Ende August 2023 veröffentlichte das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) eine Untersuchung mit dem Titel „Die Hauptleidtragenden der AfD-Politik wären ihre eigenen Wähler:innen“. Darin kommen die Ökonomen des DIW zu dem Ergebnis, dass die typische AfD-Wählerschaft – männlich, mittelalt, niedriges bis mittleres Einkommen – am stärksten unter einer AfD-Regierung leiden würde. Zahlreiche Medien im Land griffen die Untersuchung auf, auch ich.
Daraufhin verlor die AfD in Umfragen, Mitglieder traten aus der Partei aus, erste Bundestagsabgeordnete legten ihr Amt nieder.
Das ist natürlich nicht passiert.
Stattdessen erzielte die AfD Anfang Oktober neue Bestergebnisse bei den Landtagswahlen in Bayern und Hessen. In beiden Bundesländern gewann sie deutlich an Stimmen hinzu. Auf Bundesebene würde aktuell mehr als jeder Fünfte für die Partei stimmen, in Thüringen stellt sie mit Hinblick auf die Landtagswahlen 2024 schon jetzt die Machtfrage. Das wirft eine Frage auf, die ebenso in Ungarn, Großbritannien oder den USA gestellt werden könnte: Was bewegt Menschen dazu, eine Partei zu wählen, deren politisches Programm – im Falle einer Umsetzung – ihnen selbst schaden würde?
Erklärungsansätze gibt es viele: zu viel Zuwanderung. Die finanziellen Zumutungen einer grünen Klimapolitik. Die sozialen Medien. Die Sehnsucht nach einfachen Antworten in komplexen Zeiten.
All das mag vereinzelt zutreffen. Aber die grundsätzliche Antwort ist komplizierter. Im Grunde fasste sie ein KR-Leser und AfD-Wähler treffend zusammen, als er mir im September 2023 eine Email schickte: „Ich glaube, dass die AfD, wäre sie wirklich an der Macht, keinen guten Job leisten würde“, schrieb er. Das ändere für ihn aber nichts daran, „dass sich eine große Zahl von Menschen in diesem Land bedroht, eingeschränkt und bevormundet fühlt.“
Seine Aussage illustriert eine einfache Tatsache: Beim Rechtspopulismus geht es nicht um Inhalte, sondern um Gefühle. Und Parteien wie die AfD funktionieren im Grunde wie Unternehmen, die mit den Emotionen der Bevölkerung politische Macht produzieren.
AfD-Wähler:innen sehen sich als Propheten des drohenden Untergangs
„Inhalte und Parteiprogramme sind bei allen Wahlen stets nur ein Aspekt neben anderen“, sagt Philipp Rhein, Soziologe an der Universität Kassel. Stimmungen und Emotionen hätten schon immer eine Rolle für Wahlentscheidungen gespielt, erklärt er. Doch die AfD verstehe es wie keine andere Partei, aus Zuspitzungen, Konflikten und Polarisierungen Wahlerfolge zu machen. Nicht ihr politisches Programm sei entscheidend, um ihre Wähler:innen zu mobilisieren, sagt Rhein, sondern „ihre Fähigkeit, einen bestimmten Katastrophismus und Alarmismus zu befeuern und auszubeuten.“
Für sein Buch mit dem Titel „Rechte Zeitverhältnisse“ hat er lange Interviews mit AfD-Wähler:innen geführt. Ein Motiv zeigte sich in allen Gesprächen: Seine Interviewpartner:innen hatten jeden Glauben an die Zukunft verloren. Rhein nennt das „Zukunftsverschlossenheit“.
In der Nachkriegszeit des 20. Jahrhunderts waren Gesellschaften weitgehend auf Fortschritt eingestellt und stellten sich die Zukunft als bessere Zeit vor. Parteien boten zwar unterschiedliche Visionen an, wie diese Zukunft aussehen könnte – doch die Mehrheit glaubte daran, dass sie sich mit demokratischen Mitteln gestalten lasse. Dieser Glaube sei AfD-Wähler:innen abhandengekommen, sagt Rhein. Komplett. Stattdessen denken sie, dass das Land kurz vor der Apokalypse steht.
