Ein altes Ehepaar blickt in die Kamera. Sie tragen beide einen Rollkragenpullover.

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Politik und Macht

Interview: „Unsere Aktionen waren manchmal illegal, aber gerechtfertigt“

Gemeinsam jagten Serge und Beate Klarsfeld ihr Leben lang hochrangige Nazis. Was, wenn unsere Demos gegen rechts nicht reichen? Ein bedrückender Besuch in Paris.

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Reporter für Macht und Demokratie

Am 11. Mai 1960 lernten Serge und Beate Klarsfeld sich an einem Bahnsteig in Paris kennen. Sie Deutsche, er Franzose. Ihre Eltern hatten die NSDAP gewählt, sein Vater wurde in Auschwitz ermordet. Sie verliebten sich ineinander – und widmeten ihr Leben dem Kampf gegen Antisemitismus und Rechtsextremismus. Die beiden organisierten zahlreiche Kampagnen gegen ehemalige Nazis. Die berühmteste: Beate Klarsfeld ohrfeigte 1968 Bundeskanzler Kurt Georg Kiesinger. Was können wir von ihnen im Kampf gegen Rechtsextremismus lernen? Um das herauszufinden, habe ich sie in Paris besucht.

Am 16. Februar 2024 öffnet Beate Klarsfeld die Tür ihres Büros in der Rue La Boétie. Drei Tage zuvor ist sie 85 Jahre alt geworden. Claudia Roth hat einen Brief geschickt, gefeiert wurde aber nicht. Die Gesundheit, sagt sie und zuckt mit den Schultern. Dann bittet sie in das Arbeitszimmer. Ein Schreibtisch voller Akten füllt den Raum, an den Wänden hängen Gemälde, Zeitungsartikel und Fotos von über fünf Jahrzehnten politischem Engagement – und ein Lageplan des Konzentrationslagers Auschwitz-Birkenau.

Die Klarsfelds tragen beide Rollkragenpullover, er in schwarz, sie in grau. Beate spricht schnell, in Assoziationsketten. Serge redet langsamer, die Weltlage besorgt ihn. Am Tag des Gesprächs macht die Meldung von Alexej Nawalnys Tod die Runde. Immer wieder klingelt das Telefon, Journalist:innen und Freund:innen rufen an.

Sie haben ihr ganzes Leben dem Kampf gegen Rechtsextremismus gewidmet. Um untergetauchte Nazi-Verbrecher aufzuspüren und gegen deren Straflosigkeit zu protestieren, sind Sie unter anderem nach Bolivien und Syrien gereist, waren mehrfach im Gefängnis, wurden bespuckt und verprügelt und beinahe durch eine Briefbombe getötet. Jetzt, rund 80 Jahre nach der Shoah, gewinnt eine in großen Teilen rechtsextreme Partei wieder Wahlen in Deutschland. Wie fühlt sich das für Sie an?

Beate: Schon als Alexander Gauland 2018 sagte, die Jahre 1933 bis 1945 seien nur ein „Vogelschiss“ in der Geschichte Deutschlands gewesen, habe ich einen Strafantrag gegen ihn gestellt. Leider wurde er nicht angenommen. Die aktuellen Proteste wurden durch die Enthüllungen zu der Konferenz in Potsdam ausgelöst. Aber ich frage mich: Warum wurde nicht schon vorher protestiert?

Das Auftreten von Rechtsextremisten hat sich in den letzten Jahrzehnten verändert. Ihre Ideologie dagegen kaum. Sie hat seit dem Ende der NS-Zeit weiter ihren Platz in Deutschland. Haben wir das als Gesellschaft übersehen oder verdrängt?

Beate: Ich habe erst etwas über den Holocaust gelernt, als ich 1960 als Au-pair nach Paris kam. Der Krieg war verloren, die Eltern mussten ackern und Steine klopfen. Damals hatten die Deutschen nicht das Gefühl, dass sie sich schuldig fühlen müssen, die eigene Verantwortung wurde verdrängt. Ich habe das Gefühl, dass das jetzt wieder ähnlich ist. Dass sich dieses Gedankengut wieder ausbreiten konnte, liegt wahrscheinlich daran, dass man nicht früh genug angefangen hat, es einzudämmen.

Es wurde nicht früh genug gegen die AfD vorgegangen?

Beate: Wir haben uns in den 1960er Jahren der NPD in den Weg gestellt. Das waren fürchterliche Demonstrationen, wir wurden geschlagen. Aber wir haben es geschafft: 1969 ist sie nicht in den Bundestag eingezogen. Das war wundervoll. Wir haben damals verstanden: Die Reaktion auf Rechtsextremismus muss sofort kommen.

