Alice Weidel ist optimistisch. „Ich halte es absolut für realistisch“, sagte die AfD-Vorsitzende im Januar 2023 über eine mögliche AfD-Regierungsbeteiligung. Für Weidel ist klar: Auf Landesebene führt an ihrer Partei bald kein Weg mehr vorbei.
In Bayern und Hessen konnte die AfD zuletzt massiv an Stimmen gewinnen. In Brandenburg, Sachsen und Thüringen könnte die Partei bei den Landtagswahlen im kommenden Jahr sogar mit Abstand stärkste Kraft werden. Und auf Bundesebene würde aktuell jede:r Fünfte die AfD wählen.
Kurz: Die AfD ist im Aufschwung. Aber wie sähe Deutschland aus, wenn die AfD tatsächlich mitregiert? Diese Frage haben viele KR-Mitglieder gestellt, als wir im Sommer 2023 bei einem Zoom-Call über den AfD-Höhenflug sprachen. Deshalb habe ich mir angeschaut, was die AfD selbst in ihrem Grundsatzprogramm und in ihrem Zehn-Punkte-Plan für eine AfD-geführte Bundesregierung vorschlägt. Ich habe auch beachtet, was die AfD nicht offen sagt, aber womöglich umsetzen würde: nämlich die Aushebelung der Gewaltenteilung in Deutschland.
Das Bild, das sich daraus ergeben hat, zeigt: Wäre die AfD in der Regierung, hätte das für viele Menschen Nachteile, paradoxerweise vor allem für AfD-Wähler:innen selbst.
Das sind die offiziellen Forderungen der AfD
Vergangenen September veröffentlichte die AfD-Bundestagsfraktion einen Zehn-Punkte-Plan. In diesem „Sofortprogramm einer AfD-geführten Bundesregierung“ beschreibt die AfD-Fraktion, welche Maßnahmen sie sofort umsetzen würde, sollte es zu Neuwahlen und einer AfD-geführten Regierung kommen. Gemeinsam mit dem 96-seitigen AfD-Grundsatzprogramm von 2016 zeigt er, was für ein Land die AfD gerne errichten würde – und welche Prioritäten sie setzt. Das sind die fünf wichtigsten Punkte:
1. Klimapolitik: Die AfD will Energiepreise senken, indem sie den Klimaschutz reduziert
Laut ihrem Sofortprogramm will die AfD zuallererst die „Deindustrialisierung Deutschlands stoppen“, indem sie die Energiepreise senkt. Dafür will die Partei zum Beispiel die CO2-Abgabe streichen und Energiesteuern senken. Die AfD will auch die Nord-Stream-Pipelines reparieren und wieder in Betrieb nehmen und sowohl die Verkehrs-, als auch „die sogenannte Energiewende komplett beenden“. Und sie will die Subventionen – also die staatliche Unterstützung – „nicht fossiler Technologien“ abschaffen.
Das heißt: Niedrige Energiepreise sollen vor allem durch die Abschaffung von Klimaschutzmaßnahmen erreicht werden. Das hätte zwei Konsequenzen. Erstens würde ein solches Maßnahmenpaket Deutschlands Wirtschaft langfristig im globalen Wettbewerb massiv zurückwerfen. Daten zeigen: Erneuerbare Energien sind schon heute in den meisten Ländern günstiger als ihre fossilen Vorgänger. Im internationalen Markt gilt eine elektrifizierte Wirtschaft als Zukunftsmodell. Schon heute wird weltweit mehr als eine Milliarde Dollar pro Tag in den Solarausbau investiert, Investitionen in fossile Energien gehen immer weiter zurück.
Zweitens ignorieren die AfD-Vorhaben die menschengemachte Klimakrise und die Verpflichtungen des Pariser Klimaabkommens. Sie würden zur Erderhitzung beitragen und damit Wetterextreme wie Hitzewellen oder Dürren in Deutschland begünstigen. Solche Wetterextreme wiederum haben Folgekosten: Bis Mitte des Jahrhunderts könnte der Klimawandel laut einer Untersuchung hierzulande zwischen 280 und 900 Milliarden Euro kosten, zum Beispiel durch Ernteausfälle, Lieferengpässe oder kaputte Infrastruktur nach Extremwetterereignissen. Die AfD-Politik billiger Energiepreise auf Kosten des Klimaschutzes würde deshalb wahrscheinlich zu höheren Kosten in der Zukunft führen.
