Collage: Menschen vor der Grenzmauer zum Gazastreifen

Privat, Levi Meir Clancy/Unsplash

Politik und Macht

Protokoll: „Vor dem 7. Oktober war kaum jemand an Lösungen interessiert“

Israel und Palästina scheinen nur die Sprache der Gewalt zu sprechen. Wenige Friedensaktivisten stellen sich dem entgegen. Hier erzählen fünf von ihnen, warum sie an eine friedlichere Zukunft glauben.

Profilbild von Lea Schönborn
Reporterin

Seit Jahren wachsen in der israelischen und der palästinensischen Gesellschaft der Hass und der Extremismus. Seit dem 7. Oktober 2023 scheint Gewalt noch mehr als zuvor die einzige Lösung zu sein.

Ich habe mit fünf Menschen gesprochen, die da nicht mitmachen. Ihr Bemühen um Frieden und ihr Wille zum Dialog mit der anderen Seite sind beeindruckend: Sie haben Freunde und Familie verloren, aber das hält sie nicht davon ab, mit der anderen Seite zu sprechen.

Ihre Namen sind Yuval, Shahed, John, Elly und Alon, sie sind jüdisch, muslimisch und christlich, israelisch und palästinensisch. Sie haben unterschiedliche Perspektiven auf die Gegenwart, aber blicken hoffnungsvoll auf die Zukunft. Was kann man von ihnen lernen?


„Wir Friedensaktivisten gehören nicht zum Mainstream“

Das Bild zeigt Yuval Rahamim. Er hat dunkle Haare und einen angegrauten Bart.

Yuval Rahamim, Co-Direktor von Parent’s Circle, jüdischer Israeli, lebt in Tel Aviv © privat

Yuval Rahamim strahlt Ruhe aus. Er hat seine Geschichte schon häufig erzählt und wirkt trotzdem nicht gelangweilt. Im Hintergrund des Zoom-Bildschirms von Rahamim steht ein Regal mit vielen Pflanzen. Alle echt, wie er betont.

Ich bin nicht als Friedensaktivist geboren. Mein Vater starb, als ich acht Jahre alt war. Sie haben ihn eingezogen, wie sie auch heute wieder Soldaten einziehen. Er starb am zweiten Tag des Sechstagekrieges, das war im Jahr 1967. Ich blieb mit meiner Mutter und meinen beiden Schwestern zurück. Ein paar Monate nach seinem Tod brachte meine Mutter meine dritte Schwester zur Welt. Ich wuchs mit einem Wunsch nach Rache auf. Ich ging auf die Militärakademie, besuchte das Militärgymnasium und trat dann in die Armee ein. Dort diente ich sechs Jahre lang.

Irgendwann begann ich, die Slogans zu hinterfragen, die wir über uns und die Palästinenser gelernt haben. Es wurde immer gesagt, Israel sei für Frieden und unsere Nachbarn seien unsere Feinde. Ich habe meine Haltung geändert, aber nichts unternommen.

Dann gingen meine drei Kinder zur Armee, sie dienten in den besetzten Gebieten. Ihre Berichte brachten mich zum endgültigen Umdenken, denn ihre Hauptaufgabe war es, illegale Siedlungen zu schützen und nicht den Staat Israel.

Deshalb suchte ich nach Möglichkeiten, um mich zu engagieren und stieß auf das „Parent’s Circle Families Forum“. Das ist ein Verein, bei dem sich Hinterbliebene treffen, also Eltern, Geschwister und Kinder von Soldaten oder Zivilisten, die im Konflikt gestorben sind.

Dort traf ich das erste Mal Palästinenser. Die meisten Israelis und Palästinenser treffen die andere Seite nie. Sie sprechen die Sprache nicht, verstehen die Mentalität der anderen Seite nicht und kennen deren Schmerz nicht.

Seit vielen Jahren werden beide Gesellschaften immer extremer. Die Zustände im Westjordanland und im Gazastreifen sind unerträglich. Auf der anderen Seite hören Israelis von Palästinensern meist nur im Zusammenhang mit Terroranschlägen. Der Hass wächst also immer weiter, es ist ein Teufelskreis.