In Deutschland sind in den letzten Wochen Hunderttausende gegen Rechtsextremismus auf die Straße gegangen. Welchen Ratschlag würden Sie diesen Menschen geben: Was für Taten müssen auf die Demos folgen?

Serge: Die aktuelle Reaktion der Bevölkerung ist wichtig. Aber ohne Struktur oder Anführer versandet das. Niemand, keine Partei und kein Politiker, übernimmt bisher die Führung beim Kampf gegen den neuen Extremismus.

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„Es brauchte diese Ohrfeige, um die Leute aufrütteln“

Serge Klarsfeld wird am 17. September 1935 geboren. Als die Deutschen in Frankreich einmarschieren, flieht seine Familie – wie tausende andere Juden – in die unbesetzte Zone. Doch die Deutschen marschieren auch in den Süden ein. Am 30. September 1943 führt die Gestapo eine Razzia im Haus der Klarsfelds durch. Arno Klarsfeld, Serges Vater, versteckt seine beiden Kinder und seine Frau hinter einer dünnen Trennwand in einem Schrank. Er selbst öffnet der Gestapo die Tür – aus Angst, dass die Deutschen sonst die ganze Wohnung durchsuchen und die gesamte Familie verhaften. Serge, acht Jahre alt, hört aus dem Schrank, wie sie seinen Vater mitnehmen. Kurz darauf deportieren die Deutschen ihn nach Auschwitz.

Serge, als Ihr Vater in Auschwitz ankam, schlug ihn einer der Kapos. Ihr Vater schlug zurück. Sie sprechen sehr häufig über diesen Schlag. Was hat er für Ihr Leben bedeutet?

Serge Klarsfeld sitzt in seinem Schreibtischstuhl und blickt in die Kamera. Er trägt eine Hornbrille. In Hintergrund erkennt man Fotos an der Wand.

Serge: Die Regel in Auschwitz war: Leise bleiben, um zu überleben. Mein Vater hätte vielleicht überlebt, wenn er anders reagiert hätte. Deshalb bereue ich diesen Schlag. Ich hätte ihn gern an meiner Seite gehabt. Aber er war in der französischen Armee, in der Résistance, er hatte gegen die Nazis gekämpft – und dementsprechend reagierte er auch in Auschwitz. Das war seine Persönlichkeit.

Und das Opfer, das er gebracht hat – nicht zu uns in den Wandschrank zu kommen, sondern der Gestapo die Tür zu öffnen – war für mich immer ein Vorbild.

Beate Klarsfeld wird am 13. Februar 1939 in Berlin geboren. Sie wächst in den Trümmern des Zweiten Weltkriegs auf, ohne dass ihr jemand erklärt, warum. Kurz nach ihrem 21. Geburtstag macht sie sich auf den Weg nach Paris. Dort arbeitet sie zunächst als Au-pair, später als Sekretärin beim Deutsch-Französischen Jugendwerk.

Sie lernten sich am 11. Mai 1960 in Paris kennen. Das war der Tag, an dem der israelische Geheimdienst Adolf Eichmann – einen der Hauptverantwortlichen für die Vernichtung der europäischen Juden – in Buenos Aires entführte. Auf einer Parkbank erzählte Serge, dass er Jude ist und sein Vater in Auschwitz ermordet wurde. Beate, Sie wussten damals nichts über den Holocaust. Was hat das mit Ihnen gemacht?

Beate: In meiner Schulzeit wurde nicht über den Holocaust gesprochen. Ich hatte das Glück, dass Serge und seine Freunde mir alles erzählten. Einige von denen fanden es nicht gut, dass er ein deutsches Mädchen kennengelernt hatte. Aber ich habe dann versucht, viel zu lesen und Filme zu sehen, um mich zu informieren. Dann wurde Kurt Georg Kiesinger Bundeskanzler. Ich habe mich gefragt: Wie ist es möglich, dass Deutschland nach so kurzer Zeit einen Nazi-Propagandisten zum Kanzler macht? Der hatte eine hohe Funktion, er wusste, was in den Lagern passierte. Das war für mich unverständlich. Ich wusste: Als Deutsche muss ich mich engagieren – durch konkretes Handeln.

