Sevgil Musaieva ist eine dieser Personen, bei denen man sich fragt, wie sie in so wenigen Jahren so viel geschafft haben. Die 36-Jährige ist seit 2014 Chefredakteurin der Ukrajinska Prawda, einer der wichtigsten Zeitungen in der Ukraine. 2022 kürte die „Time“ sie zu einer der 100 einflussreichsten Personen der Welt, 2024 war sie eine der „Munich Young Leaders“ der Körber-Stiftung und der Münchner Sicherheitskonferenz, der weltweit größten Konferenz dieser Art.
Musaievas Job war schon vor Beginn des Angriffskrieges gefährlich. Im Jahr 2000 wurde der Gründer der Ukrajinska Prawda, Heorhij Gongadse, ermordet. 2016 wurde der Journalist Pawel Scheremet mit einer Autobombe ermordet, das Auto gehörte seiner Partnerin Olena Prytula, Herausgeberin der Ukrajinska Prawda. Beide Morde wurden nie vollständig aufgeklärt.
Ich treffe Musaieva während der Sicherheitskonferenz in München. Musaieva ist Krimtatarin, gehört also zur indigenen Bevölkerung der Halbinsel Krim. Sie wirkt abgeklärt. Erst als ich sie nach ihrer Heimat, der Krim, frage, wird sie emotional.
Wenn Sie morgens aufstehen und zur Arbeit gehen, haben Sie dann Angst?
Natürlich habe ich Angst. Nachdem mein Kollege Pawel Scheremet 2016 ermordet worden ist, hatte ich mehr als ein Jahr lang Angst, zur Arbeit zu gehen. Ich wachte morgens auf und dachte: Okay, ein weiterer Tag Arbeit. Es ist ja auch menschlich, so zu empfinden, wenn Kollegen sterben. Auch während der Luftangriffe habe ich Angst, wenn ich in Schutzräumen warte. Und ich habe Angst, wenn ich ins Ausland reise. Ich saß einmal im Zug, als es einen Raketenangriff gab. Ich dachte sofort an meinen Partner und bat ihn, in den Schutzraum zu gehen. Es ist normal, in Kriegszeiten und als Journalistin in der Ukraine Angst zu haben.
Sie kannten zwei Journalisten persönlich, die während des Krieges starben. Der ukrainische Fotograf Maksym Lewin und der US-amerikanische Dokumentarfilmer Brent Renaud starben im März 2022 durch russische Angriffe.
Ja, ich kannte Maksym Lewin, er war ein sehr talentierter Fotograf. Brent Renaud kannte ich aus meiner Studienzeit. Mein Partner und er haben an dem Tag zusammengearbeitet, er hat den Angriff also selbst miterlebt. Ich habe mich schrecklich gefühlt, als ich davon erfahren habe.
Wie hat Sie der Tod Ihrer Kollegen verändert?
Wenn Krieg ist, hat man keine Zeit nachzudenken. Als Pawel Scheremet 2016 starb, war ich nicht bereit dafür. 2022 war ich das schon eher. Es war nicht einfacher, aber ich konnte den Tod meiner Kollegen etwas schneller akzeptieren. Denn das ist das Schwierigste: den Tod einer Person, die man liebt oder respektiert, den Tod eines Kollegen zu akzeptieren.
Sie haben einmal gesagt: „Ohne Mut stirbt der Journalismus.“ Wie finden Sie Mut?
Ich fühle eine Verantwortung für die Leser und das Team der Ukrajinska Prawda. Wir sind in den vergangenen Jahren sehr schnell gewachsen: 2014 waren wir ungefähr 40 Leute, jetzt sind wir schon 150. Ich sehe keine Möglichkeit, nicht zu kämpfen. Und wenn man jeden Tag sieht, was für mutige Ukrainer es gibt, fühle ich mich manchmal schuldig, nicht genug zu tun.
Ich habe schon oft gehört, dass viele Ukrainer:innen das Gefühl haben, nicht genug zu tun.
Ja, genauso geht es mir.
Trotzdem verstehe ich es noch nicht ganz. Sie könnten einfach in ein anderes Land gehen, das wäre sicherer. Warum bleiben Sie trotzdem?
Wenn alle gehen, wer bleibt dann und verteidigt dieses Land? Ich habe kein anderes Land und ich werde nie ein anderes haben. Deshalb tue ich alles dafür, damit mein Land diese schwierigen Zeiten überlebt. Ukrainer riskieren ihr Leben, nur um Ukrainer sein zu können.
Sie kommen von der Halbinsel Krim und sind Krimtatarin, eine ursprünglich auf der Krim lebende Ethnie. Sehen Sie sich als Krimtatarin oder als Ukrainerin?
Ich bin Ukrainerin mit krimtatarischen Wurzeln. Die Krimtataren haben eine andere Kultur, Sprache und Religion. Die krimtatarische Sprache ist eine Turksprache und die Mehrheit der Krimtataren ist muslimisch. Meine Staatsbürgerschaft ist für mich etwas Grundlegendes, das Kernelement meiner Identität. Gleichzeitig ist auch meine krimtatarische Identität sehr wichtig für mich.
Was bedeutet es für Sie, Krimtatarin zu sein?