In diesem Kontext versuchen wir zu arbeiten. Wir versuchen, Botschaften zu vermitteln, die dem offensichtlichen „Lasst sie uns alle töten“ widersprechen. Wir wollen zeigen, dass es tatsächlich möglich ist, zusammenzuleben. Bei uns treffen sich Israelis und Palästinenser, die Frieden wollen und bereit sind, miteinander zu diskutieren.

Seit drei Jahren leite ich die Organisation, gemeinsam mit einer palästinensischen Partnerin. Schon vor dem 7. Oktober war unsere Arbeit nicht leicht, wir sind seit Jahren die Zielscheibe von rechtsextremen Attacken. Und auch die Regierung arbeitet gegen uns. Das Bildungsministerium hat uns im August 2023 verboten, an Schulen zu arbeiten. Dagegen haben wir gerichtlich Einspruch erhoben, die Entscheidung steht noch aus. Im Notfall gehen wir damit bis zum höchsten Gericht.

Sie haben es verboten, weil sie wissen, wie effektiv unsere Arbeit ist. Wir kommen in Teams an die Schulen, immer ein Israeli und eine Palästinenserin. Für die meisten jüdischen israelischen Schüler ist es das erste Mal, dass sie mit der palästinensischen Perspektive konfrontiert werden. Und diese Konfrontation verändert sie.

Das ist seit dem 7. Oktober umso wichtiger, denn seitdem ist in Israel jeder Einzelne noch stärker mit der eigenen nationalen Identität verbunden. Israelis sind israelischer geworden und Palästinenser palästinensischer. Sie identifizieren sich noch mehr mit ihrer nationalen Identität als ohnehin schon.

Wir Friedensaktivisten gehören nicht zum Mainstream. Wir sind eine Friedensbewegung in einer Gesellschaft, die die Sprache des Friedens nicht kennt. Meine Freunde, meine Familie und meine Nachbarn, sie alle sprechen nicht dieselbe Sprache wie ich. Ich bin ständig im Konflikt mit der Gesellschaft. Doch der wachsende Hass in den Gesellschaften mobilisiert auch Menschen, sich für Frieden einzusetzen. Und für die sind wir ein Licht in der großen Dunkelheit.

„Wenn man für etwas kämpft, bedeutet das auch, dass man Hoffnung hat“

Das Bild zeigt Shahed Bishara. Sie hat lange dunkle Haare, lächelt freundlich und trägt ein gestreiftes Hemd.

Shahed Bishara engagiert sich bei „Standing Together“, palästinensische Israelin, lebt in der Nähe von Tel Aviv © privat

Am Anfang des Telefonats ist Shahed Bishara schwer zu verstehen. Sie sitzt in einem Raum in dem Krankenhaus, in dem sie arbeitet, neben ihr brummt eine Maschine. Bishara ist Ärztin, gerade macht sie Pause und verbringt sie am Telefon, um mit mir zu sprechen. Während des Gesprächs sagt sie, sie sei 30 und ein halbes Jahr alt. Ich frage später auf Whatsapp nach, weil normalerweise nur Kinder ihr Alter so präzise angeben. Sie schickt einen Zwinkersmiley und schreibt: „Deep down I’m still a child.“

Mein Weg zum Aktivismus ist kompliziert. Früher habe ich nicht geglaubt, dass sich etwas ändern kann. Ich war sehr hoffnungslos und außerdem sehr eingespannt von meiner Arbeit. Auf Instagram folgte ich aber schon länger verschiedenen Aktivisten. Die haben tatsächlich von Frieden gesprochen! Das hat mich extrem beeindruckt.

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Ich verzweifelte an meiner Hoffnungslosigkeit. Deswegen traf ich eine Entscheidung: Ich beschloss, an die Welt zu glauben, an die Menschen und an die Menschlichkeit. Ich habe gemerkt, wenn ich Veränderung möchte, muss ich Teil dieser Veränderung sein. Vor vier Jahren bin ich deshalb „Standing Together“ beigetreten. Gleichzeitig arbeite ich als Ärztin.