„Sie glauben, sie hätten den drohenden Untergang der Gesellschaft durchschaut und wehren sich, indem sie die AfD wählen“, erklärt er. Schließlich sei das die einzige Partei, die permanent den Untergang der Gesellschaft heraufbeschwört. Ihre Wähler:innen empfänden sich als „elitäre Untergangspropheten“: Weil ihre Werte, ihr Konsumverhalten und ihr Sprachgebrauch heute nicht mehr unwidersprochen bleiben, glauben sie, von der Gesellschaft auf dramatische Weise ausgestoßen zu sein. Das verarbeiten sie, indem sie glauben, einen besonderen Einblick in die Katastrophe der Gegenwart zu haben.
„Das sind Motive, die wir aus christlichen Endzeitsekten kennen“, sagt Rhein. Den widersprüchlichen Mechanismus einer solchen Empfindung beschreibt er als „negative Privilegierung“: Wer glaubt, als einer von wenigen den Durchblick zu haben, fühle sich besser, sagt er. Es werte die eigenen Erfahrungen auf.
Klar ist: Untergehen wird die Welt nicht. Aber hinter solchen Wahrnehmungen stecken reale Erfahrungen.
Viele Menschen empfinden die Gegenwart als eine Zumutung
Zahlreiche Menschen in Deutschland sind mit den Umwälzungen der Gegenwart überfordert. Das haben die Soziologen Steffen Mau, Thomas Lux und Linus Westheuser herausgefunden. Bei einer Umfrage für ihr Buch „Triggerpunkte“ gaben 44 Prozent der Befragten an, es falle ihnen angesichts des aktuellen sozialen Wandels schwer, den Anschluss zu halten. 30 Prozent antworteten mit „teils/teils“.
In Zeiten zahlreicher Krisen – Corona, Krieg, Inflation, Klimakrise – sagen drei von vier Leuten also: Wir kommen nicht mehr mit mit dem Wandel. Die Welt ist aus den Fugen geraten, und wir verlieren den Anschluss. Dieses Gefühl ist besonders in einfachen Berufsklassen, bildungsarmen Gruppen und in den unteren Einkommensschichten verbreitet. Das erscheint logisch: Je weniger Mittel einem zur Verfügung stehen, desto schwieriger ist es, sich an die neuen Umwälzungen – Preissteigerungen, Lockdowns, E-Autos – anzupassen.
Die Diagnose lautet „Veränderungserschöpfung“.
Das Ergebnis: Unzufriedenheit, Ohnmacht und Unmut. Ein Gefühlscocktail, der den perfekten Nährboden für Wut bildet. Auch das belegen die Umfragen der Soziologen. Drei von vier Veränderungserschöpften stimmen auch der Aussage zu, dass politische Diskussionen sie oft wütend machen.
„Wer nicht mehr mitkommt und das Gefühl hat, abgehängt zu sein, schäumt oft innerlich, wenn er oder sie die politischen Diskurse verfolgt oder an ihnen teilnimmt“, schreiben Mau, Lux und Westheuser. Sie haben beobachtet, dass die Wut der Veränderungserschöpften sich besonders gegen jene richtet, die den sozialen Wandel symbolisieren oder sich für ihn einsetzen. Das können zum Beispiel Migrant:innen sein, Transaktivist:innen, oder Klimaaktivist:innen. Sie sorgen für Gereiztheit bei denjenigen, die sich als Verlierer des Wandels wahrnehmen.
Das macht aus Veränderungserschöpften nicht automatisch AfD-Wähler:innen. Aber ihre Erfahrungen lassen sich politisch hervorragend ausbeuten.
