Collage: Ein Mann streckt seine Zunge raus, sie besteht aus Geldscheinen.

ajr_images/Getty Images |  Daniel Olah, Ibrahim Boran/Unsplash

Politik und Macht

Jeder ist seines Glückes Schmied? So ein Quatsch!

Falsche Vorstellungen wie diese machen vor allem eins: die Reichen reicher.

Profilbild von Sebastian Klein
Freier Redakteur

Im Januar 2024 steht der Finanzminister Christian Lindner im Wintermantel auf einer Bühne und kneift die Augen zu. Er ist auf einer Großdemonstration von Landwirt:innen, die er davon überzeugen will, dass er auf ihrer Seite steht. Dafür bedient er sich eines perfiden Glaubenssatzes.

Er nennt die Landwirt:innen den fleißigen Mittelstand – wohl im Gegensatz zu vermeintlich faulen Arbeitslosen. So sagt er: „Wir dürfen es nicht länger tolerieren, wenn Menschen sich weigern, für ihr Geld zu arbeiten.“

Damit greift er indirekt auf einen Glaubenssatz zurück, den jede:r kennt. Wer arm ist, ist faul und deshalb selbst daran schuld. Solche Erzählungen tragen zu einem der größten Skandale unserer Zeit bei: Es gibt kaum ein reiches Land, in dem das Vermögen so ungleich verteilt ist wie Deutschland. Die zwei reichsten Familien besitzen mehr als die ärmere Hälfte der Bevölkerung.

Mehr zum Thema

Diesem Skandal gehen meine Kollegin Rebecca Kelber und ich in unserer neuen Artikelserie nach. Das hier ist Teil 2, in dem ich mich einer wichtigen Erklärung dafür widme, dass nicht mehr Menschen über die Ungleichheit empört sind: gesellschaftlich tief verankerten Glaubenssätze.

Denn wie viel Ungleichheit in einer Gesellschaft als angemessen gesehen wird, hängt auch von der Ideologie ab, die in ihr verbreitet ist. Und damit davon, welche Glaubenssätze die Mehrheit verinnerlicht hat. Sie können erstmal harmlos klingen und uns trotzdem als Gesellschaft schädigen, wie die drei Beispiele aus diesem Text zeigen.

Was sind Glaubenssätze?

In jeder Gesellschaft gibt es geteilte Annahmen, die sich viele von uns früh im Leben einprägen und die sich dann unhinterfragt weitertragen. Diese Glaubenssätze können ein in sich schlüssiges System bilden. Dann ist es besonders schwer, sie in Zweifel zu ziehen. Das gilt auch für die drei, um die es in diesem Artikel gehen soll: „Jeder ist seines Glückes Schmied“, „Über Geld spricht man nicht“ und „Steuern sind schlecht“.

Man muss einen Glaubenssatz nicht explizit aussprechen, um ihn weiterzugeben. Es reicht etwa, andere nicht nach ihrem Einkommen oder ihrer Vermögenssituation zu fragen, um dazu beizutragen, dass Geld ein Tabuthema bleibt.

„Jeder ist seines Glückes Schmied“

„Ihr Glück nehmen die Deutschen am liebsten selbst in die Hand“, verkündete das Sinus-Institut 2019. Dort stimmten 67 Prozent bei einer Umfrage der Aussage zu, jeder sei seines Glückes Schmied.

Für die Ungleichheitsforscherin Martyna Linartas ist dieser Glaubenssatz eine der wirksamsten Erzählungen, die die Ungleichheit stabilisieren.

Er steht dafür, dass mein „Glück“ als Individuum etwas ist, das losgelöst vom Rest der Welt stattfindet. Ich nehme es mir einfach, im Zweifelsfall auch auf Kosten anderer. Und bei diesem Prozess ist jede:r für sich selbst verantwortlich. Das setzt einen starken Fokus auf das Individuum und auf die Suche nach individuellen Glück durch Selbstverwirklichung. Der Erfolg einer Person hängt allein davon ab, wie sehr sie sich anstrengt.

Das wertet Menschen ab, die staatliche Unterstützung brauchen: Sie haben sich einfach nicht genug angestrengt oder wollen andere für sich arbeiten lassen. Deshalb kann es auch so etwas wie den fleißigen Mittelstand geben, der andere, faule Gruppen, die eben nichts aus sich gemacht haben, durchfüttern muss. Mein individuelles Streben nach Glück verwandelt sich also in einen Kampf gegeneinander.

