Niemand hat mich in der Schule angelogen. Das nicht. Aber wie viele Tatsachen kann man weglassen, bis aus der Realität eine Lüge wird?
Niemand sagte damals im Geschichtsunterricht zu uns: „Afrika spielte keine Rolle in der Weltgeschichte.“ Aber es sagte auch niemand: „Afrika spielte eine große Rolle. Für uns Europäer sogar eine sehr große.“
Meine Lehrer sprachen zwar über die Regionen südlich der Sahara. Aber auf eine Weise, wie sie über keinen anderen Kontinent sprachen. Afrika war in ihren Erzählungen vor allem eines: da. Manchmal lag es im Weg herum, ein störender Fels im mächtigen Strom der Geschichte. Manchmal war es auch Schauplatz großer historischer Momente. Aber die Helden dieser Momente waren immer Europäer.
Rom gegen die Elefanten des Nordafrikaners Hannibal, Wilhelm II. und sein „Panthersprung nach Agadir“ und vor allem Vasco da Gama, der im Jahr 1498 endlich als erster Europäer Afrika umsegelte und so den heiß begehrten Seeweg nach Asien fand. Diesen zu finden, war das große Ziel der ganzen See-Expeditionen, die die Europäer damals unternahmen.
So jedenfalls geht die Geschichte, die uns in der Schule erzählt wird.
Was die Europäer wirklich suchten, wird in kaum einer Schule unterrichtet. Afrika war keine Durchgangsstation auf dem Weg nach Indien. Afrika war ihr Ziel. Afrika war die eigentliche „Neue Welt“ – nicht Amerika.
Erfahren habe ich das erst, als ich „Afrika und die Entstehung der modernen Welt“ des US-amerikanischen Journalisten Howard W. French gelesen habe. Rezensenten feierten es sofort nach Erscheinen als Meisterwerk, das die Sicht vieler Menschen aus dem Westen auf die Welt verändere – völlig zu Recht. Afrika liegt nicht im Weg herum, Afrika ist im Zentrum. Eigentlich reicht ein Blick auf eine Weltkarte, um das zu sehen.
Afrika ist Europas Nachbarkontinent, aber wenn wir ehrlich sind: Er könnte nicht weiter weg sein. Auf vielen mentalen Karten ist dort noch immer ein weißer Fleck. So, wie er tatsächlich auf vielen zeitgenössischen Karten der Seefahrer eingezeichnet war. Das liegt daran, dass wir nicht wissen, welchen Platz die Länder Sub-Sahara-Afrikas wirklich in unserer Geschichte spielten. Denn wenn für die Seefahrer Afrika viel wichtiger war als Asien – was bedeutet das?
Howard W. French gibt die Antwort: Ohne Afrika gäbe es das heutige Europa nicht. Dass Europa auch deswegen so reich ist, weil es die afrikanischen Länder jahrhundertelang ausbeuten konnte, wissen inzwischen viele. Weniger bekannt, aber entscheidend, um die Rolle Afrikas zu verstehen: Erst dieser Kontinent erschuf den Raum, den wir heute „den Westen“ nennen. Die Industrialisierung Englands, Frankreichs und Deutschlands wäre ohne die versklavten Männer und Frauen Afrikas und deren Nachfahren so nicht möglich gewesen.
Dabei suchten die Seefahrer in Afrika zunächst gar keine Sklaven.
60.000 Mann, Tonnen von Gold – es begann mit einer vergessenen Reise
Die Europäer wollten Westafrikas Gold. Die interessante Frage ist: Woher wussten sie überhaupt, dass es dort Gold gibt? Das Kap Bojador, südlich der Kanarischen Inseln, markierte das Ende der europäischen Welt. Weiter war niemand gesegelt (und zurückgekehrt, um davon zu berichten). Die Sahara selbst zu durchqueren? Für Europäer fast unmöglich.
Aber am 18. Juli 1324 tauchte in Kairo ein besonderer Besucher auf; er war sehr weit gereist und ihn begleiteten 60.000 Menschen, darunter 12.000 Sklaven, die unter anderem 18 Tonnen pures Gold trugen. Der Besucher hieß Mansa Musa, König von Mali, und er war auf der Durchreise in Richtung Mekka. Bei seinem Aufenthalt in Kairo gab er soviel Gold aus, dass der Wert der lokalen, goldbasierten Währung abstürzte. „Dieses Datum, an das sich so gut wie niemand außer ein paar Historiker des mittelalterlichen Afrikas erinnern, kann als einer der wichtigsten Momente in der Entstehung der transatlantischen Welt betrachtet werden“, schreibt Howard W. French. Er schreibt das, weil Nachrichten von diesem Besuch auch Europa erreichten, wo schon bald die ersten Karten ein Königreich voller Gold irgendwo in Westafrika zeigten – die Fantasie war geweckt.