2. Migration und Einbürgerung: Die Wiedereinführung des „Blutsrechts“
In ihrem Grundsatzprogramm fordert die Partei die „vollständige Schließung der EU-Außengrenzen“ und die Abschaffung des individuellen Asylrechts. Auch in ihrem Zehn-Punkte-Plan vom September 2023 fordert die AfD, die Grenzen dicht zu machen, um die Ankunft von Flüchtenden zu verhindern. Außerdem hat sie vor, denjenigen, die in Deutschland einen Asylantrag gestellt haben, Sach- statt Geldleistungen zu zahlen. Das ist nicht weiter überraschend, der Anti-Flüchtlingskurs ist bis heute der Markenkern der Partei.
Bemerkenswerter ist, wie die AfD die Einbürgerung verändern will. Im Dezember 2022 präsentierte die AfD-Fraktion im Bundestag einen Gesetzentwurf zur Änderung des Staatsangehörigkeitgesetzes. Darin forderten die Abgeordneten, die deutsche Staatsangehörigkeit wieder durch eine Art „Blutrecht“ zu regeln: Nur Kinder deutscher Eltern sollten die deutsche Staatsangehörigkeit bekommen. Einen Rechtsanspruch auf Einbürgerung solle es nicht mehr geben, heißt es. Stattdessen solle die Einbürgerung von Ausländer:innen quasi zu einem „Gnadenakt“ der Deutschen werden.
In Beamtensprache heißt es in dem Gesetzesentwurf: „Die Einbürgerung darf kein Massenverfahren sein, an dessen Ende bei Vorliegen formal geprüfter Voraussetzungen automatisch die Einbürgerung steht.“ Stattdessen sollen Behörden Menschen nur dann einbürgern, wenn dadurch „das Gemeinwesen durch Hinzufügung eines loyalen Neubürgers im politischen Sinne gestärkt wird.“ Übersetzt heißt das: Die AfD will nur jene Menschen einbürgern, die ihrem politischen Weltbild entsprechen.
3. Sozialpolitik: Weniger Geld für Arbeitslose
In ihrem Sofortprogramm verkündet die Fraktion, sie wolle „unseren Sozialstaat retten.“ Das impliziert natürlich, dieser sei bedroht, laut AfD vor allem durch Klimaschutz, Migrant:innen und Arbeitslose.
Konkret will die AfD deshalb das Bürgergeld abschaffen und alle arbeitsfähigen Menschen zum Arbeiten bringen, indem sie eine „aktivierende Grundsicherung“ schafft. Wie hoch diese Grundsicherung sein soll, steht nicht in dem Programm. Offenbar soll sie aber so niedrig sein, dass es sehr abschreckend sein soll, arbeitslos zu sein und Menschen stets lieber einen Job annehmen. Lediglich Rentner:innen sollen eine Garantie für faire Renten bekommen. Wie hoch die sein sollen, sagt die AfD ebenfalls nicht.
Damit Arbeitende mehr von ihrem Lohn haben, will die AfD die Steuern senken und Sozialleistungsmissbrauch bekämpfen. Der ist in Deutschland allerdings relativ gering. Der Verlust des Staates beläuft sich pro Jahr auf etwa 60 Millionen Euro. Zum Vergleich: Durch Steuerhinterziehung entgehen dem Staat jedes Jahr etwa 100 Milliarden Euro.
4. Familienpolitik: Mehr Kinder in traditionellen Familien
Im AfD-Grundsatzprogramm heißt es: Die AfD „bekennt sich zur traditionellen Familie als Leitbild“ und fordert „mehr Kinder statt Masseneinwanderung“. In ihrem Sofortprogramm fordert die AfD, kinderreiche Familien steuerlich zu entlasten und ein Betreuungsgeld für Großeltern einzuführen. Die AfD will also Zuwanderung verhindern und gleichzeitig die Menschen in Deutschland zum Kinderkriegen animieren. Der Grund dahinter ist einfach.
Im rechtspopulistischen Weltbild hat die eigene Gruppe Priorität, für die AfD sind das weiße, christlich geprägte Deutsche. Das „Problem“ ist: Deren Geburtenrate sinkt seit Jahrzehnten, das „Volk“ droht langfristig zu verschwinden. Deshalb fördern rechtspopulistische Parteien heterosexuelle weiße Familien, damit mehr Frauen aus der eigenen Gruppe Kinder zur Welt bringen. Das geschieht auch in Ungarn und Italien, wo Ministerpräsidentin Giorgia Meloni immer stärker Stimmung gegen Schwangerschaftsabbrüche macht und die Mehrwertsteuer auf Babyartikel senkt, während sie gleichgeschlechtlichen Paaren die Elternrechte aberkennt.