Dabei hat in unserer Gesellschaft der individuelle Erfolg eines Menschen vor allem mit seinen Startbedingungen zu tun: Wer ohne Sprachkenntnisse ins Land kommt, wessen Bildungsabschlüsse nicht anerkannt werden und wer jahrelang keine Arbeitserlaubnis bekommt, kann sich kaum selbst verwirklichen. Ganz egal, wie sehr er oder sie es will.

Genauso landen viele Menschen in Altersarmut, nicht, weil sie ein Leben lang gefaulenzt haben. Sondern weil sie zum Beispiel durch das Ehegattensplitting vom Staat den Anreiz bekommen haben, auf Berufstätigkeit zu verzichten oder in Minijobs zu arbeiten. Solche strukturellen Probleme dem Individuum in die Schuhe zu schieben, macht wirklich nur Sinn, wenn man mit solchen Erzählungen ein ungerechtes System stützen will.

Auch beim Bürgergeld deckt sich das Bild, das Christian Lindner zeichnen will, nicht mit der Realität: Von den 5,5 Millionen Menschen, die 2023 Bürgergeld bezogen, waren gerade mal 1,6 Millionen Menschen tatsächlich erwerbsfähig und arbeitslos. Die restlichen vier Millionen bestehen aus in Armut lebenden Kindern, chronisch Kranken oder Menschen mit Behinderung. Dazu kommen noch Menschen, die aufgrund von Pflegeverantwortung nicht arbeiten können und Aufstocker:innen, deren Einkommen nicht zum Leben reicht.

„Über Geld spricht man nicht!“

Den Satz kennen die meisten von uns, und er klingt irgendwie harmlos und plausibel. Was die wenigsten wissen: Der Ausspruch stammt von John Paul Getty. Getty war seinerzeit der reichste Mann der Welt und hat sein Vermögen mit Erdöl gemacht. Er war außerdem berüchtigt für seinen Geiz und seine Kaltherzigkeit.

Die ging so weit, dass er sich weigerte, Lösegeld für seinen 16-jährigen Enkel zu bezahlen, der 1973 von der ’Ndrangheta, also der kalabrischen Mafia, entführt worden war.

Erst als man dem Enkel ein Ohr abgeschnitten hatte, bezahlte Getty, handelte die Lösegeldsumme aber von 17 auf 2,8 Mio. herunter und forderte diese später, samt Zinsen, von seinem Enkel zurück.

Der entführte Enkel erbte später Milliarden, aber die Entführung, während der er über fünf Monate lang festgehalten und misshandelt worden war, zeichnete ihn den Rest seines Lebens: Er starb mit 54 Jahren, von denen er 30 nach einer Heroinüberdosis im Rollstuhl und gelähmt verbracht hatte.

Es hat also ausgerechnet jemand beschlossen, dass es besser sei, nicht über Geld zu sprechen, der so davon besessen war, dass er es nicht mal ausgeben wollte, um seinen eigenen Enkel zu retten.

Nicht, dass sich so jede:r verhalten würde, der diesen Glaubenssatz verinnerlicht hat. Aber wenn eine Gesellschaft überein kommt, nicht über Geld zu reden, dann ist das vor allem für die Reichsten praktisch: So bekommt schließlich niemand mit, wie viel Vermögen sie angehäuft haben – und wo es eigentlich herkommt.

So lassen sich einige der größten deutschen Vermögen, etwa der BMW-Erb:innen, direkt darauf zurückführen, dass ihre Vorfahren eng mit dem NS-Regime verbandelt waren. Das beschreibt David de Jong in seinem Buch „Braunes Erbe“.

Wenn nicht über Geld gesprochen wird, kriegt auch niemand mit, wenn Männer für die gleichen Jobs im gleichen Unternehmen besser bezahlt werden als Frauen. Und es erschwert den Zugang zu dem Wissen, wie man sein Geld sinnvoll anlegt.

Nicht über Geld zu sprechen bedeutet auch, wichtige Fragen nicht zu stellen: ob es beispielsweise fair und gut für die Gesellschaft als Ganzes ist, wenn einige Personen im Geld schwimmen, während über zwei Millionen Kinder armutsgefährdet sind.

„Wir müssen über Geld reden“ wäre daher eine zeitgemäße Alternative, um den alten Glaubenssatz „Über Geld spricht man nicht“ zu überschreiben.