20 Jahre nach dem Besuch des malischen Königs in Kairo passierte mit Jaume Ferrer schließlich der erste Europäer das Kap Bojador, um den Ort zu finden, an dem es so viel Gold gab. Die Europäer brauchten es, denn Europa „als wirtschaftlich randständiger Teil der langsam entstehenden Weltwirtschaft hatte nur wenige Industrieerzeugnisse, die es den reicheren Handelszentren in China, dem indischen Subkontinent und Südostasien im Tausch gegen so hochbegehrte Luxusgüter wie Seide, feine Baumwolle und Gewürze anbieten konnte“, wie French schreibt. Die „Gewürze Indiens“ also, von denen in der Schule immer so viel die Rede war – ja, sie spielten eine Rolle in der Geschichte der Seefahrer. Aber nur eine nachgeordnete. Ohne Afrika kein Gold. Ohne Gold kein Pfeffer, kein Zimt, keine Nelken, keine Muskatnuss.
Portugals König nannte sich „der Afrikaner“
Eine der bekanntesten historischen Figuren: Christoph Kolumbus, der als erster Europäer seiner Zeit nach Amerika segelte, aber eigentlich einen Westweg nach Indien finden wollte. Er hatte zunächst Probleme, ein Königshaus zu finden, das seine Reise finanzierte. Wie kann das sein, wenn doch Indien angeblich das große Ziel war? Und warum dauerte es geschlagene zehn Jahre, bis Portugal eine weitere Expedition nach Indien schickte, nachdem Bartolomeu Dias als Erster die Südspitze Afrikas umsegelt und damit den Seeweg nach Indien frei gemacht hatte? Und wieso nannte sich der portugiesische König Alfons V. stolz „der Afrikaner“? All das ergibt nur Sinn, wenn nicht Indien das große Ziel war, sondern Afrika.
Wir müssen verstehen, und das beschreibt Howard W. French in seinem Buch sehr gut, wie Europa zu dieser Zeit aussah, weltgeschichtlich und vor allem wirtschaftlich.
Ohne Afrika wäre Europa nur eine Sackgasse am Ende Eurasiens
Die Kreuzzüge waren alle gescheitert; die muslimischen Reiche südöstlich von Europa stellten für die europäischen Königshäuser ein unüberwindbares Bollwerk dar. Gleichzeitig hatte die Pest vor allem im 14. Jahrhundert die Bevölkerung des Kontinents dezimiert. Es mangelte überall an Arbeitern, auch in den wenigen Silberminen des Kontinents.
Europa war im Vergleich mit den anderen großen Zivilisationen dieser Zeit unterbesetzt und unterfinanziert. Nicht den Weg übers Land, sondern den Weg über die Meere zu nehmen, stellte einen strategischen Befreiungsschlag dar. Es gab den Königshäusern Europas finanziellen und geografischen Spielraum. Ohne Afrika und später die Amerikas, also Nord- und Südamerika, wäre Europa eine Sackgasse am Ende der gigantischen Landmasse Eurasiens geblieben.
Die Portugiesen errichteten entlang der Westküste Afrikas Stützpunkte. Der wichtigste, Elmina, liegt im heutigen Ghana und, ja, er diente auch der Versorgung vorbeisegelnder Schiffe auf dem Weg nach Indien. Aber als die Portugiesen an der Küste landeten, hatten sie mehr als 100 Handwerker dabei. Sie errichteten keinen kleinen Handelsstützpunkt, sondern eine Festung – ihr Hauptquartier an der afrikanischen „Goldküste“, wie sie das Land in ihren Quellen nannten.
Bald begann reger Handel. Die Portugiesen brachten Textil- und Metallwaren, die in den afrikanischen Staaten dieser Zeit beliebt waren. Im Gegenzug bekamen sie Gold – und bald auch Sklaven in immer größerer Zahl. French schreibt in seinem Buch, dass dieser Handel die europäische und wirtschaftliche Verflechtung förderte. Denn die Portugiesen kauften ihre Handelswaren auch in den Gebieten des heutigen Deutschlands und den Niederlanden. So ein Handelsnetzwerk hatte es bis dato nicht gegeben; es war der Beginn der komplexen Arbeitsteilung, die Europa heute auszeichnet. Am Anfang des 16. Jahrhunderts warf der portugiesische Handel mit den reichen Händlern und Königen Afrikas doppelt so viel Profit ab wie der Handel mit Indien.
