Vor zwei Jahren gingen Bilder von Menschen um die Welt, die sich an die Heckklappen eines der letzten Flugzeuge klammerten, die aus Afghanistan gen Westen starteten. Damals zog die Nato-Operation und damit auch die deutsche Bundeswehr aus Afghanistan ab. Einst ins Land einmarschiert, um die Taliban zu stürzen (und vor allem um ihre geopolitischen Interessen zu stützen), verließen die USA das Land überstürzt. Und so überließen sie de facto die Bevölkerung wieder den Taliban, die drei Wochen nach dem Rückzug fast das gesamte Land unter ihrer Kontrolle hatten.
Wie das so ist, für ein paar Wochen interessierte das die ganze Welt, wenige Monate später fast niemanden mehr. Ich kann das ein Stück weit nachvollziehen: Das Land fühlt sich weit weg an und das Thema bedrückend. Deshalb haben wir uns bei Krautreporter gegen einen klassischen Rückblick entschieden. Stattdessen zeige ich euch in diesem Text anhand von sechs konkreten Beispielen, wie sich das Leben unter den Taliban geändert hat. Alle diese Entwicklungen klingen auf den ersten Blick überraschend – und auf den zweiten erzählen sie viel über die Verschiebungen der vergangenen zwei Jahre, die vor allem Expert:innen mitbekommen haben.
1. Afghanistan kollabiert – auch weil Frauen nicht mehr arbeiten dürfen
Ein Großteil der afghanischen Bevölkerung leidet. Laut UN-Angaben befindet sich das Land in der weltgrößten humanitären Krise. Sechs Millionen Menschen im Land hungern, das sind 15 Prozent der Bevölkerung. Insgesamt 19 Millionen sind akut von Hunger bedroht.
Die Wirtschaft befindet sich in einer tiefen Krise. Das Bruttoinlandsprodukt ist um fast 21 Prozent gefallen. Arbeitslosigkeit (vor allem bei Frauen) ist gestiegen und das Einkommen der Menschen gesunken. Banken mussten schließen. Und auch um die Gesundheitsversorgung steht es viel schlechter als zuvor. Zahlreichen Krankenhäusern droht eine Schließung, laut Berichten im Februar 2022 sogar 90 Prozent. Und auch die Hilfsorganisation Rotes Kreuz wird Ende dieses Monats 25 ihrer Kliniken schließen müssen.
Diese Krise wäre nicht so hart, dürften Frauen noch am öffentlichen Leben teilhaben. Nachdem die Taliban Frauen das Arbeiten verboten haben, konnten Nichtregierungsorganisationen (NGOs) und Entwicklungsprojekte ihre Arbeit nicht fortsetzen, weil sie weniger Personal hatten. Außerdem haben internationale Geldgeber:innen ihre Zahlungen wegen der Einschränkung von Frauenrechten gestoppt. Auf denen beruhten vor der Machtübernahme 75 Prozent der öffentlichen Ausgaben. Die politische Krise ist deshalb in eine humanitäre und in eine wirtschaftliche Krise übergegangen. Die Taliban weigern sich, Frauen arbeiten zu lassen, und die Geldgeber:innen weigern sich, Geld zu zahlen, wenn Frauen nicht arbeiten dürfen.
2. Die Taliban ändern die Farbe der Taxis – und das Land wird sicherer
Kürzlich haben die Taliban in einer öffentlichen Zeremonie bekannt gegeben, dass alle Taxis von nun an blau-weiß sein sollen. Der Grund: Vor der Machtübernahme wurden Taxis besonders häufig für Straftaten wie Entführungen oder Diebstähle missbraucht. Nun wollen die Taliban den Eindruck erwecken, sie würden Kabul besser regieren. Vorher hatte Taxifahren in Kabul keinen guten Ruf. Jetzt soll es laut einem Bericht im New Lines Magazine eine deutliche Verbesserung im Stadtbild geben. Außerdem wollen die Taliban so dafür sorgen, dass die Taxis registriert und besteuert werden.
Thomas Ruttig vom Afghanistan Analysts Network, einer unabhängigen Forschungs- und Analyseorganisation sagt, so sollte der Eindruck erweckt werden, die Taliban hätten die Lage im Land im Griff. Dabei kollabiert die Wirtschaft des Landes. Trotzdem: bei Sicherheitsfragen haben die Taliban durchgegriffen.
Ich war überrascht, als mir Ruttig berichtete, dass sich manche Menschen in Afghanistan jetzt sicherer fühlten als zuvor. Er war nicht vor Ort, aber hat mit Afghan:innen gesprochen. Der Eindruck wird von Journalist:innen bestätigt, die aus Afghanistan berichten. In der Vergangenheit waren Ausländer:innen in der Regel in gepanzerten Fahrzeugen unterwegs und hielten sich vor allem auf dem Militärgelände oder in den Botschaften auf.
Jetzt hat sich die Lage verändert: Es gibt keine Bewegungseinschränkungen, und die Menschen können durch das ganze Land reisen. In der Vergangenheit befürchteten sie, entführt zu werden oder dass ihre Fahrzeuge in die Luft gejagt und sie gefoltert werden würden. Jetzt haben sie das Gefühl, sich frei bewegen zu können.