Es geht nicht um Tradition. Es geht nicht um die Küche. Es geht nicht einmal um Religion. Es geht darum, die Geschichte der Nation und des Volkes zu kennen. Viele Krimtataren leben jetzt unter Besatzung. Deshalb geht es auch um Freiheit. Einer meiner Freunde, Nariman Dscheljal, ein Menschenrechtsaktivist, wurde zu 17 Jahren Haft verurteilt. Er schickte einen Brief aus dem Gefängnis. Darin hat er geschrieben: Selbst wenn du im Gefängnis bist, kannst du an die Zukunft denken und an die Freiheit. Deshalb geht es für mich auch um Freiheit.
Für Sie begann die russische Aggression schon viel früher als 2022. Nämlich mit der Annexion der Krim 2014. Sie waren damals schon Journalistin in Kyjiw und können seither nicht mehr auf die Krim zurück. Macht es Sie wütend, dass Russland Ihnen so viel wegnimmt?
Natürlich. Russland zerstört alles in meinem Leben. (Sie setzt mehrmals zu einem neuen Satz an und blickt zur Seite.) Ich konnte die neue Realität von 2014 lange nicht akzeptieren. Ich verachte Russland für seine Taten. Es begann ja schon früher, mit der Deportation der Krimtataren 1944. Meine Großmutter hat mir viel davon erzählt. Das beeinflusst, was ich über Russland und den russischen Imperialismus denke. Sie wollen schon seit Jahrzehnten die Identität der Krimtataren und Ukrainer zerstören.
Was hat Ihre Großmutter Ihnen erzählt?
Als sie 18 Jahre alt war, kamen Soldaten zu ihrem Haus und gaben ihr nur 15 Minuten Zeit, all ihre Sachen zu packen. Sie hat erzählt, dass sie mit dem Zug in ein kleines Dorf im Ural gebracht wurde. Dort gab es nichts. Nach einem Jahr zog sie dann nach Usbekistan in Zentralasien. Mehr als 50 Jahre lang konnte sie nicht in ihre Heimat zurückkehren. Das finde ich schlimm.
Oft ist es für ältere Menschen ja schwierig, über traumatische Erlebnisse in ihrem Leben zu sprechen. Ihre Großmutter konnte das aber schon?
Ja, es war ihr wichtig. Wir haben keine Bücher über die Geschichte unserer Nation, weil die Sowjetunion alles zerstört hat. Der einzige Weg, etwas darüber zu lernen, ist von den Großmüttern und Großvätern.
Laut einer aktuellen Studie des Kyiv Institute for Sociology glaubt mehr als die Hälfte der Bevölkerung, dass die Dinge in der Ukraine in die falsche Richtung gehen. Das war kurz nach der Großinvasion noch anders. Wie schätzen Sie die Stimmung ein?
Die Situation ist definitiv schwierig. Aber Russland ist noch nicht besiegt. Im Jahr 1943 entschieden sich die Alliierten, Hitler zu besiegen, koste es was es wolle. Russland ist nicht nur für mein Land eine Bedrohung, sondern für ganz Europa.
Manche glauben immer noch, dass es möglich ist, mit Putin zu verhandeln und den Krieg in der Ukraine so zu stoppen. Aber so ist es nicht. Gestern erreichte uns die Nachricht, dass der wichtigste Oppositionsführer Alexej Nawalny im Gefängnis umgebracht worden ist. Es ist klar, dass er umgebracht wurde. Das hat uns gezeigt, dass es nichts gibt, worüber man mit Putin sprechen könnte. Er hat den wichtigsten Oppositionsführer während der größten Sicherheitskonferenz der Welt getötet.
Wir befinden uns gerade an einem entscheidenden Moment in der Geschichte: Die Welt muss verstehen, dass es keinen ukrainischen Sieg gibt, sondern nur einen Sieg der demokratischen Welt.
Wir haben in der Ukraine gerade keinen Stillstand, sondern einen Kipppunkt erreicht. Es kann in die richtige Richtung gehen, es kann aber auch in die absolut falsche Richtung gehen.
Wie stehen die Chancen, dass es in die richtige Richtung geht?
Auch ich bin unglücklich über die Dinge, die in der Ukraine geschehen. Wissen Sie, ich habe mehr als 20 Jahre meines Lebens in die demokratische Transformation meines Landes investiert. Das sind nicht nur große Worte für mich, es ist wirklich so. Ich habe am Maidan teilgenommen, ich habe mich jahrelang für Menschenrechte auf der Krim eingesetzt, die Demokratie in unserem Land verteidigt und unabhängigen Journalismus gemacht. Viele Menschen meiner Generation haben Jahre ihres Lebens dafür investiert.
Gibt es irgendetwas, das Sie hoffnungsvoll stimmt?
Die Geschichte meiner Großmutter. Sie wurde deportiert, als sie 18 Jahre alt war. Sie hat jahrzehntelang davon geträumt, auf die Krim zurückzukehren. Und sie kam in ihre Heimat zurück. Sie war zwar schon 60 Jahre alt, aber sie kehrte mit ihrer Familie zurück. Ich glaube, dass auch ich eines Tages zurückkehren kann.
Nachtrag 26.02.2024: In einer vorherigen Fassung hieß es, die „Munich Young Leaders“ seien ein Projekt der Münchner Sicherheitskonferenz. Wir haben ergänzt, dass auch die Körber-Stiftung zu diesem Projekt gehört.
Redaktion: Lea Schönborn, Schlussredaktion: Susan Mücke, Bildredaktion: Philipp Sipos, Audioversion: Iris Hochberger und Christian Melchert