Viele Menschen stehen auf einem öffentlichen Platz, um gegen die AfD zu demonstrieren. Es ist dunkel, sie halten die Taschenlampen ihrer Handys in die Höhe.

picture alliance/dpa | Sebastian Willnow

Politik und Macht

Interview: So könnten die Anti-AfD-Proteste nachhaltig wirken

Lernen können wir ausgerechnet von Italien.

Profilbild von Lea Schönborn
Reporterin

Vergangenes Wochenende haben in Deutschland fast eine Million Menschen gegen die AfD protestiert. Aber werden solche Proteste der AfD tatsächlich schaden?

Grund genug, um einen Blick nach Italien zu werfen. Ja, Italien. Dort ist zwar seit 2022 mit Giorgia Meloni eine rechte Politikerin an der Macht. Aber 2019, also ein paar Jahre vorher, bildete sich dort eine Protestbewegung gegen Rechtsextremismus, die „Sardinen“. Deren Demonstrationen kosteten die rechtsextremen Parteien Lega und Fratelli d’Italia bei den darauffolgenden lokalen Wahlen vier Prozentpunkte.

Zu diesem Schluss kommt der Politikwissenschaftler Francesco Colombo gemeinsam mit Kolleg:innen in dieser Studie. Was braucht es, damit Proteste gegen rechtsextreme Parteien tatsächlich wirken? Das wollte ich von ihm wissen.

Was haben Sie gedacht, als Sie von den Protesten in Deutschland hörten? Hat es Erinnerungen an die Sardinen-Proteste wachgerufen?

Die Proteste in Deutschland haben sicherlich einige Ähnlichkeiten mit den Protesten der Sardinenbewegung in Italien 2019 und 2020. Man hat das Gefühl, dass die Proteste für die deutsche Öffentlichkeit wirklich wichtig sind, es nehmen viele Menschen daran teil. Und gleichzeitig erlebt die extreme Rechte einen Aufschwung. Aber es gibt einen wichtigen Unterschied: Wir hatten nie ein solches Momentum, wie es durch den Bericht über das private Treffen in Potsdam ausgelöst wurde, an dem AfD-Politiker:innen teilnahmen und dort über „Remigration“ von deutschen Staatsangehörigen sprachen. Wir hatten keinen so großen öffentlichen Aufschrei aufgrund von Informationen, die an die Öffentlichkeit gelangt sind.

Wie genau kann ich mir die Sardinen-Proteste denn vorstellen?

Im Grunde war es eine Graswurzel-Bewegung, die während der Wahlkämpfe der Regionalwahlen in Emilia-Romagna und Calabrien entstanden ist. Eine Gruppe von Leuten hat während des Wahlkampfes Ende 2019 über Facebook einen Flashmob organisiert. Sie wollten sich zu einem Gegenprotest treffen, während Matteo Salvini, Parteisekretär der Lega, eine Kundgebung in Bologna abhielt. So wollten sie zeigen, dass viele Menschen gegen die fremdenfeindliche, antidemokratische und populistische Politik waren, die Salvini vertrat. Und dieser Protest breitete sich von dort in andere Städte in der Region aus. Er kam schließlich auch in anderen Teilen des Landes an, in denen zu diesem Zeitpunkt gar keine Wahlen stattfanden.

Warum heißt sie Sardinen-Bewegung? Mit der Insel Sardinien hat das nichts zu tun, oder?

Nein, es spielt auf die Sardinen, also die Fischart an. Das war die Demonstrationstaktik: Alle sollten auf einen Platz gehen und dort so dicht gedrängt stehen wie Sardinen in der Dose liegen.

Und wie viele Menschen haben an diesen Protesten teilgenommen?

Wir haben keine genauen Zahlen, aber es waren ziemlich viele. An einigen der Veranstaltungen nahmen über zehntausend Menschen teil. Ich habe aber gesehen, dass bei den aktuellen Demonstrationen in Deutschland noch viel mehr Menschen auf der Straße sind.