5. EU-Politik: Nur noch ein Wirtschaftsprojekt
Auch wenn die AfD nicht mehr den sofortigen EU-Austritt Deutschlands fordert, will sie „Verhandlungen zur Reduzierung unserer EU-Beiträge“ und zur „Neugründung einer Europäischen Wirtschafts- und Interessensgemeinschaft eröffnen“. Sie glaubt, dass Brüssel zu viel Macht in Europa hat. Deshalb soll die EU wieder zu einem reinen Wirtschaftsprojekt werden, das sich aus der Innenpolitik der Länder heraushält. Beispielsweise hat die EU Ende 2022 eine Milliardensumme für Ungarn eingefroren, weil Ungarn gegen die Rechtsstaatlichkeit verstößt. So etwas soll nach AfD-Plänen nicht mehr möglich sein.
Die Realität: AfD-Wähler:innen schaden sich selbst
Es klingt paradox, aber würde die AfD ihre Politik tatsächlich umsetzen, würde das besonders ihren eigenen Wähler:innen schaden. „Die Widersprüche zwischen den Interessen der AfD-Wähler:innen und den Positionen der AfD könnten kaum größer sein“, schreibt Marcel Fratzscher, Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW). Fratzscher hat untersucht, wie es sich auf ihre Wähler:innen auswirken würde, käme die AfD mit ihrem Wahlprogramm von 2021 an die Macht. Sein Fazit: Besonders für ihre eigene Klientel wäre eine AfD-geführte Regierung fatal.
Untersuchungen zeigen: AfD-Wähler:innen sind häufig männlich, mittelalt und aus strukturschwachen Regionen. Sie arbeiten öfter in prekären Jobs und sind besonders unzufrieden mit dem eigenen Leben sowie mit dem Zustand von Wirtschaft und Gesellschaft. Im Durchschnitt haben sie eine geringe soziale und politische Teilhabe. Das heißt, sie bringen sich seltener politisch in ihrer Umgebung ein und haben weniger Zugang zu Kulturevents oder ihrer lokalen Zivilgesellschaft.
DIW-Chef Fratzscher hat die AfD-Wahlvorhaben von 2021 genommen und mit den Interessen dieser Wähler verglichen. Laut Fratzscher wünscht sich keine andere Partei im Bundestag stärkere Einschnitte bei den Sozialleistungen als die AfD. In der Klimapolitik gebe es keine Partei, die Klimaschutzmaßnahmen stärker ablehne. Das Gleiche gelte für die Wirtschaftspolitik, bei der die AfD die Rolle des Staates beschneiden und die Macht des Marktes vergrößern wolle.
Diese Vorhaben, schlussfolgert Fratzscher, würden AfD-Wähler:innen „viel stärker negativ treffen als die Wähler:innen der meisten anderen Parteien.“ Eine AfD-Regierung würde „die ohnehin schon häufig am Rande der Gesellschaft stehenden AfD-Wähler:innen noch stärker marginalisieren und ihre gesellschaftliche und politische Teilhabe beschneiden“, schreibt er. Weniger Arbeitsplätze, schlechtere Infrastruktur und weniger Sozialleistungen würden sie besonders betreffen.
Auch der „mittel- und langfristige wirtschaftliche und politische Schaden, den eine Schwächung der Europäischen Union und eine Aussetzung von Maßnahmen gegen den Klimawandel verursachen würden, träfe vor allem die sozial Schwachen der Gesellschaft“, schreibt Fratzscher – und dazu gehörten auch viele AfD-Wähler:innen.
Der durchschnittliche AfD-Wähler schadet sich durch seine Wahl also potenziell selbst. Weshalb er trotzdem für die Partei stimmt? Laut Fratzscher hat das mit der Strategie der AfD zu tun. Diese präsentiere Politik als Nullsummenspiel: Verliert einer, gewinnen die anderen. So rede die AfD ihren Wähler:innen erfolgreich ein, sie würden „wirtschaftlich, sozial und politisch“ gewinnen, wenn die Rechte von Minderheiten und Migrant:innen eingeschränkt werden würden.
Fratzschers Untersuchung basiert auf den offen erklärten Zielen und Vorhaben der AfD. Insbesondere Verfassungsrechtler:innen beschäftigen sich aktuell aber mit einer anderen Frage: Was würde die AfD als Regierungspartei tun, was in keinem Programm steht?
Was die AfD nicht offen sagt: Sie könnte die Demokratie mit legalen Mitteln abbauen
Die rechten Vorbilder der AfD in Ungarn, Polen oder Israel haben gezeigt: Die autoritären Rechtspopulisten des 21. Jahrhunderts versuchen nicht, offen das Rechtssystem eines Landes abzuschaffen. Sie legen es nicht darauf an, die eigene Verfassung zu brechen. Stattdessen nutzen sie ihre Mehrheiten, um nach und nach die Gewaltenteilung im Land abzuschaffen – unauffällig und völlig legal.