Rechtspopulistische Parteien verstehen, wie sie die Veränderungserschöpfung für sich nutzen können
Die israelische Soziologin Eva Illouz hat ein ganzes Buch darüber geschrieben: „Undemokratische Emotionen“. „Nur Gefühle verfügen über die Macht, empirische Beweise zu leugnen“, erklärt sie darin. Sie schaffen es, „unsere Motivation zu bestimmen, unsere eigenen Interessen in den Schatten zu stellen und dabei zugleich Antworten auf konkrete soziale Situationen zu geben.“
Laut Illouz ist der Populismus eine Strategie, „eine soziale Erfahrung umzucodieren.“ Sie versteht ihn also als Mittel, unsere Wahrnehmung der Realität gezielt in Gefühle zu übersetzen: Angst, Abscheu, Ressentiment, Liebe zur eigenen Nation.
Ihr Argument geht vereinfacht gesagt so: Menschen haben in der Gegenwart jede Menge Gründe, unzufrieden zu sein. Zum Beispiel, weil sie merken, dass am Ende des Monats immer weniger Geld auf dem Konto bleibt. Oder weil eine kleine Gruppe superreicher Unternehmer immer reicher wird, während die Inflation die minimalen Lohnsteigerungen des Restes auffrisst. Rechtspopulist:innen nehmen diese Erfahrung und deuten sie durch ihre Erzählungen: Die Ausländer sind schuld. Die EU beraubt euch. So geben sie den Gefühlen politische Relevanz und Wirksamkeit.
Laut Illouz werden Erfahrungen des Unbehagens so „in eine bestimmte Reihe von Vorstellungen und Gefühlen codiert.“ Sprich: Damit Erfahrungen wie Veränderungserschöpfung politische Bedeutung erlangen, müssen sie mit bestimmten emotionalen Deutungen verbunden werden. Hier kommen Parteien und Politiker:innen ins Spiel. „Sie sprechen die Wählerschaft unmittelbar mit Erzählungen an, die sie mithilfe von Beratern, Expertinnen und PR-Fachleuten austüfteln“, schreibt Illouz. Wer sich abgehängt fühlt und Angst vor dem eigenen sozialen Abstieg hat, sucht natürlich nach Erklärungen für seine Situation. Politiker:innen und Parteien bieten Erklärungen für diese Erfahrungen an. Dabei ist es nicht so wichtig, ob die Erklärung tatsächlich wahr ist, sondern ob sie sich wahr anfühlt. Aus Unbehagen über die eigene wirtschaftliche Situation macht eine rechtspopulistische Deutung auf diese Weise Hass gegen Ausländer, die einem vermeintlich die Jobs wegnehmen. Aus Unmut über das Heizungsgesetz entsteht so ein Hass auf „die da oben“, weil der Vizekanzler seine Handlanger bald angeblich in die Keller der Deutschen schickt. .
Die AfD perfektioniert diese Strategie. Sie nutzt die Veränderungserschöpfung der Menschen als Rohstoff und verwandelt sie mithilfe ihrer Narrative in Gefühle wie Hass, Angst und Abscheu, um daraus politischen Profit zu schlagen. Steffen Mau, Thomas Lux und Linus Westheuser beschreiben Populist:innen deswegen als „Polarisierungsunternehmer“: politische Akteure, deren Profilierung vor allem über die „Erzeugung und Kapitalisierung polarisierter Auseinandersetzungen“ erfolgt.
Die Strategie lautet: Konflikte säen, Fronten bilden, Gräben vertiefen, um dann davon zu profitieren. Dafür eignen sich besonders „ungesättigte“ Konflikte, also gesellschaftliche Auseinandersetzungen, die sich noch in Bewegung befinden: Migration, Genderfragen, Klimaschutzpolitik. Für „Polarisierungsunternehmer“ sind das quasi Märkte, aus denen sie Kapital schöpfen können. Einerseits, wenn sie durch Provokationen und Grenzüberschreitungen andere zur Positionierung zwingen, starke Zustimmung oder heftige Abwehr hervorrufen und so für Empörung sorgen und ein Thema permanent präsent halten. Andererseits, indem sie jeden Aspekt eines solchen Konfliktes – Gendersternchen, Wölfe, das Lieferkettengesetz – zu einem weiteren Zwang hochjazzen und sich selbst als Verteidiger der Freiheit inszenieren.