Vergangenes Wochenende haben fast eine Million Menschen protestiert.

In Italien gab es kleine und große Veranstaltungen. Auch kleine Städte hatten eigene Veranstaltungen. Es war also sehr basisdemokratisch. Die Bürger vor Ort beschlossen, Mobilisierungsveranstaltungen zu organisieren. Ähnlich wie in Deutschland jetzt.

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Lassen Sie uns darüber sprechen, wie Sie bei Ihrer Forschung vorgegangen sind, um dann zu sehen, was wir in Deutschland daraus lernen können. Was waren Ihre wichtigsten Ergebnisse?

Wir wollten herausfinden, ob lokale Mobilisierung einen Einfluss auf den Erfolg von rechtsextremen Parteien hat. Wir konzentrieren uns, wie gesagt, auf den Wahlkampf im Jahr 2020 und besonders auf Emilia-Romagna, eine Region, in der die Bewegung besonders populär war. In dieser Zeit hatten die Rechtsextremen ziemlich starken Auftrieb. Sie hatten gerade sehr gute Ergebnisse bei den Europawahlen erzielt, sogar in Regionen wie Emilia-Romagna, die traditionell eher links orientiert sind.

In unserer Studie zeigen wir, dass die Gegen-Mobilisierung tatsächlich sehr erfolgreich und effektiv war, um den Erfolg der rechtsextremen Parteien zu schmälern: Die Ergebnisse der rechtsextremen Parteien, also von Fratelli d’Italia und von La Lega, lagen dort, wo die Menschen gegen die Rechtsextremen protestierten, um vier Prozentpunkte niedriger als erwartet. Unsere Forschung zeigt, dass wir uns nicht nur darauf konzentrieren sollten, was die Eliten, Parteien und Politiker:innen tun können, um der rechtsextremen Politik entgegenzuwirken. Wir sollten auch schauen, was die Zivilgesellschaft tun kann.

Wie erklären Sie sich den Unterschied?

Es ist schwierig, den genauen Mechanismus zu ergründen. Aber wir vermuten, dass die Sardinen-Bewegung gezeigt hat, dass viele Menschen die rechtsextreme Rhetorik und den rechtsextremen Politikstil für inakzeptabel halten. Und dass das in der Folge zu einer Art Stigmatisierung der rechten Parteien geführt hat, auch für Sympathisant:innen solcher Parteien.

Wir vermuten, dass die Wirkung solcher Proteste sogar noch darüber hinausgehen kann. Die Proteste können Menschen tatsächlich davon überzeugen, dass rechtsextreme Politik keine Option ist. Denn Demonstrationen wie bei der Sardinen-Bewegung zeigen, dass viele Menschen diese Parteien nicht wählen würden. Die Proteste liefern der Öffentlichkeit also Informationen, die den Bürger:innen gewissermaßen bei ihrer Wahlentscheidung helfen.

Also müssten die Proteste in Deutschland eigentlich noch stärker wirken, weil hier noch mehr Menschen auf die Straße gehen?

Ich denke tatsächlich, dass die Proteste in Deutschland noch effektiver sein werden als in Italien. Zum einen, weil rechtsextreme politische Akteure in Deutschland viel stärker problematisiert werden als in Italien. Italien hat eine viel längere Geschichte der Normalisierung rechtsextremer Politik. Das hat es in der Form in Deutschland in den vergangenen Jahrzehnten nicht gegeben. Daher vermute ich, dass es in Deutschland immer noch nicht sozial erwünscht ist, sich als Anhänger der extremen Rechten zu outen. In Italien stört das die meisten schon seit Langem nicht mehr.

