„Sie haben Papa erschossen und Mama und Avigail“, sagt Michael (9) zu seinem Onkel am Telefon. Als Hamas-Terroristen am 7. Oktober ihr Haus in Kfar Aza stürmten, versteckten sich Michael und seine sechsjährige— Schwester Amalia im Schrank. Der Vater nahm ihre dreijährige Schwester Avigail auf den Arm und rannte aus dem Haus. Draußen ermordeten ihn die Terroristen. Vierzehn Stunden lang waren Michael und Amalia mit der Leiche ihrer toten Mutter im Schutzraum eingeschlossen. Die kleine Avigail konnte sich aus den Armen ihres toten Vaters befreien und wurde von Nachbarn gefunden, nur um dann mit ihnen nach Gaza verschleppt zu werden.
Habiba (8) hatte große Hoffnungen für die Zukunft. Man hatte ihr von der internationalen Kinderrechtskonvention erzählt, die unter anderem das Recht auf Bildung und das Recht auf Gesundheit vorsieht. Als die Luftangriffe auf Gaza begannen, konnte Habiba nicht aufhören, vor Angst zu zittern. Am Morgen des 14. Oktober wirkte sie schließlich etwas gefasster. Als sie die Explosionen hörte, versuchte sie ihre Mutter zu trösten. „Hab keine Angst“, sagte sie zu ihr. Sie nahm ihre Malstifte und begann, den Fernseher zu malen, in dem über den Krieg berichtet wurde. Eine Stunde später schlug eine israelische Rakete im Haus der Familie ein, verletzte alle Bewohner:innen und beendete Habibas kurzes Leben.
Es fällt nicht schwer, sich in den Schmerz der israelischen Opfer einzufühlen – ebenso wie in den der palästinensischen Opfer. Paradoxerweise aber scheint es fast unmöglich, Mitgefühl für beide Seiten gleichzeitig zu haben. Warum nur?
Diese Frage stellt sich offenbar nicht nur in diesem Konflikt. Es gibt eine Studie zum Thema psychische Abstumpfung im Angesicht von Völkermorden. Unter anderem geht es darin um Kinder, die unter Hunger leiden. Die Teilnehmer:innen der Studie zeigten weniger Empathie, wenn sie aufgefordert wurden, zwei Opfern zu helfen anstelle von einem. Der US-Psychologe Paul Bloom glaubt, dass Empathie ihre Tücken hat. Er vergleicht sie mit einem Scheinwerfer, der eine Person anstrahlt und andere im Dunkeln lässt. Bloom zufolge neigen wir dazu, den Scheinwerfer der Empathie auf diejenigen zu richten, die uns am ähnlichsten sind. Diese Tendenz spielt eine wichtige Rolle in der Beziehung zwischen Eltern und Kindern, aber auch bei Rassismus. Das Licht, das wir auf diejenigen werfen, mit denen wir uns identifizieren und die wir für wertvoller halten, wirft einen Schatten auf das Leiden anderer.
Darüber hinaus ist kognitive Empathie eine Form der Intelligenz, über die sogar psychopathische Mörder verfügen. Der Hamas-Terrorist, der die Ermordung einer älteren Frau live auf Facebook übertrug, tat dies genau deshalb, weil er kognitiv den Schmerz nachempfinden konnte, den das Video ihrer Familie zufügen würde. Tatsächlich erfuhr die Familie vom Tod ihrer Verwandten, als sie das Video der Hinrichtung sah.
In seinem Buch „Against Empathy“ argumentiert Bloom, dass Empathie nicht als moralischer Kompass dienen sollte. Stattdessen plädiert er für Mitgefühl: Dies bedeutet mehr, als nur den Schmerz eines anderen nachzuempfinden. Es beinhaltet ein tiefes Gefühl der Fürsorge und den aufrichtigen Wunsch, Leiden zu lindern.
Verlorene Seelen
Zehn Tage nach dem Anschlag der Hamas hielt der Philosoph Slavoj Žižek auf der Frankfurter Buchmesse eine eindringliche Rede. Žižek verurteilte nicht nur die Hamas unmissverständlich, sondern rechtfertigte das Recht Israels auf Vergeltung. Trotz Protesten aus dem Publikum widmete er den Großteil seiner Rede den Hintergründen der Besatzung und der anhaltenden systematischen Unterdrückung des palästinensischen Volkes durch die israelische Regierung. Ohne Partei für die Hamas oder die israelische Regierung zu ergreifen, gelang es Žižek, eine kritische Analyse der aktuellen Situation und ihrer Geschichte zu präsentieren. Weiter sagte er: „In dem Moment, in dem man akzeptiert, dass es unmöglich ist, für beide Seiten gleichzeitig zu kämpfen, hat man seine Seele verloren.“
https://www.youtube.com/watch?v=j8pwQ4uUxoQ&t=900s
Obwohl ich diese Botschaft nachvollziehen kann, befürchte ich, dass es für die meisten Israelis und Palästinenser im Moment sehr schwierig ist, sich für beide Seiten gleichzeitig einzusetzen. Ihre Seelen leiden. Deshalb sind sie nicht unbedingt verloren, aber sie stehen derzeit unter höchstem Stress, erleben Angst und Trauer.
