Wer mal das etwas abwegige Bedürfnis verspüren sollte, im Internet einen großen Haufen Rechter anlocken zu wollen, kann zu einem einfachen Trick greifen. Schreibe die Selbstverständlichkeit „Hitlers Partei, die NSDAP, war eine rechte Partei“ ins Netz und schon kommen innerhalb weniger Minuten Hunderte Rechte und behaupten: „Die NSDAP war eigentlich links.“ So wollen sie die Verantwortung für Völkermord und Weltkrieg den Linken zuschieben.
Manche halten sich für besonders clever und verweisen auf den Namen. Eine Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei muss schließlich links sein, oder? In dieser namensbasierten Logik müssen wir uns einerseits Sorgen um den Gesundheitszustand der Grünen-Mitglieder machen. Wir müssen aber andererseits, viel wichtiger, die Frage stellen: Wie kamen die Nazis mit dieser offensichtlichen Namenslüge durch?
Es ist viel zu vereinfachend zu behaupten, die NSDAP sei „links“ gewesen. Die NSDAP verkaufte sich aber so, und bis heute fallen Menschen auf diese Lüge herein. Schuld daran war nicht nur die NSDAP, sondern auch die SPD, die auf die Weltwirtschaftskrise 1929 mit strengen Sparprogrammen reagierte. Damals machte sich die NSDAP die Unzufriedenheit der Bürger zunutze und gewann so ihren Zuspruch.
Heute gibt es wieder eine Wirtschaftskrise. Eine rechte Partei legt in Umfragen zu. Und es sieht so aus, als würde die SPD ihre Fehler von damals wiederholen.
Eine Politik, die das ganze Elend noch verschlimmerte
Bevor die Nazis an die Macht kamen, tobte die Weltwirtschaftskrise. 4,7 Millionen Deutsche verloren ihre Arbeit – nur wenige Jahre nachdem die Hyperinflation deren wenige Ersparnisse aufgesaugt und nie wieder ausgespuckt hatte. Die Regierung der Weimarer Republik unter Heinrich Brüning reagierte auf die Krise mit einer rigiden Sparpolitik, die das ganze Elend noch verschlimmerte, da sind sich Wirtschaftshistoriker inzwischen weitgehend einig.
Denn der Staat ist der wichtigste Auftraggeber eines Landes und wenn er spart, trifft das viele Unternehmen hart. Diese entlassen ihre Belegschaft, Menschen verlieren Arbeit und Lohn, kaufen weniger, und noch mehr Unternehmen müssen Arbeitnehmer:innen entlassen. Ein Teufelskreis. Der Weg heraus ist eine sogenannte aktive Konjunkturpolitik: Der Staat nimmt Schulden auf und investiert, um der Wirtschaft durch die Krise zu helfen.
Aktuell streitet auch Deutschland wieder übers Schuldenmachen. Denn das Bundesverfassungsgericht hatte im November 2023 in einem historischen Urteil der Bundesregierung verboten, freigiebig Kredite aufzunehmen, die nur für Notlagen gedacht sind. Gleichzeitig wächst die Wirtschaft Deutschlands nicht mehr. Die Folge: Die Bundesregierung muss sparen.
Deutschland war so abhängig wie Griechenland während der Euro-Krise
Einige, wie die Ökonomin Philippa Sigl-Glöckner und Teile der SPD, wollen deswegen die sogenannte Schuldenbremse lockern und es der Regierung erlauben, mehr Geld in Investitionen zu stecken. (Meine Kollegin Rebecca Kelber hat hier ein hervorragendes Pro & Contra zu dieser Debatte zusammengetragen). Andere, wie der FDP-Finanzminster Christian Lindner, wollen das nicht. Und der Bundeskanzler und Sozialdemokrat Olaf Scholz schweigt zu der ganzen Frage.