Mich machte eine Mischung aus Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung zur Aktivistin, aber ich habe mittlerweile herausgefunden, dass es um etwas ganz anderes geht. Nämlich darum, für eine echte Alternative zu kämpfen. Auf beiden Seiten gibt es Extremisten. Die tun einander schreckliche Dinge an und sind der Grund für die jetzige Situation. Ich sehe mich selbst als eine Alternative zu ihnen.

Palästinensische Araber mit israelischer Staatsbürgerschaft müssen Repressalien fürchten, wenn sie sich mit unschuldigen Menschen in Gaza solidarisieren. In dem Krankenhaus, in dem ich arbeite, hat deswegen ein arabischer Arzt seinen Job verloren. Die Polizei und die Regierung wollen nicht, dass wir unsere Meinung sagen. Der Minister für öffentliche Sicherheit, Itamar Ben-Gvir, ist ein Faschist. Ich bin deswegen sehr vorsichtig und überlege gut, was ich sage. Ich habe schon häufiger nicht an Veranstaltungen teilgenommen, um deswegen nicht gefeuert zu werden.

Ich weiß, was es bedeutet, eine Bürgerin zweiter Klasse zu sein. Ich erlebe jeden Tag die jüdische Vormachtstellung. Jegliche Vormachtstellung einer Gruppe über eine andere ist unethisch. Ich fühle mich dafür verantwortlich, dieses Narrativ zurückzuweisen und für Veränderung zu kämpfen.

Direkt nach dem 7. Oktober haben viele ihre Meinung geändert und Menschen, die an eine gemeinsame Lösung geglaubt haben, sind von ihrer Friedensposition abgerückt. Das ist verständlich. Sie waren von den Ereignissen traumatisiert. Aber langsam wird auch ihnen immer klarer, dass es niemandem etwas bringt, andere zu verletzen.

Wie ich nicht die Hoffnung verliere? Wenn man für etwas kämpft, bedeutet das auch, dass man an etwas glaubt. Dass man Hoffnung hat.

Was uns bei „Standing Together“ vereint, ist unser Glauben an Gleichberechtigung und soziale Gerechtigkeit. Als Palästinenserin werde ich dort nicht als Bürgerin zweiter Klasse behandelt. Das sind meine Freunde, sie nutzen ihre Vormachtstellung nicht, um mich zu unterdrücken. Ich kann dort frei sprechen. Ich kann nachvollziehen, dass andere Palästinenser glauben, dass ich die Situation normalisiere, dadurch dass ich mit Israelis zusammenarbeite. Aber ich glaube, dass wir alle dasselbe wollen: Wir wollen frei sein.

„Die Leute haben gemerkt, dass man die Realität nicht ignorieren kann“

Das Bild zeigt John Munayer. Er hat kurze bräunliche Haare und lächelt leicht in die Kamera. Er trägt ein gestreiftes Hemd.

John Munayer, christlicher Palästinenser mit israelischer Staatsbürgerschaft, lebt in Jerusalem © privat

Während des Gesprächs höre ich im Hintergrund immer wieder Geräusche: Lachen, Hupen, das Bellen eines Hundes. Ich frage Munayer, wo er gerade ist. Er sagt: „Kennst du das Sira Café?“ Fast jede Person, die abseits von den populären Wegen durch Westjerusalem spaziert, wird auf diesen Ort stoßen. Das Café liegt in einer kleinen Gasse, an beiden Seiten Tische. Morgens wird Kaffee getrunken und mittags steht meist schon irgendwo ein Bier auf dem Tisch. Hier treffen sich Säkulare und Gläubige, Christen und Muslime, Touris und Einheimische, rauchen und trinken gemeinsam. Munayer sitzt ein kleines Stück weiter die Straße hinunter, da ist es ruhiger.

Wenn Israelis hören, dass ich Christ bin, sehen sie mich weniger als Problemmacher. Christentum wird eher mit dem Westen und Europa assoziiert als mit der arabischen Welt.