Nachdem Beate Klarsfeld wiederholt Artikel über die Nazi-Vergangenheit von Kanzler Kurt Georg Kiesinger (CDU) veröffentlicht, verliert sie ihren Job. Fortan kümmert sie sich ganz um ihr politisches Engagement, während Serge zunächst für eine Getreidehandelsfirma arbeitet. Gemeinsam recherchieren sie zur Nazi-Vergangenheit Kiesingers. Sie sammeln Dokumente und Akten und stellen Broschüren zusammen. Im Frühjahr 1968 verspricht Beate auf einem Studierenden-Kongress in Berlin, Kiesinger zu ohrfeigen. Am 7. November löst sie ihr Versprechen ein.

Beate, nachdem Sie 1968 den damaligen CDU-Kanzler Kurt Georg Kiesinger öffentlich ohrfeigten, schreiben Sie ein Gedicht: „Die Ohrfeige, die Deutschland brauchte.“ Warum brauchte es sie?

Beate: Es brauchte diese Ohrfeige, um die Leute aufrütteln. Es gab keine andere Möglichkeit. Das war symbolisch für die deutsche Jugend: Die Tochter schlägt den Nazi-Vater. Später haben viele junge Deutsche bereut, dass sie nichts getan haben – ich habe mich aufgelehnt.

Beate Klarsfeld wurde in einem beschleunigten Verfahren zu einem Jahr Gefängnis verurteilt. Da sie mittlerweile auch die französische Staatsangehörigkeit besaß, musste sie die Haftstrafe jedoch nicht antreten. Sie legte Berufung ein und nutzte den Prozess, um ihre Recherchen zu Kiesingers NS-Vergangenheit der Öffentlichkeit zu präsentieren.

Sie haben danach zahlreiche NS-Verbrecher auf aller Welt verfolgt und vor Gericht gebracht. Wie kam es dazu?

Beate: 1970 sollte der FDP-Politiker Ernst Achenbach – der die Judendeportationen aus Frankreich mitorganisiert hat – Europakommissar werden. Uns war sofort klar: Wir müssen etwas tun. Dann haben wir erfahren, dass keiner der Verantwortlichen für die Deportationen aus Frankreich im Gefängnis war. Sie wurden in Frankreich in Abwesenheit verurteilt, lebten aber in Deutschland in Freiheit. Wir haben es dann als unsere Aufgabe gesehen, diese NS-Verbrecher vor Gericht zu bringen. Dafür haben wir eine enorme Dokumentation zusammengestellt und immer wieder demonstriert. Wir wurden festgenommen und wieder freigelassen. Aber es hat gewirkt. Die Prozesse wurden weltweit bekannt und die deutsche Gesellschaft informiert.

Sie haben immer wieder Gewalt erlebt. Jemand versuchte, sie mit einer Briefbombe zu töten. Später zerstörte eine andere Bombe ihr Auto. Serge lief bei einer Versammlung der Deutschen Volksunion in einem Saal mit 800 Nazis mit einem Davidstern auf dem Arm auf die Bühne und wurde anschließend verprügelt. Hatten Sie keine Angst vor der Gewalt, die Ihnen angetan wurde?

Beate Klarsfeld blickt in die Kamera. Sie sitzt auf einem Stuhl und trägt einen kleinen Hund auf dem Schoß.

Beate: Als ich Kiesinger ohrfeigte, habe ich mein Leben riskiert. Der wurde ja streng bewacht. Aber das war wichtig. Es war eine Arbeit, die gemacht werden musste. Ich glaube, für meine Schwiegermutter war es am schwierigsten. Sie hat uns unterstützt und auf die Kinder aufgepasst, wenn wir unterwegs waren. Aber unsere Familie hat uns die notwendige Kraft und den Rückhalt gegeben.

Serge: Wir haben uns vor 63 Jahren kennengelernt. Die Beziehung war immer gut. Das Rezept: Unsere Familie, unsere Kinder, unsere Haustiere – und Action! Das war unser Leben.

1971 versuchten die Klarsfelds, den ehemaligen Gestapo-Chef Kurt Lischka aus Köln zu entführen und nach Frankreich zu bringen, wo er bereits verurteilt war. Der Versuch scheiterte, sie begannen eine jahrelange Kampagne. Am Ende hatten sie rund tausend Nachkommen von Deportierten um sich geschart – und brachten schließlich 1979 neben Lischka auch die NS-Verbrecher Ernst Heinrichsohn und Herbert Hagen im Kölner Prozess vor Gericht. Am Tag des Urteils zogen die Klarsfelds mit tausenden Juden durch die Stadt. „So viele Juden hatten die Deutschen dort seit der Reichskristallnacht nicht mehr gesehen“, sagt Beate.

