18. Februar 2024, Schnellroda in Sachsen-Anhalt: Das rechtsextreme Institut für Staatspolitik (IfS) lädt zur Winterakademie. Beim letzten Podium des Tages debattiert Institutsleiter Götz Kubitschek mit den AfD-Politikern Björn Höcke und Hans-Christoph Bernd über die „Lage der nationalen Opposition“ – so sieht sich die AfD selbst.
Die deutschlandweiten Proteste gegen Rechtsextremismus seien „Angriffe auf unsere Freiheiten“, sagt Bernd, Vorsitzender der AfD-Landtagsfraktion in Brandenburg. Es sei nicht zu garantieren, dass die Anwesenden im nächsten Jahr noch „unbescholten und frei“ herumlaufen können. Höcke nickt andächtig. Es folgen: DDR-Vergleiche, Appelle an den Parteinachwuchs, schrille Lageanalysen und Angriffe auf politische Gegner und die Regierung.
Deutschlands Neue Rechte hat Angst.
Seit Bekanntwerden des rechtsextremen Vernetzungstreffen in Potsdam protestieren bundesweit Hunderttausende gegen die Partei und ihre Gesinnung. Das Bundesinnenministerium kündigte 13 Maßnahmen gegen Rechtsextremismus an. Und ein Gericht entschied, dass der Parteinachwuchs, die Junge Alternative, vom Bundesamt für Verfassungsschutz als gesichert extremistische Bestrebung eingestuft und beobachtet werden darf. Jetzt droht der nächste Rückschlag. Am 12. und 13. März entscheidet das Oberverwaltungsgericht Münster, ob der Verfassungsschutz die Gesamtpartei als rechtsextremen „Verdachtsfall“ führen darf. Wenn das Gericht das bestätigt, könnte es bald zu einer Hochstufung der AfD als gesichert extremistische Bestrebung kommen – eine Grundlage für ein mögliches Parteiverbotsverfahren.
Unter diesem Druck ändert die AfD gerade ihre Strategie: Früher versuchte die Partei, die Beobachtung durch den Verfassungsschutz zu verhindern. Sie wollte sich bürgerlich und harmlos geben, das aber funktionierte nicht. Deswegen fängt sie nun an, gegen die Institution der Staatschützer selbst zu kämpfen.
Die AfD greift dabei berechtigte Kritik am Verfassungsschutz auf. Das hat Erfolg – und ist Teil einer Strategie, die zunächst widersprüchlich klingt: Je offensiver die Partei den Verfassungsschutz angreift, desto schwieriger wird es, sie zu verbieten.
Warum darf der Verfassungsschutz Menschen ausforschen, die sich an alle Gesetze halten?
Nach Ende des Zweiten Weltkrieges wollten die Alliierten aus Deutschland eine „wehrhafte Demokratie“ machen: Umsturz-Fantasien von Faschisten und Kommunisten sollten frühzeitig gestoppt werden. Deshalb setzten sie sich 1950 dafür ein, dass die junge Bundesrepublik einen Verfassungsschutz bekommt. Dessen Auftrag: Informationen über alle „Bestrebungen“ zu sammeln, die gegen die „freiheitliche demokratische Grundordnung“ gerichtet sind – und die Regierung darüber zu unterrichten.
Die Alliierten wussten damals, wie gefährlich ein politischer Geheimdienst sein kann, der gegen Regierungsgegner:innen vorgeht – die Erinnerungen an die politischen Morde der Geheimen Staatspolizei (Gestapo) der Nazis waren noch frisch. Deshalb sollte der deutsche Verfassungsschutz keine „Exekutivbefugnisse“ bekommen. Das heißt, die Agent:innen dürfen die Bevölkerung politisch durchleuchten, aber niemanden verhaften. Dafür ist in Deutschland die Polizei zuständig. Doch abgesehen von den „Exekutivbefugnissen“ hat der Verfassungsschutz Befugnisse, die weit über die der Polizei hinausgehen: Er darf auch dann gegen die eigene Bevölkerung vorgehen, wenn sie keine Straftaten begehen, sondern bloß die „falschen“ Magazine lesen oder Veranstaltungen besuchen. Das gibt es sonst in keiner anderen liberalen Demokratie.
Heute beschäftigt das Bundesamt für Verfassungsschutz knapp 4.000 Menschen, bei den 16 Landesämtern kommen noch einmal rund 3.700 Agent:innen dazu. Sie beobachten mutmaßliche Islamisten, Rechtsextreme, Linksextreme, Verschwörungstheoretiker:innen, die Reichsbürgerszene – und Teile der AfD. Das Problem ist aber: Es gibt keine allgemeingültige Definition von Extremismus. Welche Menschen und Vereinigungen als Gefahr für die Demokratie gelten, hängt davon ab, wen man fragt – und wer im Verfassungsschutz das Sagen hat.
