Nein, überraschend war der Tod von Alexej Nawalny nicht. Schon 2020 überlebte er nur knapp einen Anschlag mit dem Nervengift Nowitschok. Bei seiner Rückkehr nach Russland wurde er verhaftet und war dem russischen Regime ausgeliefert. Und vor Nawalny wurden schon viele russische Putin-Kritiker:innen ermordet.
Trotzdem ist sein Tod ein Schock für viele regimekritische Russ:innen. Unter ihnen macht sich jetzt Hoffnungslosigkeit breit. Warum, lässt sich nur verstehen, wenn man sich vor Augen führt, was für ein Mensch Alexej Nawalny gewesen ist und in welchem Kontext er gestorben ist. Daraus ergibt sich, wie Deutschland und die EU der russischen Opposition jetzt noch helfen können.
Nawalny war in seinem gesamten Auftreten das komplette Gegenteil von Wladimir Putin
Nawalny war nicht der einzige Kritiker des Kremls. Aber er war wohl das berühmteste Gesicht des Widerstands gegen das russische Regime. Einer, der ständig auf Social Media und in internationalen Medien präsent war. Manche bezeichnen ihn als Oppositionspolitiker, auch wenn die Bezeichnung „Politiker“ nicht ganz passt. Nawalny war auch Polit-Influencer, Korruptionsbekämpfer und Aktivist.
Nawalny war für eine Strategie namens „Schlaues Wählen“ bekannt. Bei dieser Taktik geben Wähler:innen derjenigen Person ihre Stimme, die es am ehesten schafft, den Kandidaten von Putins Partei „Einiges Russland“ zu schlagen. Das „Schlaue Wählen“ war umstritten, weil man dadurch Kandidat:innen wählte, deren Inhalte man nicht unbedingt unterstützte. Welchen Einfluss diese Strategie genau hatte, lässt sich schwer bemessen. Aber sie gab den Leuten das Gefühl, etwas gegen Putin tun zu können, selbst bei Wahlen, an deren Rechtmäßigkeit schon lange niemand mehr glaubte.
2011 gründete Nawalny die „Stiftung für Korruptionsbekämpfung“, eine Organisation, die Korruption unter hochrangigen russischen Regierungsbeamt:innen aufdeckte. Das Team um Nawalny recherchierte teilweise monatelang dubiose Geschäftspraktiken, verfolgte die Flugrouten von Privatjets oder durchforstete die Fotos des Ex-Präsidenten Dmitri Medwedew nach bestimmten Turnschuhmodellen.
Über diese Recherchen veröffentlichte Nawalny aufwendige Filme auf Youtube. Der wohl bekannteste Film heißt „Putins Palast“, den Nawalny noch veröffentlichte, kurz nachdem er nach seinem Giftanschlag nach Russland zurückkehrt war. Der zweistündige Film hat fast 130 Millionen Aufrufe.
Wer diese Filme schaut, versteht schnell, welches Charisma Nawalny hatte. Er sprach schnell und eindringlich, er war ironisch, polemisch und machte Witze. Er war in seinem gesamten Auftreten das komplette Gegenteil von Wladimir Putin, der in seinen Ansprachen dagegen steif wirkt und zu langweiligen Monologen über Geschichte neigt.
Selbst als er schon im Straflager inhaftiert war, in Einzelhaft und mit mangelnder medizinischer Versorgung, schaffte Nawalny es, sich diese Eigenschaften zu bewahren. Über seine Anwälte schickte er Nachrichten an die Außenwelt. Zum Beispiel erzählte er davon, dass es ihm laut Gesetz erlaubt sei, ein Haustier zu halten. „Ich habe offiziell die Genehmigung für die Haltung eines Tieres beantragt – ein Känguru“, heißt es in einem Post vom Juni 2023.
Oder er philosophierte darüber, dass er jetzt Feministinnen besser verstehe. Nawalny arbeitete im Straflager nämlich als Näher – die Verwaltung verwendete dafür aber nur die weibliche Form: Näherin. Er selbst habe ja immer Witze über Feministinnen gemacht, die nur die weibliche Berufsform für sich verwenden wollen, heißt es in einem Post vom Dezember 2021. Jetzt habe das Leben über ihn Witze gemacht. „Was für einen Unterschied macht es, ob du Näherin oder Näher bist?“
Wer Nawalny auf Twitter oder Instagram folgte, hatte deshalb weiterhin das Gefühl, an seinen Gedanken und seinem Leben im Straflager teilhaben zu können. Auch deshalb ist sein Tod für viele Menschen ein großer Schock. Es fühlt sich für sie an, als wäre jemand gestorben, den sie persönlich kannten und bewunderten.
Aber es gibt auch Menschen, die Nawalny auch nach seinem Tod noch stark kritisieren. Denn er vertrat in seiner politischen Anfangszeit rechte Positionen. Besonders häufig wird ihm vorgeworfen, dass er Kaukasier:innen als „Kakerlaken“ bezeichnet hat. Über die Jahre ist Nawalny zwar weniger rechts geworden, distanziert hat er sich von seinen damaligen Aussagen aber nie.