Über den Autor
Kann man von uns, Israelis oder Palästinensern, wirklich erwarten, dass wir in dieser Situation tiefes Mitgefühl für die anderen zeigen? Während wir im Dunkeln tappen, angegriffen werden, unsere Toten begraben? Während wir nicht wissen, ob unsere Lieben tot oder lebendig sind, und befürchten, dass unsere eigenen Kinder die nächsten sein werden?
Wie soll die internationale Gemeinschaft auf so viel Leid reagieren?
Rechtfertigen der „Schulterschluss mit Israel“ und die Entmachtung der Hamas die Zerstörung des Gazastreifens und Tausende von Opfern einer beispiellosen humanitären Krise? Ist das wirklich ein Weg, um den Israelis eine sichere Zukunft zu garantieren? Und bedeutet „Solidarität mit Palästina“, die Augen zu verschließen und die Verbrechen der Hamas gegen die Menschlichkeit zu verharmlosen oder gar zu rechtfertigen? Wie sehr hilft die Unterstützung blutrünstiger Nihilisten der palästinensischen Sache wirklich?
Das sind drei typische Antworten
Vielleicht lag es am Ausmaß des Angriffs, an der Brutalität oder wie die Gewalt dokumentiert wurde. Vielleicht lag es auch an der schieren Intensität der menschlichen Tragödie. Aber man muss anerkennen, dass die Welt vor diesem Krieg nicht die Augen verschlossen hat. Führende Politiker:innen verurteilten ihn, Proteste füllten die Straßen, finanzielle und militärische Unterstützung wurde geleistet, und in den sozialen Medien entbrannten erbitterte Kämpfe.
Die Reaktionen fielen im Allgemeinen in eine von drei Kategorien:
1. JA / NEIN
Den sozialen Medien nach zu urteilen, kann man die Welt in Gut und Böse einteilen. Keine Nuancen, kein Kontext, keine Grauzonen. Um das Böse wirklich auszurotten, muss man deshalb einen klaren Schnitt machen und sich entscheiden: Entweder steht man auf der Seite der Opfer oder auf der Seite der Täter.
Leider wird diese generelle Weigerung, Komplexität anzuerkennen, durch die algorithmischen Zyklen von Engagement und Wut noch verstärkt. Je extremer eine Position ist, desto eher kann sie auf X oder Instagram gepostet werden und desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass sie geteilt wird und viral geht. Umgekehrt gilt: Je nuancierter und weniger einprägsam eine Position ist, desto eher wird sie vom Algorithmus ignoriert.
Bedeutet der Vergleich der Hamas mit der militanten islamistischen Gruppe ISIS, dass diese „mit allen Mitteln“ eliminiert werden sollte? Rechtfertigt das Ziehen von Parallelen zwischen den jüdischen Opfern der Hamas und den Opfern des Holocaust durch die Nazis die Zerstörung des Gazastreifens? Und wie können wir erwarten, dass sich Menschen um das Leben der Israelis sorgen, wenn wir uns nicht um das Leben der Palästinenser sorgen?
Und was hat die angesehenen Künstler und Künstlerinnen, die den offenen Brief für einen Waffenstillstand in Gaza unterzeichnet haben, dazu bewogen, die Massaker und Vergewaltigungen der Hamas zu ignorieren? Haben sie geglaubt, dass es in irgendeiner Weise die Zerstörung des Gazastreifens rechtfertigen könnte, wenn man diese Verbrechen anerkennt? Wie würde ein Plädoyer für die Freilassung oder zumindest eine Anerkennung der Hunderten von israelischen Zivilisten, die in Gaza als Geiseln gehalten werden – darunter viele Kinder – ihr Engagement für die palästinensische Sache beeinträchtigen?
2. JA, ABER …
Ja, die Welt ist in der Tat komplex und grausam, es gibt unschuldige Opfer auf der anderen Seite, ABER …
… sie haben diese Führer gewählt und unterstützen sie weiterhin.
… sie erziehen ihre Kinder zu Hass und Mord.
… sie belügen weiterhin die internationale Gemeinschaft.