Das Bundesamt für Verfassungsschutz ist der Regierung unterstellt
Das Bundesamt für Verfassungsschutz untersteht dem Bundesinnenministerium und ist an die Weisungen der jeweiligen Regierung gebunden. Das heißt: Innenministerin Nancy Faeser (SPD) könnte Verfassungsschutzpräsident Thomas Haldenwang jederzeit in den einstweiligen Ruhestand versetzen und durch eine Vertraute ersetzen. Die wiederum könnte die Behörde entsprechend den Vorstellungen ihrer Chefin ausrichten – und Bewegungen beobachten lassen, die vorher nicht als extremistisch galten. Auch sonst ist die Behörde eng mit der Regierung verflochten.
Will der Verfassungsschutz jemanden abhören oder überwachen, muss er das bei der sogenannten G-10-Kommission beantragen. Das ist eine Gruppe von zehn Menschen, die sich einmal pro Monat trifft, größtenteils aus ehemaligen Abgeordneten besteht und mit niemandem über ihre Entscheidungen sprechen darf. Die meisten Mitglieder gehören den Regierungsparteien an und werden in jeder Legislaturperiode vom Parlamentarischen Kontrollgremium berufen. Das Parlamentarische Kontrollgremium wiederum besteht aktuell aus 12 aktiven Bundestagsabgeordneten. Es hat die Aufgabe, die Arbeit der Nachrichtendienste zu kontrollieren – wird aber ebenfalls von den Regierungsparteien dominiert.
Der Verfassungsschutz ist also keine neutrale Behörde. Er untersteht den Weisungen der jeweiligen Regierungen und beobachtet in der Regel kaum Menschen oder Vereinigungen, die der Regierung ideologisch nahestehen.
Diese Nähe zur Regierung zieht Kritik auf sich. Die Grünen forderten als Oppositionspartei immer wieder den Umbau der Behörde. Petra Pau von den Linken sagte der Deutschen Welle über jahrelange Beobachtung von führenden Linken-Politiker:innen: „Hier wurde der Inlandsgeheimdienst für die politische Auseinandersetzung instrumentalisiert.“
Denn wenn der Verfassungsschutz Menschen oder Bewegungen als politisch problematisch einordnet, hat das für Betroffene weitreichende Folgen: Eine solche Einstufung kann die Verbeamtung verhindern, Organisationen werden in der Regel nicht mehr als gemeinnützig anerkannt. Besonderen Einfluss hat der Verfassungsschutz im öffentlichen Diskurs: Medien greifen die Einordnung auf und berichten darüber. Und schon die bloße Registrierung von Kontakten einer als extremistisch eingestuften Person kann laut Bundesverfassungsgericht „eine abschreckende Wirkung entfalten“. Die „hiermit verbundene Stigmatisierung“ könne Menschen davon abhalten, sich mit bestimmten Positionen überhaupt auseinanderzusetzen.
Der Autor und Journalist Ronen Steinke vergleicht die Einstufung von Politiker:innen und Parteien als extremistisch deshalb mit Warnhinweisen auf Zigarettenschachteln: „Achtung, wer diese Partei wählt, gefährdet unsere Demokratie.“ Das kann Menschen von ihrer Wahl oder ihrem Engagement abhalten. Und schließlich können die Informationen, die der Verfassungsschutz sammelt, in einem Parteiverbotsverfahren genutzt werden.
Ansatzpunkte für Kritik an einem Geheimdienst, der der Regierung unterstellt ist, gibt es also viele. Wahr ist aber auch: Betroffene können in Deutschland von unabhängigen Gerichten nachprüfen lassen, ob der Verfassungsschutz wirklich ausreichend Anhaltspunkte für bestimmte Maßnahmen gegen sie hat. Genau das prüft die AfD vor dem Oberverwaltungsgericht Münster – und greift die Behörde radikal an.
Die AfD-Strategie: Radikale Offenheit und Skandal-Umkehr
Früher versuchte die AfD, eine Beobachtung durch den Verfassungsschutz abzuwenden. Als diese 2018 erstmals im Raum stand, warnte die AfD-Fraktion im Bundestag vor einem „Riesenproblem“ und gründete eine „Arbeitsgruppe Verfassungsschutz“ – ironischerweise unter Vorsitz von Roland Hartwig, der auch beim Potsdamer Treffen anwesend war. Man wollte sich angeblich mäßigen: Rechtsextreme Begriffe wie „Umvolkung“, „Überfremdung“, oder „Volkstod“ sollten fortan nicht mehr verwendet werden, da sie als mögliche Belege für eine Beobachtung dienen könnten. Radikale Figuren wie Andreas Kalbitz oder Andre Poggenburg mussten die Partei verlassen, der völkisch-nationalistische Flügel löste sich offiziell auf und Vordenker Götz Kubitschek forderte die eigene „Selbstverharmlosung“.
Doch die AfD ist heute eine andere Partei als 2018. Die radikalen Kräfte um Björn Höcke haben die Partei inzwischen im Griff – und sie wollen sich nicht mehr verstecken oder zurückhalten. Stattdessen greift die Partei die Staatsschützer selbst an.