Reichskanzler Brüning sparte vor fast 100 Jahren mit Verweis auf die internationalen Verpflichtungen der Weimarer Republik, die nach dem Verlust des Ersten Weltkrieges Reparationen an Frankreich, Großbritannien und die USA zahlen musste. Deutschland war damals so abhängig vom guten Willen dieser Staaten, wie es Griechenland nach der Eurokrise von Deutschland war. Es war der Regierung in den 1920ern also wichtig, in Finanzdingen als seriös und verlässlich zu gelten. Neue Schulden galten nicht als seriös.
Zwei Marxisten wollen mehr echten Kapitalismus
Auch für die SPD „stand die Friedenspolitik an allererster Stelle“, sagt der österreichische Volkswirt Nikolaus Kowall, der die Wirtschaftspolitik der damaligen SPD erforscht hat. Nur: „Damit du friedenspolitisch ein glaubwürdiger Akteur bist, musst du ein Musterschüler der finanziellen Stabilität sein.“ Mehr Schulden oder neue Inflation hätten die Beziehungen zu den ehemaligen Feinden aus dem Ersten Weltkrieg belastet. Deswegen unterstützte die SPD, angeführt von ihren beiden wichtigsten Wirtschaftspolitikern Rudolf Hilferding und Fritz Naphtali, den Sparkurs der Regierung Brüning.
Beide taten es aber auch noch aus einem anderen Grund – und hier wird es kurios: Die beiden Männer wollten dem Markt freie Hand lassen, gerade weil sie Marxisten waren. Beide glaubten, dass der Kapitalismus an seinen inneren Widersprüchen sterben werde. Dafür aber müsse der Kapitalismus auch in seiner reinen Form zur Geltung kommen können. „Eine aktive, die Konjunktur stützende Wirtschaftspolitik widersprach diesem Glauben, da sie das bestehende Wirtschaftssystem stützt“, so Kowall. Hilferding sagte damals, dass man „wenigstens die richtige kapitalistische Methode anwenden solle“, solange dieses System existiere – und berief sich dabei ausgerechnet auf den Urvater des Neoliberalismus und Marktradikalen Ludwig von Mises.
Gleichzeitig rumorte es in dem für die Sozialdemokratie so wichtigen gewerkschaftlichen Milieu. Die dort organisierten Arbeiter wollten sich mit der Sparpolitik nicht abfinden und legten einen eigenen Plan vor: Die deutsche Zentralbank solle Geld drucken und mit diesem Geld sollten die staatliche Reichsbahn und die Reichspost sowie die Kommunen eine Million neuer Arbeitsplätze schaffen.
Alle Parteien im Deutschen Reichstag waren gegen diesen Plan. Außer einer Partei: die NSDAP.
Antisemitismus und Nationalismus reichten der NSDAP nicht für die Macht
Die hatte gegen Ende der 1920er Jahre gemerkt, dass sie allein mit Antisemitismus und Nationalismus nicht zur Massenpartei werden konnte. Sie brauchte dafür die deutsche Arbeiterschaft – und diese hatte mit dem Gewerkschaftsplan sehr deutlich gemacht, was sie wollte. Die SPD von damals hörte allerdings nicht auf die deutsche Arbeiterschaft und setzte den Gewerkschaftsplan nicht um.
Fortan sprachen die Nazis vom „sozialen Verrat“ der Sozialdemokraten, versprachen auf ihren Wahlplakaten „Arbeit und Brot“ und nahmen die Ideen von der aktiven Konjunkturpolitik in ihr Programm auf. In einer Rede im Oktober 1932 sagte der damals noch zweitwichtigste Mann der NSDAP, Georg Strasser: „Das Volk protestiert gegen eine Wirtschaftsordnung, die nur in Geld, Profit, Dividende denkt und die vergessen hat, in Arbeit und Leistung zu denken.“
Die NSDAP gab sich antikapitalistisch und war damit erfolgreich. Bei den Reichstagswahlen im September 1930 holte sie 18,3 Prozent der Wählerstimmen, 22 Monate später 37,3 Prozent, wieder acht Monate später 43,9 Prozent. Dann wurde Hitler Reichskanzler und ließ 1934 Georg Strasser ermorden. Dessen Ideen allerdings setzte er um: Die Reichsbank gab Schuldscheine aus, die durch zukünftige Kriegsbeute abgesichert waren. Das neue Geld floss direkt in die Rüstungsfabriken und schuf so neue Jobs für die Arbeiter.