… sie erhalten genügend Unterstützung von den Supermächten.
… sie haben systematisch jede Gelegenheit verpasst, ein Friedensabkommen zu unterzeichnen.
… sie sabotieren aktiv jede friedliche Lösung des Konflikts.
… sie rufen zu Annexion und Völkermord auf und treiben sie aktiv voran.
Diese Argumentation ist überzeugend und kann bis zu einem gewissen Grad gegen jede Seite in diesem Konflikt verwendet werden. Sie zeichnet ein düsteres Bild der Welt, das uns, wie mein Vater oft sagt, dazu verdammt, für immer mit der Gewalt zu leben. Beide Seiten sind durch den Konflikt korrumpiert und beide Seiten leiden – aber jede Anerkennung des Schmerzes der anderen Seite wird von einem „ABER“ begleitet. Obwohl das die Welt nicht als völlig einseitig darstellt, fordert es unmissverständlich einseitige Handlungen.
Wenn „JA / NEIN“ die Welt binär aufteilt, präsentiert „JA, ABER“ eine Reihe von Argumenten, die letztlich dazu führen, dass man eine Seite rechtfertigt. In vielen Fällen führt dies dazu, dass einseitig zum Handeln aufgefordert wird. Gleichzeitig bringt diese Sicht selten eine aufrichtige Darstellung und Mitgefühl für die andere Seite mit sich.
3. ACH, DU LIEBE ZEIT …
Wenn man sich für eine Seite entscheidet, mit der man mitfühlen und für die man kämpfen kann, bestätigt das die eigene Moral. Für das Gute zu kämpfen und die guten Opfer vor den bösen Tätern zu schützen, ist in der Tat eine edle Sache. Was aber, wenn die Grenze zwischen Gut und Böse nicht so einfach zu ziehen ist? Die größte Gefahr bei der Anerkennung von Komplexität ist Resignation. Und wir wissen nur zu gut, dass mit dem Fortschreiten des Krieges die Aufmerksamkeit der Medien nachlässt und die Öffentlichkeit nicht mehr so motiviert ist, für das Gute zu kämpfen (vor allem, wenn es nicht nur das Gute ist) und sich anderen Dingen zuwendet.
Der Dokumentarfilmer Adam Curtis hat dieses Phänomen „Oh Dearism“ genannt. In einem kurzen Meinungsbeitrag sagt er: „Politische Konflikte auf der ganzen Welt, von Darfur bis Gaza, werden uns heute als einfache Illustrationen der sinnlosen Grausamkeit der menschlichen Rasse präsentiert, gegen die nichts getan werden kann und auf welche die einzige Reaktion ‚Oh Dearism‘ ist.“
Schon nach wenigen Wochen sehen wir, dass genau das gerade passiert. Die Titelseiten der Zeitungen berichten über andere Dinge und die selbstgerechten Slogans und Tweets scheinen sich zu wiederholen, sie werden sinnlos. Wenn dieser schreckliche Krieg mit einem weiteren „Oh Dear“ endet, werden wir ihn zwangsläufig immer wiederholen müssen. Wir werden für immer mit der Gewalt leben, bis wir nur noch mit Stöcken und Steinen kämpfen können.
Bonusrunde: JA, UND …
Komplexität ist in der Tat eine schwierige Sache, und sie anzuerkennen ist im Allgemeinen nicht besonders angenehm, aber es ist nicht unmöglich – und tatsächlich sehr wichtig.
Eine vierte mögliche Antwort auf den Krieg besteht darin, jedes „JA, ABER“ durch ein „JA UND“ zu ersetzen. Obwohl diese Worte ähnlich klingen, negieren oder rechtfertigen sie die Gegenseite des Konflikts nicht und konkurrieren auch nicht auf einer imaginären, einheitlichen Gerechtigkeitsskala. Stattdessen stehen sie als wahrheitsgemäße Aussagen nebeneinander und dienen als Faktoren, die sowohl getrennt als auch gleichzeitig behandelt werden müssen.
JA, der Angriff der Hamas auf Zivilisten in Israel ist ein unentschuldbares Verbrechen gegen die Menschlichkeit,
UND nichts kann die wahllose Bombardierung von Zivilisten in Gaza rechtfertigen.
JA, die Besatzung kann als Kontext dieser Gewalt nicht ignoriert werden,
UND Israel hat das Recht und die Pflicht, seine Bürgerinnen und Bürger zu verteidigen.
JA, die Bombardierungen der IDF verursachen unverhältnismäßigen Schaden, dem die Palästinenser schutzlos ausgeliefert sind,
UND die Hamas bombardiert ständig israelische Städte und nimmt Hunderte von Zivilisten als Geiseln.