Die Botschaft lautet dann: Auch das noch, sie wollen dir noch mehr zumuten. Nicht mit uns, wir sorgen dafür, dass du Ruhe hast.
In Zeiten globaler Krisen und Veränderungen verspricht die AfD: „Du musst dich nicht ändern, du bist gut so, wie du bist“
Im Juni beschrieb der Populismusexperte und Politikwissenschaftler Jan-Werner Müller in einem Essay für die Financial Times die emotionale Kernbotschaft rechtspopulistischer Politiker wie Trump oder Berlusconi: „Sie geben zu, Sünder zu sein – und geben ihren Anhänger:innen so die Lizenz, ebenfalls Sünder zu sein.“
Die autoritären Politiker des 20. Jahrhunderts wollten als unfehlbare, disziplinierte Anführer ihres Volkes gelten. Trump und Co. hingegen vermitteln ihren Anhänger:innen: Disziplin und Sitten sind für Verlierer. Wir sind alle unperfekt. Macht, was ihr wollt.
So stellen moderne Rechtspopulisten den faschistischen Heldenkult des 20. Jahrhunderts auf den Kopf und machen allen Veränderungserschöpften ein verlockendes Angebot: Wir brauchen keinen Wandel für die Welt von morgen, sondern verweigern uns den Veränderungen.
Andere Parteien erwarten, in unterschiedlichem Ausmaß, von ihren Wähler:innen, dass sie sich auf den Wandel einstellen. Sie erwarten Durchhaltevermögen und Anstrengungen im Angesicht von Klimakrise und Kriegen. Rechtspopulistische Parteien wie die AfD sind der radikale Gegenentwurf zu dieser Botschaft. Sie bedienen die Sehnsucht nach dem inneren Haus am See: Abkapselung, Hedonismus und eine Auszeit vom apokalyptischen Ausnahmezustand der Welt.
Ihr emotionales Versprechen an die Wählerschaft lautet also: Du musst dich nicht ändern. Du musst dich diesen Zumutungen nicht stellen. Du bist gut so, wie du bist. Du bist sogar besser als alle anderen, weil du die Zeichen der Zeit verstehst.
Beispiel: Klimakrise. Alle demokratischen Parteien wissen um die enormen Veränderungen, die der Klimawandel mit sich bringt. Sie verfolgen unterschiedliche Konzepte, um ihn abzumildern. Grüne und SPD wollen die Energiewende, Union und FDP fordern mehr „Technologieoffenheit“. Aber sie alle sagen der Wählerschaft: Etwas muss sich ändern.
Und die AfD? Sie spricht von einer „Irrlehre“ und sagt: „Alle Maßnahmen zur Energiewende sofort beenden.“ Und sie geht weiter: Alle, die an den menschengemachten Klimawandel glauben, seien wahlweise Idioten oder Teil einer linksgrünen Verschwörung, die das Land am liebsten zu Gendersternchen und Lastenfahrrädern zwingen würde. Noch ein Zwang? Nicht mit uns!
Das verspricht Entlastung. Deshalb braucht die AfD kein politisches Programm, das die Krisen tatsächlich lösen würde. Dass ihr Angebot in der Praxis nicht funktionieren beziehungsweise manche Krisen in der Zukunft sogar noch verschlimmern würde, ist egal. Weil es sich gut anfühlt.
Redaktion: Johannes Laubmeier, Schlussredaktion: Susan Mücke, Bildredaktion: Philipp Sipos, Audioversion: Christian Melchert