Ich bin in Jerusalem geboren und aufgewachsen. Mein Vater ist palästinensischer Christ, aber ein Bürger des Staates Israel, meine Mutter ist Engländerin. Ich bin auf eine säkulare israelische Schule gegangen. Als ich aufwuchs, war ich also in palästinensischen, israelischen und internationalen Räumen unterwegs. Mein Aktivismus hat sehr früh begonnen: Ich habe den Menschen in meiner Umgebung das Narrativ und die Religion der jeweils anderen Gruppen erklärt.

Als wir 16 waren, haben meine Mitschüler einen Brief für die Musterung für die Armee bekommen. Das war ein Wendepunkt für mich. Ich habe den Brief nicht bekommen, weil ich Palästinenser bin. Unsere Identitäten wurden gerade geformt, wir waren mitten in der Pubertät.

Für junge jüdisch-israelische Männer ist die Armee für die Bildung ihrer nationalen Identität sehr wichtig. Männlichkeit spielt auch eine große Rolle dabei. Das hat einen Konflikt zwischen mir und ihnen verursacht. Ich gehörte nicht dazu und wollte auch nicht dazugehören. Ich habe Freunde verloren: Sie haben begonnen, für eine Armee zu arbeiten, die meinen Freunden im Westjordanland Leid zufügt.

Nach der Schule bin ich erstmal ins Ausland gegangen, habe dort Politik, Theologie und Soziologie studiert. Danach bin ich wieder hierher gezogen. Ich arbeite für eine Organisation, das Rossing Center for Education and Dialogue. Wir setzen uns vor allem für interreligiösen Dialog an Universitäten ein.

Mein Aktivismus basiert auf Beziehungsarbeit. Schon in meiner Schulzeit habe ich meine israelischen Freunde mit in die besetzten Gebiete genommen und ihnen gezeigt, was dort passiert. Palästinensischen Studierenden an der Uni in Bethlehem, an der ich unterrichte, berichte ich vom jüdischen Narrativ. Ich erwarte von ihnen nicht, dass sie es akzeptieren, aber ich will, dass sie es kennen und die jüdische kollektive Erinnerung verstehen und wie diese die jüdische Identität formt.

Die Reaktionen von Juden und Palästinensern auf die Konfrontation mit dem anderen Narrativ sind sehr unterschiedlich. Jüdische Israelis sind häufig überrascht. Sie waren sich der Situation in dem Ausmaß nicht bewusst, weil sie die Situation lange ignorieren konnten. Bis zum 7. Oktober zumindest. Häufig geht auch ein Schamgefühl damit einher und ein Gefühl der Verzweiflung. Sie fühlen sich machtlos, weil sie nicht wissen, wie sie die Situation verändern können.

Die Palästinenser kennen das jüdische Narrativ meistens besser. Sie können es nicht ignorieren. Sie sind häufig für Gespräche und Treffen offen, aber sie fordern auch konkrete Handlungen, damit ihr Leiden beendet wird. Sie wollen bei den jüdischen Israelis die Bereitschaft sehen, Privilegien aufzugeben.

Tatsächlich hat der 7. Oktober ermöglicht, dass Themen besprochen wurden, die vorher komplett ignoriert worden sind. Vorher war kaum jemand hier an Lösungen interessiert, vor allem die Israelis nicht. Sie dachten, dass der Konflikt gut gemanagt wird. Aber das ist ihnen um die Ohren geflogen. Also können wir darüber nachdenken, was diese Lösung sein könnte. Natürlich gibt es verschiedene Vorschläge, aber im Großen und Ganzen ermöglicht es Gespräche, die vorher nicht stattgefunden haben.

Die Leute haben gemerkt, dass man die Realität nicht einfach ignorieren kann.

„Erst dachte ich, es wären Siedler, dann erkannte ich, dass es Soldaten waren“

Das Bild zeigt Elly Oltersdorf. Oltersdorf sitzt an einem Tisch und strahlt breit in die Kamera.

Elly Oltersdorf arbeitet bei „Achvat Amim“, ist jüdisch und kommt aus den USA, lebt in Jerusalem © privat

Elly Oltersdorf lacht zur Begrüßung freundlich in die Kamera. Im Gespräch sagt Oltersdorf immer wieder „great question“ und vermittelt dabei diese Mischung aus US-amerikanischer Freundlichkeit und Ernsthaftigkeit. Oltersdorf ist in Kalifornien aufgewachsen und lebt seit anderthalb Jahren in Jerusalem.