Außerdem zeigen die Proteste, dass ein großer Teil der deutschen Bevölkerung über die rechtsextreme Politik empört ist. Das Signal wird nicht nur an die Öffentlichkeit gehen, wie es in Italien der Fall war, sondern es ist auch ein Signal an die Politiker. Und das ist ein weiterer Unterschied, weil sich italienische Parteien der Mitte und der rechten Mitte in der Vergangenheit gegenüber den extremen Rechten sehr offen gezeigt und auch Regierungskoalitionen mit ihnen gebildet haben. Das ist in Deutschland bisher nicht passiert. Die Proteste sind also ein Signal an die Mitte-Rechts-Parteien, dass ein großer Teil der Bevölkerung jede Art von Regierungskoalition mit der AfD, auch auf lokaler Ebene, nicht gutheißen würde.

In Deutschland befürchten einige, dass die Proteste die Unterstützung für die AfD sogar noch verstärken könnten, weil sich mögliche Wähler:innen dadurch stigmatisiert fühlen und dann noch mehr nach rechts abdriften könnten.

Das Risiko, dass es zu einer starken Gegenreaktion kommt, zu einer Art Backlash, ist sehr begrenzt. Eine wichtige Rolle spielen dabei aber die Medien und die Parteien und die Art und Weise, wie sie die Proteste darstellen. Wenn sie sie als ein Randphänomen darstellen, das mit einer ganz bestimmten Gruppe zusammenhängt, vor allem mit der radikalen Linken, ist das der Mobilisierung nicht zuträglich. Dann könnte es sogar zu einer Art Gegenreaktion kommen. Aber wenn die Medien und auch die Parteien der Mitte und der rechten Mitte diese Proteste tatsächlich unterstützen, dann ist das Risiko eines Rückschlags sehr begrenzt. Wenn man nicht ohnehin schon AfD-Anhänger ist, ist die Gefahr also sehr gering, dass man durch die Proteste überzeugt wird, dass die AfD eine gute Wahl ist.

Die Literatur, die sich mit Protestbewegungen befasst, zeigt, dass Proteste tatsächlich ziemlich effektiv darin sind, die Agenda der Protestierenden voranzutreiben, weil sie die Themen, die sie diskutieren, als wichtig erscheinen lassen.

Auf der Grundlage der vorhandenen Literatur über Protestbewegungen kann man außerdem sagen, dass ein Protest am effektivsten ist, wenn er gewaltfrei bleibt. Schon bei einer einzigen gewaltsamen Situation neigen Medien dazu, Proteste negativer darzustellen. Das kann dann einen Rückkopplungseffekt entfalten.

Außerdem sollten Bewegungen so inklusiv wie möglich sein, um Rückschläge zu vermeiden: Sie sollten auch Menschen einbeziehen, die vielleicht auf der rechten Seite des politischen Spektrums stehen, aber rechtsradikale Positionen ablehnen. Man muss also Menschen mit sehr unterschiedlichen Ansichten einbeziehen. Die Parteien sollten nicht versuchen, diese Proteste zu instrumentalisieren und sie für ihre eigenen politischen Zwecke zu nutzen. Es sollte idealerweise ein Protest aller Menschen in Deutschland sein.

Das ist wirklich interessant, weil in Deutschland bereits diskutiert wird, ob die Proteste zu inklusiv sind, weil sich auch Politiker:innen wie Bundeskanzler Olaf Scholz oder Außenministerin Annalena Baerbock den Protesten anschließen. Manche sagen, dass die eine Mitschuld tragen, dass die AfD so beliebt geworden ist, weil sie zum Beispiel eine exklusive Haltung in der Migrationspolitik eingenommen haben.

Ich kenne dieses Gefühl, wenn Personen auftauchen, die ich als Teil des Problems sehe. Man hat das Gefühl, man sollte ihnen die Schuld geben. Aber ich denke, dass Proteste wie die gegen die AfD oder gegen La Lega und Fratelli d’Italia nicht der Zeitpunkt sind, um solche Probleme zu lösen. Das sind die Momente, in denen es wichtig ist, Menschen mit ähnlichen Vorstellungen von Demokratie stärker einzubeziehen und zusammenzuhalten.

Was können andere Länder wie Deutschland noch von Ihren Erkenntnissen lernen?