Ich halte es ohnehin für schwierig, von einer einzigen Person zu erwarten, der fehlerlose Gegner Putins zu sein. Kein Mensch vereint alle guten Eigenschaften in sich.
Für Putin gilt nur eines: Wer ihn kritisiert, landet im Gefängnis oder stirbt
Medien und Expert:innen debattieren jetzt die Frage, ob der Tod Nawalnys auf die Schwäche oder die Stärke von Putin hindeutet. Schwäche, weil er selbst inhaftierte Kritiker:innen ermorden muss oder Stärke, weil er genau das ungestraft tun kann. Ich glaube: Die Frage ist irrelevant. Tatsache ist, dass das russische Regime seit Jahren immer repressiver wird. Inzwischen lässt es überhaupt keine Kritik mehr zu.
Vor Kurzem wurde Oppositionspolitiker Boris Nadeschdin von den russischen Präsidentschaftswahlen ausgeschlossen, angeblich wegen fehlerhafter Unterschriften. Der Anführer der Wagner-Gruppe Jewgenij Prigoschin, dessen Putschversuch scheiterte, starb bei einem mysteriösen Flugzeugabsturz. Und Igor Girkin, ein russischer Nationalist und Kriegsverbrecher, wurde zu vier Jahren Haft verurteilt, wegen Extremismus. Also wahrscheinlich deshalb, weil er Putin zu heftig kritisiert hatte.
Das Ironische dabei ist: Girkin und Prigoschin unterstützten den Krieg gegen die Ukraine. Prigoschin forderte zuletzt mehr Munition für die russische Invasion und Girkin war eine Schlüsselfigur im Krieg in der Ostukraine seit 2014. Doch für Putin scheint nur eines zu gelten: Wer ihn kritisiert, landet im Gefängnis oder stirbt.
Und es gibt auch noch andere Oppositionelle und Aktivist:innen, die im Gefängnis sitzen und die wir nicht vergessen sollten: Wladimir Kara-Mursa, Aktivist, im vergangenen Juli zu 25 Jahren Straflager verurteilt. Ilja Jaschin, Oppositionspolitiker, Ende 2022 zu achteinhalb Jahren verurteilt. Grigorij Michnow-Wajtenko, Priester und Kriegsgegner, vor wenigen Tagen verhaftet. Er erlitt einen Schlaganfall.
Diese Verhaftungen ereigneten sich alle innerhalb weniger Jahre und Monate. Nach dem Tod Nawalnys bleibt bei allen, die mit Putins Russland unzufrieden sind, das Gefühl: Nichts und niemand kann Putin aufhalten. Egal wer, egal auf welche Weise man es versucht.
Es gibt nur eins, was der russischen Opposition jetzt noch helfen kann: Russland muss den Krieg verlieren
Der Zeitpunkt von Nawalnys Tod ist wahrscheinlich kein Zufall, es könnte auch ein Symbol gen Westen sein: Er starb eine Woche, bevor sich der russische Großangriff auf die Ukraine das zweite Mal jährt, kurz vor den Präsidentschaftswahlen in Russland, und während der Münchner Sicherheitskonferenz, der weltweit größten Konferenz ihrer Art.
Momentan sieht es so aus, als würde Putin noch lange an der Macht bleiben. Mitte März sind Präsidentschaftswahlen in Russland, deren Ausgang jetzt schon feststeht. Wenn Putin die kommende Amtszeit beendet, wird er länger regiert haben als Stalin. Er wäre dann der am längsten amtierende Staatschef Russlands seit Zarin Katharina der Großen im 18. Jahrhundert.
Es wäre jetzt also Zeit, Putin ein Zeichen der Stärke zurückzuschicken. Und es gibt nur eine Sache, die der russischen Opposition jetzt noch helfen kann: Russland muss den Krieg verlieren. Nur so kann es eine Veränderung im Kreml geben. Denn Putin hat das ganze Land auf den Krieg gegen die Ukraine ausgerichtet, auf Kriegswirtschaft umgestellt, die Propaganda aufgepeitscht. Sein persönliches Schicksal ist mit dem Kriegsausgang verknüpft.
Aber an der Front sieht es nicht gut aus für die Ukraine, erst vor wenigen Tagen ist die Stadt Awdijiwka in die Hände der russischen Armee gefallen. Ein Grund dafür ist, dass die EU und die USA weniger Munition liefern als versprochen. Wegen innenpolitischer Querelen haben die USA mit Jahresbeginn ihre Ukraine-Hilfen eingestellt – und die EU gleicht das nicht aus.
Deshalb ist es gerade jetzt wichtig, dass die EU die Ukraine unterstützt, mit Waffen und mit Geld. Jetzt, wo die Unterstützung für die Ukraine bröckelt. Das ist nicht nur wichtig für die Ukraine und damit den Rest Europas. Sondern auch für Russland selbst.
Nachtrag 20.02.2024: In einer vorherigen Fassung hieß es, Jewegenij Prigoschin sei bei einem Hubschrauberabsturz gestorben. Richtig ist: Es handelte sich um einen Flugzeugabsturz. Wir haben den Fehler korrigiert.
Redaktion: Rebecca Kelber, Schlussredaktion: Susan Mücke, Bildredaktion: Philipp Sipos, Audioversion: Christian Melchert