In diesen Jahren verfolgten sie auch zahlreiche weitere NS-Verbrecher in aller Welt und protestierten in Diktaturen wie Chile, Tschechien oder Iran gegen Menschenrechtsverletzungen und Antisemitismus. Den als besonders grausam bekannten ehemaligen Gestapo-Chef von Lyon, Klaus Barbie, spürten sie in Bolivien auf. Ein Entführungsversuch scheiterte. Jahre später erreichten sie, dass er nach Frankreich ausgeliefert und dort vor Gericht gestellt wurde. Gleichzeitig begann Serge, die Namen sämtlicher aus Frankreich deportierter Jüd:innen zu recherchieren und ihre Geschichten zu rekonstruieren. „Ihre Schicksale und Namen waren unbekannt, sie sollten unsichtbar gemacht werden“, sagt er. „Jetzt sind sie sichtbar, es ist wichtig, sie nicht zu vergessen.“

„Kinderchen, wenn Ungerechtigkeiten geschehen, engagiert euch sofort!“

Sie haben aufgrund Ihres Engagements Ihren Job verloren, hatten weniger Geld, weniger Essen, und mussten in eine kleinere Wohnung ziehen: Gab es Momente des Zweifels?

Beate: Nein, wir hatten immer Menschen, die uns geholfen und unterstützt haben. Wenn man eine Sache beginnt, will man sie zu Ende bringen. Wir haben nie aufgegeben, haben immer versucht, alle möglichen Aktionen durchzuführen. Das ist etwas Wunderbares, so etwas zu erleben.

Dieser Kampf hat sich also gelohnt?

Beate: Aber selbstverständlich! Der Kölner Prozess wäre ohne unsere Arbeit vermutlich nicht zustande gekommen. Wir haben auch manches nicht erreicht, zum Beispiel die Auslieferung Alois Brunners – einer der Hauptverantwortlichen für die Deportationen aus Frankreich – aus Syrien. Aber wir haben immerhin geschafft, dass er 2002 in Paris in Abwesenheit verurteilt wurde. Wir haben auch Josef Mengele verfolgt. Wir wussten, dass sein Sohn in Berlin lebte und mit einem falschen Reisepass nach Brasilien reiste. Aber die Staatsanwaltschaft wollte nichts unternehmen.

Bei Mengeles Sohn sind Sie eingebrochen, um nach Hinweisen auf den Verbleib seines Vaters zu suchen. Wie viel Frechheit braucht es im Kampf gegen Rechtsextremismus?

Beate: Das ist keine Frechheit. Es gibt ja gute Gründe, so etwas zu machen. Wir hatten eine Freundin, die die Post von Mengeles Sohn aus seinem Briefkasten gefischt hat und auch mal in seine Wohnung gekommen ist. Unsere Aktionen waren manchmal illegal, aber gerechtfertigt. Wir wollten ja keinen Mord begehen.

Ich sage manchmal zu jungen Leuten: Ich kann meine Zeit nicht mit eurer Zeit vergleichen, heute gibt es andere Probleme. Aber Kinderchen, wenn Ungerechtigkeiten geschehen, engagiert euch sofort! Es ist wichtig, sofort loszulegen.

Viele Menschen aus der Zivilgesellschaft und Journalist:innen werden von Rechtsextremen bedroht. Wie viel Mut braucht es, um sich Nazis in den Weg zu stellen?

Beate: Mut ist nicht wichtig. Wenn man weiß, dass man etwas tun muss, muss man auch versuchen, es bis zum Ende durchzuziehen. Ich bin oft festgenommen worden, hatte oft auch Glück. Mal saß ich einen Tag oder ein paar Tage im Gefängnis, aber da hat mir niemand etwas angetan.

Ich selbst könnte Ihr Enkel sein. Was wünschen Sie sich von der jüngeren Generation für die Zukunft?

Auf die Frage folgt zunächst Stille. Serge runzelt die Stirn, hat das Kinn auf seine Hand gestützt und überlegt. Schließlich holt er Luft, zuckt mit den Schultern und zieht die Augenbrauen hoch:

Wir sind die Nachkriegsgeneration. Ihre Generation ist die Vorkriegsgeneration, deswegen können wir Ihnen nicht viele Ratschläge geben.

Serge Klarsfeld lächelt. Es ist das Lächeln von einem, der weiß, wozu der Mensch fähig ist.


Hinweis: Teile des Gesprächs wurden auf Englisch geführt und anschießend übersetzt.

Redaktion: Rebecca Kelber, Schlussredaktion: Bent Freiwald, Bildredaktion: Philipp Sipos; Audioversion: Iris Hochberger und Christian Melchert.

„Unsere Aktionen waren manchmal illegal, aber gerechtfertigt“

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