3. Einer Gruppe, von der du wahrscheinlich noch nie gehört hast, droht ein langsamer Genozid
Ich jedenfalls hatte vor dieser Recherche noch nie von den Hazara gehört. Das ist eine der frühesten ethnischen Gruppen in Afghanistan und eine der wenigen mehrheitlich schiitisch-muslimischen.
Die Hazara werden schon seit mehr als 130 Jahren verfolgt. Und seitdem die Taliban die Macht übernommen haben, wieder mehr. Im Sommer 2022 berichtete Amnesty International, dass innerhalb weniger Tage mehr als 120 Hazara-Zivilist:innen in Kabul getötet oder verletzt worden sind.
Die Taliban weisen jegliche Verantwortung von sich. Aber die Indizien sprechen eine andere Sprache: Schon in den 1990er Jahren verfolgten die Taliban die Gruppe. Rabia Khan forscht in Großbritannien an der University of Sussex zu den Hazara. Sie erzählt mir: „Damals in den Neunzigern sagte einer der Taliban-Gouverneure, dass die Hazara entweder zum sunitischen Islam konvertieren oder Afghanistan verlassen müssten.“
Und auch im Juli 2021 töteten Taliban mehrere Hazara und Zivilist:innen in der Provinz Ghazni. Im August 2021 töteten sie über ein Dutzend Hazara in der Provinz Daikundi, und in den Monaten davor begannen sie mit einer Kampagne zu ihrer gewaltsamen Vertreibung aus derselben Provinz.
Außerdem haben die Taliban den schiitischen Hazara verboten, an den Muharram-Zeremonien teilzunehmen. Muharram ist der erste Monat im Islamischen Kalender und für schiitische Muslime von größter Bedeutung. Ein Bericht der Menschenrechtsorganisation Forum Asia aus dem August 2023 ordnet die Situation der Hazara als langsamen Völkermord ein.
Was mich am meisten an dieser Schilderung umtreibt, ist die Tatsache, dass ich nie von der Situation der Hazara erfahren hätte, hätte ich nicht mit Rabia Khan gesprochen. Ich hätte wahrscheinlich nie gewusst, dass diese Gruppe überhaupt existiert.
4. Die Taliban haben in kurzer Zeit eine Sache geschafft, an der die Nato gescheitert ist: den Opium-Anbau verhindern
Kurz nachdem die Taliban wieder an die Macht kamen, haben sie den Anbau von Opium verboten. Aus Opium wird Heroin hergestellt, und Afghanistan ist seit vielen Jahren der mit Abstand größte Opiumproduzent der Welt.
Der Nato ist es nicht gelungen, den Anbau zu unterbinden, da sie das Land nie in dem Maße kontrollieren konnte, wie es die Taliban heute tun.
Mojib Atal, Gründer der Afghan Diaspora Initiative, forscht zu den Erfahrungen von afghanischen Menschen, die nach Deutschland gekommen sind. Er sagt: „Die Taliban sind sehr streng mit der Reduktion des Opiumanbaus.“ Sie hätten in verschiedenen Provinzen Afghanistans Opium verboten. Und es wirkte: „Das war alles Teil der Null-Toleranz-Politik der Taliban. Daraufhin wurde kein Widerstand geleistet, sondern das Verbot befolgt. Menschen, die vom Opiumanbau lebten, fingen an, die Pflanzen zu zerstören, die sie selbst angebaut hatten“, erzählt er mir. Einige Pflanzer:innen wurden getötet.
Ruttig ist skeptisch, dass sich die Menschen auf lange Sicht an das Verbot halten werden. Ihm zufolge gibt es für die, die das Opium angebaut und verkauft haben, keine Alternative, um ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Das ist besonders dramatisch, weil die wirtschaftliche Lage des Landes ohnehin desaströs ist. Zur Einordnung: Fast 30 Prozent des gesamten landwirtschaftlichen Sektors machte im Jahr 2021 Opium aus, das entspricht 425 Millionen US-Dollar. Daher stellt sich die Frage, was auf den Wegfall dieses Wirtschaftszweiges folgen wird.
5. Einer der letzten öffentlichen Orte für Frauen waren Schönheitssalons – jetzt sind sie verboten
Welches Interesse haben die Taliban daran, Schönheitssalons zu schließen? Wollen sie eine hässliche Bevölkerung? Nein, es gibt einen anderen Grund. Laut einem Bericht der BBC zählten Schönheitssalons zu den letzten öffentlichen Orte, an denen Frauen sich aufhalten konnten. Nun sind sie ebenfalls verboten. Nach Auslegung der Taliban verletzten Frauen, die diese Salons besuchten, die Gesetze der Scharia, weil sie sich in der Öffentlichkeit aufhielten und Praktiken wie beispielsweise Wimpernverlängerung in Anspruch nehmen würden.
