Portrait von Alexej Nawalny

Sefa Karacan/Anadolu Agency via Getty Images

Politik und Macht

Was Kreml-Insider über den Tod Nawalnys sagen

Wie mit seinem Tod umgegangen werden würde, stand für die russische Führung schon lange fest.

Profilbild von Andrey Pertsev

Das unabhängige russische Onlinemagazin Meduza hat aus seinem lettischen Exil zu den Hintergründen von Alexej Nawalnys Tod recherchiert. Warum ist Nawalny gestorben? Welche Folgen wird das für Russland haben? Meduza hat dafür mit einigen Kreml-Insidern gesprochen. Meduza bietet hier exklusive Einblicke in das Innenleben einer Diktatur, in einem für Krautreporter ungewöhnlichen Stil. Wir fanden den Text so erhellend, dass wir ihn übersetzt haben.

Im Kreml betrachtet man den Tod von Alexej Nawalny als „eine sehr negative Entwicklung“ – für Wladimir Putins Wiederwahlkampagne. Gleichzeitig wird innerhalb der Regierung Putins nicht erwartet, dass sich der Tod des Oppositionspolitikers ernsthaft auf die streng kontrollierte Präsidentschaftswahl im kommenden Monat auswirken wird.

Dies legen zwei Insider aus der Verwaltung Putins nahe: einer, der der Führung der regierenden Partei „Einiges Russland“ nahesteht und ein Kreml-Politikstratege. Beide haben anonym mit Meduza gesprochen.

Beide antworteten äußerst zynisch auf Meduzas Bitte, den Tod von Nawalny zu kommentieren. Der Oppositionspolitiker habe „gewusst, worauf er sich einließ, als er 2021 nach Russland zurückkehrte“ und dass man ihn „bestrafen werde, weil er gegen Russland arbeitete.“

Die Quellen von Meduza gehen davon aus, dass Nawalny nicht „absichtlich“ getötet wurde, sondern dass sein Tod auf schlechte Haftbedingungen zurückzuführen sei. „War etwas anderes zu erwarten? Es musste früher oder später so kommen“, sagte einer der beiden.

„Ein Verurteilter“

Alexej Nawalny wurde im Januar 2021 unmittelbar nach seiner Rückkehr nach Russland festgenommen, nur wenige Monate nachdem ihn Agenten des russischen Inlandsgeheimdienstes FSB mit einem Nervengift vergiftet hatten. Zum Zeitpunkt seines Todes verbüßte er eine 19-jährige Haftstrafe in einer Strafkolonie für „gesonderte Behandlung“. Diese befindet sich nördlich des Polarkreises, in einem von Russlands Autonomen Kreisen namens Jamal-Nenzen.

Die russischen Gefängnisbehörden meldeten Nawalnys Tod am 16. Februar 2024. Das russische Propagandanetzwerk RT behauptete folglich, Nawalny sei an einem „abgelösten Blutgerinnsel“ gestorben. Ein Arzt und Berater von Nawalnys Mitarbeitern sprach jedoch gegenüber Meduza von einer „unwahrscheinlichen“ Todesursache, die ohne eine unabhängige Autopsie nicht zu bestätigen sei.

Nawalnys Tod ist zum Zeitpunkt unserer Veröffentlichung noch nicht unabhängig bestätigt. Viele Experten, die zu seinem Tod Stellung nahmen, bezeichnen ihn jedoch als Mord, für den Putin zur Rechenschaft gezogen werden sollte.

Zwei weitere Quellen in Kremlnähe sagten, die Nachricht vom Tod Nawalnys „betrübe“ sie. Einer merkte an, dass der inhaftierte Oppositionspolitiker für ihn ein „verdammter Mann“ gewesen sei. „Solche Haftbedingungen überlebt niemand“, sagte er.

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Nawalny wurde am 14. Februar zum 27. Mal in eine Einzelzelle gesteckt. Sowohl seine Mitarbeiter als auch medizinisches Fachpersonal lösten wiederholt Alarm wegen Nawalnys Gesundheitszustand aus. Sie sagten, die Haftbedingungen würden eine Bedrohung für sein Leben darstellen. Beide Kreml-Insider erzählten Meduza, dass die Haftbedingungen für Gefangene von Nawalnys Kaliber direkt von der höchsten Führung des Landes bestimmt werden würden.

