leben in ungerechten globalen Verhältnissen.
Redaktion: Rebecca Kelber, Schlussredaktion: Astrid Probst, Bildredaktion: Philipp Sipos; Audioversion: Iris Hochberger und Christian Melchert.