Dies ist ein weiterer Schritt, Frauen und Mädchen aus dem öffentlichen Leben in Afghanistan zu verbannen – nachdem bereits beschlossen wurde, dass Mädchen nach der sechsten Klasse nicht mehr in die Schule gehen dürfen und es Frauen nicht mehr erlaubt ist, einen längeren Weg zurückzulegen, ohne dass sie von einem Mann begleitet werden. Unterdessen berichtet das Afghanistan Analysts Network, dass manche Taliban selbst ihre weiblichen Familienmitglieder ins Ausland schickten, damit diese dort weiter zur Schule und an die Universität gehen könnten.
Nachdem die Taliban das Verbot verkündeten, gab es zwar einige Proteste, hauptsächlich von Salonbetreiber:innen, aber die Taliban drängten diese zurück.
Dies ist nur ein weiterer Schritt, Frauen in Afghanistan zu diskriminieren und zu schikanieren. Denn auch wenn Frauen weitgehend aus allen anderen Bereichen des öffentlichen Lebens verbannt wurden, hatten sie mit den Salons dennoch einen letzten Ort, um soziale Kontakte zu knüpfen und zumindest die eigene Wohnung zu verlassen. Eine ehemalige afghanische Studentin sagte gegenüber dem Afghanistan Analysts Network: „Die Taliban lassen Frauen nur noch zwei Orte. Das Haus und das Grab.“
Vor der Machtübernahme haben Frauen und Männern die Salons mit großer Freude aufgesucht. Vor allem vor Hochzeiten war es ein Ritual, dort mit seinen Freundinnen und seinem Bräutigam gemeinsam hinzugehen. Nach der Machtergreifung verboten die Taliban zunächst Außenwerbung, auf der Personen abgebildet waren. Später durften dann Männer Salons nicht mehr betreten, erzählt mir Thomas Ruttig vom Afghanistan Analyst Networks, das weiterhin in Afghanistan aktiv ist.
„Aber die Bevölkerung übt Widerstand“, berichtet er mir weiter. „Es sind Fotos von Häuserwänden aufgetaucht, auf die Werbung für Schönheitssalons gesprüht ist, die jetzt anscheinend in privaten Wohnungen weiterarbeiten. Dort können Frauen also noch hingehen. Zumindest bis die Taliban das möglicherweise auch unterbinden.“
6. Taliban wollen Whatsapp nutzen, können es aber kaum
Anders als die Taliban im Jahr 2001, vor der Nato-Mission, haben sie heute Smartphones und mobiles Internet. Dies hat die Art und Weise verändert, wie sie kommunizieren. Sie verwenden Messenger-Dienste wie Whatsapp, um beispielsweise den genauen Standort eines Feindes zu teilen. Allerdings ist diese neue, für das Regime wichtige Methode nicht immer zuverlässig, weil die App immer wieder abrupt abbricht oder Konten gesperrt werden.
Aufgrund eines Beschlusses der US-Regierung darf es keine Unterstützung für oder Kooperation mit den Taliban geben. Das gilt dementsprechend auch für den US-amerikanischen Meta-Konzern, dem Whatsapp gehört. Meta scannt deshalb die Profilnamen, Gruppennamen, Beschreibungen und Profilbilder seiner Nutzer:innen und verbietet ihnen die Nutzung oder schränkt den Gebrauch gegebenenfalls ein.
Das ist für die Taliban problematisch, da ihre gesamte Arbeit von Whatsapp abhängt. In einem Bericht der New York Times sagte ein Vertreter der Taliban sogar, dass sein ganzes Leben in der App stattfinde.
Dieses Beispiel zeigt zwei Dinge. Erstens: Auch wenn die Lage in Afghanistan in vielerlei Hinsicht dramatisch ist, wirken westliche Sanktionen zumindest in Teilen. In einer immer globalisierteren Welt wird es zunehmend schwerer, sich als einzelnes Land zu isolieren. Somit besteht die Hoffnung, dass, wenn die Taliban sich nicht komplett vom Westen abschotten können, der Westen auch in der Position ist, Forderungen an die Taliban zu stellen. Zum Beispiel, indem der Westen die Lieferung von Hilfsgütern oder wirtschaftliche Aufbauprogramme direkt daran knüpft, dass Frauen wieder arbeiten gehen dürfen.
Zweitens macht es klar: Die Taliban haben heute viel weniger Macht über die Medienlandschaft als vor 20 Jahren. Damals haben sie das Fernsehen verboten und damit einen großen Teil der Mediennutzung abgeschnitten. Das haben sie dieses Mal wieder getan. Aber heute haben auch in Afghanistan nicht nur die Taliban, sondern auch viele andere Menschen Smartphones und Internetzugang. Die Taliban können nichtmal sicherstellen, dass ihre Whatsapp-Nachricht ankommt, geschweige denn kontrollieren, wann und wie die Bevölkerung Medien nutzt. Social Media ließe sich nicht so einfach für sie verbieten – immerhin nutzen sie es mittlerweile selbst, um ihre Statements zu verbreiten.
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Redaktion: Rico Grimm und Rebecca Kelber, Schlussredaktion: Susan Mücke, Fotoredaktion: Philipp Sipos, Audioversion: Christian Melchert