Als ich das erste Mal hierherkam, war es ein Schock. Die meisten jüdischen Institutionen in den USA betrachten Israel durch eine spezifische Brille und erklären uns, dass wir loyal zum Staat Israel sein sollen und dass er eine positive Kraft für alle Juden weltweit hat.

Als ich herkam, habe ich die enorme Diskrepanz erkannt zwischen dem, was ich als Kind gelernt habe, und dem, was ich hier sah. Ich lernte, welche Auswirkungen die Besatzung auf die Menschen hat. Das Aufbrechen einer Erzählung kann so schockierend sein, dass man sich dadurch motiviert fühlt, etwas zu tun. So war es für mich.

Natürlich hat sich seit dem 7. Oktober eine Menge geändert. Obwohl: Eigentlich ist vieles gleich geblieben, nur in einer eskalierten Form. Wir haben in den vergangenen Jahren einen beispiellosen Anstieg von Siedlergewalt erlebt, aber seit dem 7. Oktober ist die Siedler- und Militärgewalt im Westjordanland ins Unermessliche gestiegen. Das hat auch unsere Arbeit berührt.

Unser Aktivismus beruht unter anderem auf dem Konzept von „Protective Presence“. Dabei geht es darum, unser Privileg als internationale oder israelische Person zu nutzen. Wir werden von Siedlern oder Soldaten nicht so brutal angegangen wie Palästinenser und wenn es passiert, werden wir vor israelischen Gerichten besser behandelt. Wir versuchen deshalb, Palästinenser mit unserer Anwesenheit zu schützen. Das funktioniert nicht immer, aber wenn Gewalt passiert, können wir diese Gewalt wenigstens dokumentieren.

Nach dem 7. Oktober war unklar, welchem Risiko wir uns aussetzen, wenn wir in die besetzten Gebiete gehen. Ich kehrte deshalb erst im November in eine palästinensische Gemeinde im Westjordanland zurück. Sie heißt Masafer Yatta. Vor dem 7. Oktober gab es dort nicht so viele Razzien durch Soldaten, vermutlich, weil die Gemeinde international so bekannt war. Das hatte sie lange geschützt.

In der ersten Nacht, in der ich zurück war, fand genau dort ein Militärkommando statt. Um elf Uhr abends stürmten etwa 40 Leute das Dorf. Sie kamen leise, erst dachte ich, es wären Siedler, das hat mir extreme Angst gemacht. Dann erkannte ich, dass es Soldaten waren. Immer noch schlimm, aber nicht ganz so schlimm. Siedler sind noch unberechenbarer. Die Soldaten fesselten Männer, verbanden ihnen die Augen, gingen mit Hunden in die Häuser. Sie haben uns gesagt, dass wir unsere Handys nicht benutzen dürfen. Ich filmte heimlich, Kinder weinten.

Eine Szene hat mir besonders Angst gemacht. Sie hatten einem Mann die Augen verbunden und er saß auf seinen Knien vor einer Hauswand. Wir fragten die Soldaten, warum sie ihm die Augenbinden nicht abnehmen können. Sie sagten, er solle die Operation nicht sehen. Seine Mutter war sehr hysterisch und weinte, wollte zu ihm. Ein Soldat hat gelacht und sie gefragt, warum sie weine. Die andere Aktivistin, mit der ich da war, fragte ihn, ob seine Mutter nicht weinen würde, wenn er dort so säße. Ich war verängstigt und wütend zugleich. Nach einer halben Stunde haben sie ihn gehen lassen.

In den ersten zwei Wochen nach dem 7. Oktober habe ich überlegt, in die USA zurückzugehen. Fast alle, die ich kannte, wussten nicht, ob sie bleiben sollen. Es war unklar, welches Ausmaß der Krieg annehmen würde. Letztendlich habe ich mich entschieden zu bleiben. Ich bin froh, dass ich noch hier bin.

„Juden werden nicht sicher sein, bis die Palästinenser frei sind“

Das Bild zeigt Alon-Lee Green. Er trägt eine grüne Jacke und blickt ernst in die Kamera. Er hat kurze dunkel-graue Haare.