„Putin wird als blutiger Diktator bezeichnet werden“

Meduzas Quellen glauben, dass die Nachricht vom Tod Nawalnys „extrem negative Auswirkungen“ im Westen haben werde. Insbesondere aufgrund von Putins „Versuchen, westliches Publikum zu erreichen“, wie das Interview mit dem ehemaligen Fox-News-Moderator Tucker Carlson kürzlich gezeigt hatte.

„Der Präsident wird wieder einmal als blutiger Diktator und Mörder bezeichnet werden“, sagte eine Quelle.

Eine andere Quelle spekulierte, dass Nawalnys Tod auch die Friedensgespräche zwischen Russland und der Ukraine verkomplizieren würde. Westliche Länder würden es möglicherweise für „inakzeptabel“ halten, unter diesen Umständen mit Putin zu sprechen. „Nach Nawalnys Tod sind Verhandlungen unmöglich“, sagte er Meduza. (Putins Sprecher dementierte kürzlich Berichte darüber, dass Putin versucht habe, über die USA einen Waffenstillstand mit der Ukraine zu prüfen.)

Gleichzeitig glauben die Quellen von Meduza nicht, dass der Tod Nawalnys innerhalb Russlands Folgen haben wird. „Man wird ein paar Tage lang diskutieren, dann wird sich das Thema erledigen“, sagte eine Quelle. Sie erinnerte daran, dass Nawalnys aktivste Unterstützer nach der Invasion der Ukraine 2022 gezwungen waren, das Land zu verlassen.

Staatliche Propaganda werde „den Rest zum Schweigen bringen“, fügte er hinzu. Ein Journalist eines Pro-Kreml-Senders sagte Meduza, dass seine Redaktion bereits Anweisungen von Putins Regierung erhalten habe, wie sie über Nawalnys Tod berichten sollen. Die Behörden wiesen staatliche Sender an, unter keinen Umständen die Vergiftung Nawalnys 2020 zu erwähnen. Über Nawalny sollte als „Extremisten, der wegen krimineller Verbrechen inhaftiert ist“, gesprochen werden.

„Eine Chance für unsere Zukunft ist für immer verschwunden“

Ein Politikstratege des Kremls sagte, dass die Putin-Administration „auf dieses Szenario“ vorbereitet gewesen sei und bereits festgelegt habe, wie man mit Nawalnys Tod umgehen werde. „Im Gefängnis kann alles passieren … Vor allem, als offensichtlich wurde, dass die Big Bosses Nawalny nicht davonkommen lassen“, sagte er.

Er spekulierte auch, dass russische Propagandisten Nawalnys Tod in ein falsches Licht rücken würden, indem sie verschiedene Erzählungen gleichzeitig propagieren würden. Er zählte folgende Beispiele auf:

  1. „Ein extremistischer Regimegegner erleidet ein Blutgerinnsel. Sein Tod wird im Westen hochgespielt, um Putin Schaden zuzufügen und ihm die Verantwortung zuzuschieben.“
  2. Nawalnys Tod „ist für uns [Russland] nicht von Vorteil, deswegen profitiert der Westen davon: Er hat seinen eigenen Agenten geopfert.“
  3. Russische „Sicherheitskräfte und Kriegstreiber beschlossen, Nawalny zu beseitigen, um Verhandlungen mit der Ukraine zu verhindern.“

Meduzas Quellen erwarten keine Massenproteste oder ernsthafte Konsequenzen für den Kreml aufgrund von Nawalnys Tod (Straßenproteste wurden von den russischen Behörden verboten). Trotz ihrer zynischen Kommentare empfinden Meduzas Quellen die Situation als düster.

„Eine Chance für Russlands Zukunft, die einige erhofft und andere gefürchtet haben, ist für immer verschwunden“, sagte eine Quelle in Kremlnähe. Gemeint ist die demokratische Reorientierung Russlands. „Sie existiert nicht mehr – und wird nie wieder existieren.“


Diesen Text hat Meduza mit einer CC BY 4.0 Lizenz veröffentlicht.

Übersetzung: Emily Kossak, Redaktion: Lea Schönborn, Schlussredaktion: Susan Mücke, Bildredaktion: Lars Lindauer