„Steuern sind eine Last“

Hierzu gibt es keinen knackigen Merksatz, den alle von uns kennen. Und doch handelt es sich um eine Erzählung, den wir alle auf die eine oder andere Art mitbekommen und tief verinnerlicht haben.

Wie geläufig und akzeptiert Steuerbetrug ist, fällt mir immer wieder auf, wenn ich ein teureres Restaurant besuche: Dort wird jede:r nach dem Essen gefragt, ob er oder sie einen Bewirtungsbeleg benötige, auch wenn es sich ganz offensichtlich um ein Familienessen handelt. Ein privates Abendessen als betriebliche Ausgabe geltend zu machen, ist nichts anderes als Steuerhinterziehung. Und doch ist es für viele Menschen die normalste Sache der Welt und der Bewirtungsbeleg wird nicht etwa in einem unbeobachteten Moment unter dem Tresen durchgereicht, sondern ganz selbstverständlich übergeben.

Das passiert nicht nur dort: Steuerberater:innen und gut bezahlte Steueranwälte helfen jedem, der es sich leisten kann, Steuern zu „optimieren“ (also zu vermeiden). Laut Schätzungen der University of London fehlen der deutschen Staatskasse durch Steuerhinterziehung über 100 Milliarden Euro pro Jahr, hinzu kommen legale Steuervermeidung durch Individuen und Unternehmen.

Steuerhinterziehung wird dabei selten als das kritisiert, was es ist: eine Weigerung, den eigenen Möglichkeiten entsprechend zum Gemeinwesen beizutragen.

Wir alle lernen Steuern als etwas rein lästiges kennen, und das spiegelt sich an vielen Stellen in unserem Sprachgebrauch. So sprechen wir von der „Steuerlast“ und dem „Schlupfloch“ oder der „Oase“, in die man vor ihr fliehen kann.

Wir leben in einer Zeit, in der 40 Jahre neoliberale Politik ihre Spuren hinterlassen haben: Die meisten Menschen verbinden mit dem Staat nicht das Gemeinwesen, das uns alle trägt, sondern ein bürokratisches Monster, das die freie Entfaltung des Marktes und der Individuen behindert. Er muss in diesem Denken möglichst zurückgedrängt werden, sodass private Akteure es besser machen können.

Dieses Denken spielt vor allem denen in die Hände, die von einem schwachen Staat profitieren: sehr reiche Menschen, große Unternehmen und generell die, die über die Mittel verfügen, sich alles mit Geld zu kaufen, was sonst Aufgabe des Staates wäre.

Natürlich ist der Staat auch oft ineffizient und zu bürokratisch, aber er ist auch die einzige Institution, die bestimmte Aufgaben übernehmen kann, ohne dabei auf den Profit schauen zu müssen.

Der Staat ist dafür da, gleiche Lebenschancen für alle sicherzustellen. Je weniger Macht er hat, und je mehr Macht in den Händen von Oligarchen und profitorientierten Unternehmen liegt, desto schlechter das Leben für die große Mehrheit. Deshalb ist der Glaubenssatz, laut dem Steuern eine Last sind, die es zu vermeiden gilt, wirklich gefährlich und kontraproduktiv.

Steuern sind unser Beitrag zum Gemeinwesen. Daraus werden die Dinge finanziert, die uns allen gemeinsam gehören: Schulen, Straßen, Parks und Krankenhäuser. Aber auch wichtige Grundlagenforschung, ohne die es heute kein Internet, kein iPhone und keine Covid-Impfstoffe geben würde. Der Staat ist damit auch eine Voraussetzung für modernes Wirtschaften. Dass es das gibt, ist eine Errungenschaft der Geschichte, viele Menschen vor uns haben für so ein Gemeinwesen, das von allen finanziert wird, gekämpft.

Die Landwirt:innen konnte Lindner übrigens nicht davon überzeugen, dass er wirklich auf ihrer Seite steht, obwohl er sich dieser Erzählungen bediente. Sie buhten ihn aus, die gesamten 20 Minuten, die er sprach.


Redaktion: Rebecca Kelber, Schlussredaktion: Rico Grimm, Bildredaktion: Philipp Sipos, Audioversion: Iris Hochberger

Jeder ist seines Glückes Schmied? So ein Quatsch!

0:00 0:00

Einfach unterwegs hören mit der KR-Audio-App