Ein Rüssel macht noch keinen Elefanten
Diese Politik ist der einzige Grund, warum man die NSDAP vielleicht eine linke Partei nennen könnte. Denn rechts sind eher jene Parteien, die dem Markt freie Hand lassen wollen. Links sind eher jene Parteien, die es gut finden, wenn der Staat auch im Markt durchgreift. Aber es ist eben auch der einzige Grund. Und nicht einmal ein guter. Denn es ist so, als würde sich der Wolf einen Rüssel vor die Schnauze schnallen und behaupten, dass er nun ein Elefant sei. Ein Rüssel macht noch keinen Elefanten und ein Konjunkturprogramm noch keinen Linken.
Bundeskanzler Olaf Scholz gilt als „Rechter“ in der SPD, weil er die radikaleren Ideen, die eine sozialdemokratische Partei durchaus haben könnte (höhere Steuern für Reiche etwa) sonntags zwar mal in einer Rede erwähnt, montags aber sofort wieder vergisst. Er glaubt, das zeigt seine Umarmung der schwarzen Null als Finanzminister, dass die Deutschen im Kanzleramt einen soliden Politiker sehen wollen, der aufs Geld aufpasst. Also passt Scholz aufs Geld auf.
Wähler bestrafen die SPD, wenn die spart
Er setzt damit fort, was Sozialdemokraten seit der Jahrtausendwende immer wieder versuchen. Sie wollen Wahlen gewinnen, indem sie in die Mitte rücken und für konservativere Wähler attraktiv werden. Allerdings funktioniert diese Strategie nicht, wie ein Bericht (PDF) des Wissenschaftlernetzwerks „Progressive Politics Research Network“ zeigt. Denn die Mitte-Rechts-Wähler, denen ein ausgeglichener Haushalt und Sparen wichtig sind, wählen lieber weiter Mitte-Rechts. Und die SPD-Wähler, denen Investitionen in Bildung und Infrastruktur wichtiger sind als neue Schulden, wenden sich enttäuscht ab.
Sozialdemokratische Parteien werden regelrecht fürs Sparen bestraft. „Wenn sozialdemokratische Parteien an der Regierung sind und ein Sparpaket ankündigen, sinken ihre Zustimmungswerte danach im Durchschnitt um einen Prozentpunkt“, heißt es in dem Bericht. Würden Sozialdemokraten allerdings die Steuern erhöhen, gäbe es diese Strafe nicht.
Vor 100 Jahren gab es eine SPD, die sparen wollte und heute gibt es einen SPD-Kanzler, der das auch für eine gute Idee hält. Die SPD von 1930 hatte damit der NSDAP eine Gelegenheit gegeben, sich der deutschen Arbeiterschaft anzudienen.
Die AfD von heute streitet zwar seit Jahren darüber, was sie in der Wirtschaftspolitik sein will: eher wirtschaftsliberal, wie Parteichefin Alice Weidel es sich wünscht oder auf einen starken Staat setzend, wie Björn Höcke. Aber eines Tages wird dieser Streit enden und sollte sich Höcke durchsetzen, haben er und seine rechtsextremen Kumpanen die gleiche Gelegenheit vor sich wie Hitler vor 100 Jahren. Sie können sich sozial geben und Menschen werden ihnen glauben – weil sie daran glauben wollen.
Redaktion: Isolde Ruhdorfer, Schlussredaktion: Susan Mücke, Bildredaktion: Philipp Sipos, Audioversion: Christian Melchert