JA, man kann der Hamas bei Waffenstillstandsverhandlungen nicht trauen,
UND ein Waffenstillstand ist vielleicht der einzige Weg, das wahllose Töten zu beenden und die Geiseln freizulassen.
JA, die Palästinenser werden durch diesen Krieg für immer traumatisiert sein,
UND die Israelis werden von diesem Krieg für immer traumatisiert sein.
JA, das Vertrauen zwischen Israelis und Palästinensern ist am Boden,
UND Diplomatie und Vertrauen sind notwendig, um eine Lösung des Konflikts, Sicherheit und Gerechtigkeit zu erreichen.
Viele von uns haben vielleicht nicht die emotionale Energie, ein „JA, UND“ zu vertreten, besonders jetzt. Aber wir müssen diejenigen ermutigen, die dazu in der Lage sind. Wir brauchen „JA, UND“-Sager, die vorangehen, und wir sollten tatsächlich eine „JA, UND“-Politik fordern. Wir sollten mindestens zweimal nachdenken, bevor wir von jedem verlangen, sich unserem einseitigen kleinsten gemeinsamen Nenner anzupassen.
Pro-palästinensische Demonstranten skandierten: „Vom Fluss bis zum Meer wird Palästina frei sein.“ Seit den 1960er Jahren ist dieser Satz mit Aufrufen zur Vernichtung des jüdischen Staates verbunden. Vor allem die Hamas propagiert mit diesem Satz ethnische Säuberung und Völkermord an den Juden zugunsten eines exklusiven fundamentalistisch-muslimischen Staates vom Jordan bis zum Mittelmeer.
JA, das ist in der Tat das, was einige Demonstranten auf der pro-palästinensischen Seite aktiv unterstützen,
UND die Mehrheit der Demonstranten setzt die Freiheit der Palästinenser nicht mit der Zerstörung Israels gleich.
JA, die Gründung Israels hat eine lange historische Ungerechtigkeit beseitigt,
UND die Gründung Israels hat eine andere große historische Ungerechtigkeit verursacht.
In den zehn Monaten vor dem Krieg haben wir Israelis gegen den Versuch unserer Regierung protestiert, die demokratischen Spielregeln zu ändern und das Rechtssystem zu überholen. Viele von uns im Antibesatzungsblock haben darauf bestanden, den Zusammenhang zwischen der antidemokratischen Wende innerhalb Israels und der anhaltenden antidemokratischen Besatzung des Westjordanlands und der Blockade des Gazastreifens zu betonen. Wir sehen die palästinensische Freiheit nicht als Bedrohung, sondern als notwendige Voraussetzung für die israelische Demokratie. Deshalb war einer unserer bekanntesten Sprechchöre: „Vom Fluss bis zum Meer, wir alle verdienen Demokratie“ (grobe Übersetzung, auf Hebräisch reimt es sich).
Dies ist unsere dunkelste Stunde, für mich, für meine Kinder, für meine Lieben. Wir, Israelis und Palästinenser, die wir an eine gemeinsame, gleichberechtigte Gesellschaft glauben, trauern. Wir werden von den Kriegstreibern auf beiden Seiten heftig angegriffen. Wir werden von unseren internationalen Verbündeten zurückgewiesen, weil wir uns nicht gegenseitig den Rücken zukehren. Wir brauchen Hilfe, nicht durch kurzsichtiges und einseitiges Mitleid, sondern durch aufrichtiges, beharrliches und hoffnungsvolles Mitgefühl. Progressive Politik fordert zu Recht, über das Binäre hinaus zu denken. Und obwohl dieses nicht-binäre „JA, UND“ schwieriger und anstrengender sein mag, ist es dringend notwendig:
JA, unsere Vergangenheit ist voller Ungerechtigkeit, voller Schurken und voller Opfer,
UND JA, unsere Gegenwart ist blutig,
UND JA, unsere Zukunft wird davon abhängen, ob wir den Bogen des Universums zur Gerechtigkeit hin oder von ihr weg spannen.
Lassen Sie mich also vorschlagen, dass wir hier beginnen:
JA, vom Fluss bis zum Meer wird Palästina frei sein,
UND Israel wird es auch sein.
Dieser Artikel ist im Original auf medium.com auf Englisch erschienen.
Redaktion und Übersetzung: Theresa Bäuerlein, Bent Freiwald, Astrid Probst, Schlussredaktion: Susan Mücke, Bildredaktion: Philipp Sipos, Audioversion: Iris Hochberger
Der Autor empfiehlt die folgenden Links zum Weiterlesen (ebenfalls auf Englisch):
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