In Schnellroda, beim rechtsextremen Institut für Staatspolitik behauptet Kubitschek in einem Vortrag, die Ampel-Regierung sei quasi ein autoritärer Staat, der durch „staats- und damit zwangsfinanzierte Medien“, Inlandsgeheimdienste und „eine staatsfinanzierte Zivilgesellschaft“ gegen die AfD vorgehe. „Wie weit unsere Gegner gehen werden, wissen wir nicht, aber wir sollten auf vieles vorbereitet sein“, heißt es in der schriftlichen Version seines Auftritts.
Kubitschek tut so, als sei der Erfolg der AfD der wahre Grund für die Beobachtung durch den Verfassungsschutz – und nicht die rechtsextremen Inhalte, für die sie wirbt. Er ist damit nicht allein. Der AfD-Bundestagsabgeordnete Stephan Brandner nennt den Verfassungsschutz „ein Regierenden-Schutz in Deutschland, ein Oppositions-Unterdrückungsinstrument“. Parteichefin Alice Weidel sagt, der Verfassungsschutz sei eine „pseudo-neutrale Behörde“ und selbst „Verfassungsfeind“. Und der AfD Landesverband Sachsen-Anhalt will die Behörde am liebsten gleich abschaffen.
Der Politikberater Johannes Hillje nennt diese Kommunikationsstrategie „Skandal-Umkehr“: Aus dem eigentlichen Skandal – den rechtsextremen und rassistischen Umtrieben von zahlreichen Parteimitgliedern – soll ein anderer Skandal gemacht werden, in dem eine angeblich autoritäre Regierung den Geheimdienst missbraucht, um die Opposition aus dem Weg zu schaffen.
Gleichzeitig kommuniziert das AfD-Umfeld immer selbstbewusster ihre extremen Inhalte. Die Partei fordere „den Erhalt der ethnokulturellen Identität des deutschen Volkes“ und begreife „den deutschen Staat als Rahmen und Schutzraum für dieses Volk“, sagt Götz Kubitschek in Schnellroda. Natürlich wolle man „Remigration“. Die Message ist eindeutig: Seht her, wir sprechen ganz offen über unsere Ziele – der eigentliche Skandal ist die Regierung, die uns als Opposition stumm stellen will.
Mehr Aufmerksamkeit auf Tiktok sorgt für weniger Wirkung in der Öffentlichkeit
Mit dieser Strategie versucht die AfD, das Bundesamt für Verfassungsschutz als Institution abzuwerten und dessen Glaubwürdigkeit zu beschädigen. Dafür greift sie berechtigte Kritik am Geheimdienst auf und übertreibt sie, verpackt sie in Social-Media-Videos und verbreitet sie auf allen Kanälen. Aus einer kritikwürdigen Behörde, die der Regierung unterstellt ist, wird plötzlich ein „Verfassungsfeind“ oder ein „Oppositions-Unterdrückungsinstrument“ und die AfD – laut Alice Weidel auf Tiktok – „zur politisch Verfolgten“.
Das Ziel dieser Strategie: Je mehr Menschen die Behörde als Instrument der Regierung sehen oder deren Einstufung zumindest anzweifeln oder ignorieren, desto weniger Wirkung in der Öffentlichkeit hat ihr Urteil. Zu Hilfe kommt der Partei dabei, dass die Deutschen dem Verfassungsschutz schon lange misstrauen – und dass es laut ARD Deutschlandtrend zwei Drittel aller AfD-Wähler:innen egal ist, dass die Partei „in Teilen als rechtsextrem gilt, solange sie die richtigen Themen anspricht“.
Wenn eine Einstufung als „gesichert extremistisch“ aber kaum noch eine Wirkung in der Öffentlichkeit hat und die AfD nicht merklich schwächen würde, dann sichert sie sich auch gegen die größtmögliche juristische Konsequenz einer solchen Einstufung ab: ein Parteiverbotsverfahren. Es kann von Bundestag, Bundesrat oder der Bundesregierung angestrengt werden, braucht aber natürlich auch Rückhalt in der Bevölkerung. Wenn die anderen Parteien den nicht sehen, zögern sie. Denn sie wissen, dass ein solches Verfahren Jahre dauern könnte – und der AfD die perfekte Bühne bieten würde, sich weiter als Opfer einer „DDR 2.0“ zu inszenieren. Es würde die These des starken Staates, der gegen die Opposition vorgeht, bestätigen – und damit möglicherweise noch mehr Wähler:innen zu ihr treiben.
Die AfD zwingt die anderen Parteien durch ihre Angriffe auf die Behörde also in ein Dilemma: Je länger sie mit einem Verbotsverfahren warten, desto größer und erfolgreicher kann die AfD werden. Aber je größer und erfolgreicher die AfD ist, desto schwieriger dürfte es politisch werden, ein Verbotsverfahren anzustrengen – weil immer weniger Leute an den Verfassungsschutz und andere Institutionen unseres Rechtsstaats glauben.
Redaktion: Rico Grimm, Schlussredaktion: Lars Lindauer, Fotoredaktion: Philipp Sipos, Audioversion: Christian Melchert