Wenn es ihren Interessen diente, ließen sich die afrikanischen Reichen auf diese Handelsabkommen ein. Zunächst vorsichtig, dann mit immer größerer Schläue. Es war eben nicht so, dass die Portugiesen mit drei Kanonen und elf Flinten in Afrika landeten und die einheimische Bevölkerung schicksalsergeben tat, was die „Eroberer“ wollten.
Zu dieser Zeit hatten sich an der Westküste Afrikas mehrere große Königreiche gebildet, und die begegneten Portugal auf Augenhöhe. „Und obwohl man nur selten davon hört, sollte dieser Modus, bei dem es nicht nur um Palaver, sondern um die gegenseitige Anerkennung von Souveränität und die ganze Bandbreite der Staatskunst ging, die europäischen Beziehungen zu Subsahara-Afrika bis weit ins 17. Jahrhundert hinein dominieren und die Entsendung von Botschaftern, die Schaffung von Bündnissen, formalisierte Handelsvereinbarungen und sogar Verträge umfassen“, schreibt French.
Auch der Handel, der die nächsten Jahrhunderte sagenhafte Profite für Europa abwerfen und ganze Weltreiche in den Amerikas begründen sollte, war viel geregelter, als wir heute annehmen: der Sklavenhandel.
Noch wertvoller als Gold: Sklaven
„Die Portugiesen sahen, dass viele Königreiche in Guinea gerne mit Sklaven handelten“, schreibt French. „[Diese Praxis] war sowohl in den schwarzen Gesellschaften als auch im ganzen Sahararaum bereits weit verbreitet.“ Manchmal fungierten die Portugiesen sogar nur als Mittelsmänner, wenn sie etwa Sklaven aus Benin an die Menschen im heutigen Ghana verkauften. Man könne sich vorstellen, dass das „viel dazu beigetragen hat, diesen neuen Handel [für die Europäer] zu ‚normalisieren“, schreibt French.
Sklaven waren deswegen so begehrt, weil quasi überall Menschen fehlten. In Europa selbst fehlten sie wegen der Pest. In den afrikanischen Gesellschaften wiederum war die Bevölkerungszahl, über die ein Herrscher regierte, ein wichtiger Gradmesser für dessen Macht. Und natürlich fehlten auch Menschen in den nord- und südamerikanischen Kolonien der europäischen Länder. Die ersten Plantagen auf Madeira hatten den Portugiesen bereits gezeigt, dass sie ihre Eroberungen nur dann ausbeuten konnten, wenn sie genug Arbeitskräfte hatten. Als sie dann auch noch Brasilien für sich reklamierten, brauchten sie jedes Jahr Zehntausende Sklaven. Ohne deren Arbeit waren die Kolonien nutzlos. Mit ihrer Arbeit allerdings wurden sie zu Quellen sagenhaften Reichtums für alle europäischen Kolonialmächte.
Davon zeugen die schicken, aufwendig gestalteten Altstädte in portugiesischen Algarve-Städten wie Lagos, die Bilanzen großer Banken zu dieser Zeit, genauso wie die blanken Zahlen: Einer Schätzung zufolge lieferten allein die Karibik-Kolonien 15 Prozent des Wachstums während der französischen Boomjahre im 18. Jahrhundert. Eine Million Franzosen lebten zu dieser Zeit direkt oder indirekt von Kolonien, Sklavenarbeit und Überseehandel.
Wichtiger als die Kolonien Nordamerikas: Barbados, Haiti, Jamaika
Filme, Bücher und Erzählungen führen uns bis heute in die Irre. Die wertvollsten Kolonien waren nicht in Nordamerika, sondern in der Karibik – dank der Arbeit afrikanischer Sklaven. Inseln wie Barbados, Haiti, Martinique und Jamaika waren mit ihren Zuckerrohrplantagen die unbestrittenen Profitzentren der westlichen Hemisphäre. Die Gebiete der heutigen USA und Kanadas lagen an der Peripherie dieser Wirtschaftswelt und sie verdienten ihr Geld damit, die Zuckerinseln mit allem zu versorgen, was diese brauchten. Das Land dort war viel zu wertvoll, um es für etwas anderes als den Zuckerrohranbau einzusetzen.