Wir können daraus lernen, dass lokale Mobilisierung sehr wichtig ist. Es könnte also sinnvoll sein, solche Proteste auch an Orte zu bringen, die eher ländlich sind oder an Orte, die normalerweise nicht an solchen Bewegungen beteiligt sind. Das sind oft auch die Orte, an denen es besonders wichtig ist, diese Botschaft zu verbreiten.

Dieser Mechanismus der Stigmatisierung funktioniert nur bei Menschen, die noch überlegen, ob sie die AfD wählen sollen oder nicht, oder?

Es ist schwierig zu sagen, inwieweit diese Proteste die Einstellung von Menschen ändern können, die bereits davon überzeugt sind, dass die AfD Recht hat. Aber es ist dennoch gut, klare Kante nach rechts zu zeigen. Es ist wichtig, den rechtsextremen Diskurs nicht zu normalisieren und deren Sprache und Ideen nicht zu übernehmen. Das verhindert eher einen langfristigen Erfolg, als sie einfach mitmachen zu lassen.

Irgendwie stimmt mich das, was Sie sagen, hoffnungsvoll.

Ich bin eigentlich kein sehr optimistischer Mensch. Es ist interessant, dass Sie das, was ich sage, als hoffnungsvoll empfinden.

Vielleicht ist das der perfekte Zeitpunkt, um über die Realität in Italien zu sprechen. In Italien hat La Lega vielleicht Stimmen verloren, aber eine andere rechtsgerichtete Partei, Fratelli d’Italia, hat bei den nationalen Wahlen 2022 circa 26 Prozent der Stimmen gewonnen und zusammen mit La Lega eine rechtsgerichtete Regierung gebildet. In Deutschland soll jetzt auch eine neue rechte Partei gegründet werden, die Werte-Union, die etwas weniger rechts ist als die AfD, aber immer noch auf derselben Seite steht. Viele diskutieren jetzt darüber, ob sich das rechte Spektrum dadurch aufspaltet oder ob es stärker wird.

Auf der Basis meiner Beobachtungen in Italien könnte diese Spaltung tatsächlich problematisch sein und zur Normalisierung der AfD beitragen. Das wäre der Fall, wenn durch eine Parteigründung eine Koalitionsregierung der extremen Rechten möglich wäre. Wenn etablierte politische Akteure die gleiche Art von Rhetorik und politischen Positionen wie die rechtsextremen Parteien vertreten, neigen sie dazu, den rechtsextremen Diskurs zu normalisieren.

Wenn die gesamte Mitte und die rechte Mitte an der Idee festhalten würden, dass keine Koalition mit der AfD eingegangen wird, sähe es anders aus. Kurzfristig ist das gar keine gute Lösung, weil die AfD so nie regieren würde. Wir wissen, dass Regieren die Unterstützung tatsächlich verringern kann. So ist es auch in Italien passiert. Aber auf lange Sicht halte ich die Anpassung für eine sehr schlechte Strategie, weil sie dazu neigt, rechtsextreme Diskurse zu normalisieren und akzeptabler zu machen.

Die italienische Geschichte zeigt dies. Deutschland hat seit dem Ende des Naziregimes rechtsextreme politische Ansichten stigmatisiert, und solange der Mainstream das tat, blieb rechtsextreme Politik immer am Rande der Politik. In Italien hingegen haben Mitte-Rechts-Parteien seit den 1990er Jahren begonnen, Koalitionsregierungen mit rechtsextremen politischen Akteuren zu bilden, und haben deren Politik, Rhetorik und populistischen Standpunkte übernommen. Dies führte dazu, dass die Mitte-Rechts-Parteien immer kleiner wurden und schließlich ganz verschwanden. Und jetzt ist die extreme Rechte der Hauptakteur auf dem rechten Flügel des politischen Spektrums in Italien.


Das Gespräch wurde auf Englisch geführt und ins Deutsche übersetzt.

Redaktion: Rebecca Kelber, Schlussredaktion: Susan Mücke, Fotoredaktion: Philipp Sipos