Alon-Lee Green, Co-Direktor von „Standing Together“, jüdischer Israeli, lebt in Tel Aviv © privat

Alon-Lee Green steht im Treppenhaus des Büros von „Standing Together“ in Tel Aviv, während wir telefonieren. Er ist in den vergangenen Monaten zu einem der bekanntesten Gesichter der Friedensbewegung geworden. Die Internetverbindung ist nicht gut und er hat nicht viel Zeit, denn er organisiert gerade eine große Konferenz in Haifa. Dennoch nimmt er sich 20 Minuten Zeit.

Ende 2015 hatten alle Angst: Juden hatten Angst, Palästinenser hatten Angst. Das war während der Messer-Intifada, einer weiteren gewalttätigen Eskalation, bei der mal wieder Palästinenser gegen Israelis kämpften. Und wir schauten uns um und hörten nur Stimmen, die zu mehr Gewalt aufriefen.

Wir waren eine Gruppe von 30 Juden und Palästinensern. Wir hielten einige „Emergency Meetings“ ab, sogenannte Notsitzungen, weil alles eskalierte. Wir überlegten, was wir tun können und entschieden gemeinsam, eine Demonstration in Jerusalem zu organisieren. Es kamen viele Juden und Palästinenser. Das war die Gründungsveranstaltung von „Standing Together“.

Seit dem 7. Oktober ist es noch schwieriger geworden, die eigene Meinung zum Krieg zu äußern oder das Wort Besatzung auszusprechen. Palästinenser haben Angst, dass sie ihre Arbeit verlieren oder von der Polizei verfolgt werden. Juden haben Angst, weil ihr Aktivismus zu Auseinandersetzungen in ihrem persönlichen Umfeld führen kann. Jeder von uns kennt jemanden, der gestorben ist, entweder bei dem Anschlag der Hamas oder dem Krieg in Gaza. Alle haben eine sehr persönliche Geschichte mit diesem Konflikt.

Wir bei „Standing Together“ denken gemeinsam über Ziele nach. So können wir weiter miteinander sprechen. Zwar erzählen wir uns von unseren Gefühlen, versuchen jedoch, sie nicht an erste Stelle zu stellen. In erster Linie geht es uns um die Frage, wie wir Veränderung herbeiführen können. Wir wollen alle in einer friedlichen Realität leben, in Freiheit und Würde, ohne Besatzung und mit Unabhängigkeit für alle.

Ich verliere die Hoffnung nicht, weil ich weiß, dass selbst im dunkelsten Moment jemand ein Licht anzünden muss. Wenn ich mich daran erinnere, dass ich die Rolle eines Friedensaktivisten einnehme, macht mich das stärker und widerstandsfähiger.

Außerdem ist es ermutigend, Teil einer Gruppe zu sein. Ich schreibe nicht irgendwas auf Twitter oder gehe allein auf die Straße und dann nach Hause. Wir sind Teil einer Bewegung.

„Standing Together“ ist seit dem 7. Oktober massiv gewachsen. Viele junge Menschen haben sich uns angeschlossen, von beiden Seiten, Palästinenser und Juden. Wir haben mehr Standorte und viel mehr Studentengruppen als vorher. Denn außer uns spricht niemand über eine Alternative. Wir sind die einzigen, die über eine friedvolle gemeinsame Lösung nachdenken.

Juden werden nicht sicher sein, bis die Palästinenser frei sind. Palästinenser werden erst dann frei sein, wenn die Juden in Sicherheit sind. Der einzige Weg, diesen Teufelskreis zu beenden, ist die Beendigung der Besatzung, die Beendigung des Krieges in Gaza und das Erreichen eines israelisch-palästinensischen Friedens, der Unabhängigkeit und Freiheit für alle bedeutet.


Redaktion: Isolde Ruhdorfer, Schlussredaktion: Susan Mücke, Bildredaktion: Philipp Sipos, Audioversion: Christian Melchert und Iris Hochberger

„Vor dem 7. Oktober war kaum jemand an Lösungen interessiert“

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