Auf diesen Inseln hatten die Kolonialherren ausgefeilte arbeitsteilige Systeme eingerichtet, die komplexer waren als alles, was die westliche Welt bis dahin kannte. Erst im 19. Jahrhundert entstanden in Europa Fabriken, die es in der Größe mit diesen Plantagen aufnehmen konnten. Und es waren britische Zuckerrohrbarone, die jeden Arbeitsschritt ihrer Sklaven auf den Plantagen beobachteten, beschleunigten und schließlich aufteilten – und damit Industrieprozesse vorwegnahmen, die heute jeder kennt.
Energieboost für die Industrialisierung: der Zucker der Karibik
Es waren aber nicht nur Organisations-Knowhow und Geld, das Europa von den Sklaven und aus den karibischen Kolonien bekam. Es waren auch: Kalorien. Zucker und später auch Tabak waren der Treibstoff für die Industrialisierung der europäischen Länder. Ein Hektar tropischer Zuckeranbau lieferte so viele Kalorien wie mehr als vier Hektar Kartoffeln oder neun bis zwölf Hektar Weizen. Der Zuckeranbau legte den „Grundstein für modernen Massenkonsum und veränderte komplett die Ernährungsgewohnheiten in Europa“, so French. Ähnliches gilt für die Baumwolle, die ab dem 18. Jahrhundert in Nordamerika von Sklaven angebaut wurde – und ohne die die von der Textilindustrie getriebene wirtschaftliche Transformation Europas komplett undenkbar gewesen wäre.
Aber, und das ist der eigentliche und wichtigste Punkt dieses Buches, was Sklaverei und Afrika für die Industrialisierung geleistet haben, verblasst angesichts einer noch größeren historischen Dynamik. Die „Neue Welt“ Afrika hat buchstäblich eine andere neue Welt erschaffen. Denn nur durch die Arbeit von Millionen afrikanischer Sklaven gelang es den Europäern, die Amerikas zu kolonisieren.
Wie „der Westen“ entstand
Ich zitiere hier French noch einmal, dieses Mal ausführlicher, denn das ist der eine Absatz, der auf den Punkt bringt, warum wir Afrika anders betrachten müssen: „Gerade die Gründung dieser atlantischen Welt, einer beispiellos großen geografischen Sphäre, die sich über vier Kontinente erstreckt, [hat] das geschaffen, was wir heute als den Westen betrachten […]. Wie hätte Europa ohne die Amerikas und ihre langen und tiefen Verbindungen zu Afrika in der historischen Bilanz des letzten halben Jahrtausends zu Buche geschlagen? Die Beantwortung dieser Frage stellt nicht nur unser Verständnis der modernen Geschichte in Frage, sondern erfordert auch ein grundlegendes Überdenken der westlichen Identität selbst. Was das moderne Europa am meisten von anderen Regionen der Welt unterscheidet, sind nicht so sehr irgendwelche ihm innewohnenden Qualitäten, wie Kulturchauvinisten und diejenigen, die sich auf die race fixieren, behaupten; sondern vielmehr die Tatsache, dass seine Völker den Atlantik zu einem besonders günstigen Zeitpunkt überquerten und das Leben an allen Ufern dank des unverzichtbaren Beitrags der Afrikaner völlig veränderten.“
Wir sind Europäer – dank Afrika.
Warum diese Geschichte nicht erzählt wird
Das hat uns niemand in der Schule erzählt. Trotzdem muss ich die Schulen aus der Verantwortung nehmen. Denn sie können immer nur das eingedampfte Wissen vermitteln, das eine Gesellschaft gerade für wichtig hält. Dort, in der Gesellschaft, liegt die Verantwortung. Warum die Geschichte nicht so erzählt wird, wie ich sie gerade beschrieben habe, ist die wichtigste Frage, wenn Europa und Afrika gemeinsam im 21. Jahrhundert agieren wollen. Eine Partnerschaft, die auf einer Lüge fußt, kann nicht funktionieren.
Ich nenne es nun doch eine Lüge. Wir Europäer haben uns selbst und die Afrikaner belogen. Dass niemand weiß, wie wichtig Afrika für die Entstehung des modernen Europas war, ist kein Zufall. Hätten wir diese Geschichte erzählt, hätten wir uns selbst nicht jahrhundertelang die Geschichte von der Überlegenheit westlich-europäischer Kultur erzählen können. Der Auslassung liegen also Narzissmus und Rassismus zu Grunde. Sie ist boshaft. Der Ausweg ist so banal wie schwierig: Einfach erzählen, wie es wirklich war.
Redaktion: Isolde Ruhdorfer, Schlussredaktion: Susan Mücke, Fotoredaktion: Philipp Sipos, Audioversion: Christian Melchert