Dabei zeigt sich: Gewinnen Rechtspopulisten die Macht, machen sie sich als Erstes daran, die unabhängige Justiz im Land außer Kraft zu setzen, weil Gerichte ihre Vorhaben für ungültig oder verfassungswidrig erklären könnten.
Das funktioniert ganz einfach: In Polen führte die PiS-Regierung 2017 eine neue, niedrigere Altersgrenze für Richter:innen ein. Die Maßnahme klingt nach einem unwichtigen Detail. In der Realität bedeutete sie, dass auf einen Schlag jede Menge Richter:innen in Rente gehen mussten, weil sie plötzlich zu alt waren. Deren Nachfolge besetzte die Regierung dann mit linientreuen Gefolgsleuten – und hebelte so die Gewaltenteilung im Land quasi aus.
Ein ähnliches Vorgehen ist laut der Professorin für Verfassungsrecht, Nora Markard, auch in Deutschland denkbar. „Es beginnt damit, dass die AfD, wo sie Kontrolle über die Exekutive erringt, Beamte ernennen kann, die dauerhaft bleiben“, sagt sie in einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung. Das betreffe die Polizei, Schulen, Jobcenter, Ausländerbehörden und Staatsanwaltschaften. Als Erstes würde die Partei aber wahrscheinlich die unabhängige Justiz ins Visier nehmen.
Eine AfD-geführte Bundesregierung könnte laut Markard zum Beispiel einen dritten Senat am Bundesverfassungsgericht schaffen und beschließen, dass für sie besonders wichtige Fälle dort behandelt werden. Wenn dieser neue Senat dann mit AfD-Leuten besetzt werden würde, könnte das Bundesverfassungsgericht der Regierung ideologisch den Rücken stärken, anstatt sie zu kontrollieren.
Vor einem solchen Szenario hatte 2019 schon der Verfassungsrechtler Maximilian Steinbeis in seinem Essay „Ein Volkskanzler“ gewarnt. Jetzt beginnt er mit einem Team das „Thüringen-Projekt“.
Weil vor allem in Thüringen das Szenario einer AfD-geführten Regierung immer realistischer erscheint, wollen Steinbeis und sein Team bis Juni 2024 studieren, welche Landesgesetze die Partei nutzen könnte, um die Gewaltenteilung auszuhebeln.
Die AfD könnte den Verfassungsschutz übernehmen
Steinbeis wies in einem Interview zum Projektstart darauf hin, dass neben der Justiz besonders der Verfassungsschutz ein Ziel der AfD werden könnte. Denn dieser untersteht dem Innenministerium. Die Regierung ernennt also den Verfassungsschutzchef – und hat damit entscheidenden Einfluss auf die Ausrichtung und die personelle Zusammensetzung der Behörde. Ein von der AfD eingesetzter Verfassungsschutzchef könnte entscheidende Posten nach und nach mit ideologischen Gefolgsleuten besetzen und dann entscheiden, dass die Partei nicht verfassungsfeindlich ist. Aktuell werden mehrere AfD-Landesverbände vom Verfassungsschutz beobachtet. Es wäre ein entscheidender Schritt auf dem Weg zur Normalisierung der Partei.
Obwohl solche Schritte natürlich nicht in den Wahlprogrammen und dem Zehn-Punkte-Plan der AfD stehen, dürften sie zu den zentralen politischen Vorhaben der Partei zählen. Ein Blick nach Italien zeigt, wie schleichend das funktioniert: Während die rechtsextreme Ministerpräsidentin Giorgia Meloni auf den ersten Blick gemäßigt erscheint, baut sie nach und nach den italienischen Staat um.
Erst schuf sie das Bürgergeld „Reddito di Cittadinanza“ für Hunderttausende Empfänger:innen ab, jetzt will sie die Verfassung ändern: Italiens Regierungschef soll künftig per Direktwahl mit einfacher Mehrheit gewählt werden und das Wahlbündnis des Gewinners automatisch 55 Prozent der Sitze in beiden Parlamentskammern erhalten. Meloni sagt, das solle für mehr Stabilität im Land sorgen. Dabei ist klar: Sollte sie damit durchkommen, könnte sie ohne Widerstand durchregieren. Noch ist nicht sicher, ob ihr das gelingt. Doch die AfD dürfte aufmerksam nach Italien schauen.
Redaktion: Isolde Ruhdorfer, Schlussredaktion: Susan Mücke, Bildredaktion: Philipp Sipos, Audioversion: Christian Melchert