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Die wichtigste Sache, die du wissen musst
Vergangene Woche stürzte in der Region Twer nahe Moskau ein Privatjet ab. An Bord: Jewgeni Prigoschin, Chef der Söldner-Truppe Wagner. Russische Behörden bestätigten am Wochenende offiziell den Tod Prigoschins und berufen sich dabei auf einen DNA-Test. Laut Passagierliste befanden sich neun weitere Personen in dem Flugzeug, darunter Dmitri Utkin, ein berüchtigter Neonazi und Mitgründer der Wagner-Gruppe.
Ist Prigoschin wirklich tot? Laut der regimekritischen russischen Zeitung Meduza schlossen Kreml-nahe Quellen vor wenigen Tagen nicht aus, dass Prigoschin noch am Leben sein könnte, schließlich sei er „ein Betrüger, ein Troll“. Allerdings spricht viel dafür, dass sich Prigoschin tatsächlich in dem Flugzeug befand.
Nach dem gescheiterten Putschversuch vor zwei Monaten rechneten viele damit, dass Prigoschin nicht mehr lange leben werde. Erst kürzlich sagte der Investigativjournalist Christo Grozew in einem Interview, dass Prigoschin innerhalb eines halben Jahres entweder tot sein oder es einen neuen Putsch geben werde. Außerdem passt es zu Putins Methoden, einen Kontrahenten durch einen Flugzeugabsturz aus dem Weg zu räumen. In diesem Artikel habe ich erklärt, warum Putins Russland wie ein Mafia-Staat funktioniert.
Egal ob wirklich tot oder heimlich lebendig: Als Wagner-Chef spielt Prigoschin nun keine Rolle mehr. Auf den Krieg gegen die Ukraine wird sich das eher nicht auswirken, da Wagner ohnehin schon aus der Ukraine abgezogen ist.
Die Frage des Monats
KR-Mitglied Roland fragt: „Ist es gerecht, dass Einzelne bestraft werden für etwas, wofür sie gar nichts können? Zum Beispiel, wenn russische Sportler von Wettkämpfen ausgeschlossen werden.“
Im Sport, in der Literatur und auf der Straße: Überall werden Personen aus Russland ausgeladen, aus Stundenplänen gestrichen und ihre Namen entfernt. So hat der Kyjiwer Stadtrat seit Februar 2022 mehr als 300 Straßen und Plätze umbenannt, zum Beispiel heißt der „Leo-Tolstoi-Platz“ jetzt „Platz der ukrainischen Helden“. Im Sommer schloss die polnische Regierung russische und belarussische Sportler:innen von den European Games in Krakau aus. Und auf X, früher Twitter, entbrannte vor einigen Wochen eine heftige Debatte, ob man noch die Werke russischer Autor:innen, wie Fjodor Dostojewski, lesen sollte.
Das fühlt sich für manche ungerecht an: Was kann eine einzelne Athletin schon für den russischen Angriffskrieg? Vielleicht unterstützt sie ihn gar nicht. Und was können Tolstoi und Dostojewski dafür? Die sind schließlich seit mehr als hundert Jahren tot.
Martin Schulze Wessel ist Professor für osteuropäische Geschichte in München, kürzlich erschien sein Buch „Der Fluch des Imperiums“ über Russlands imperiale Vergangenheit. Er hat mir gesagt: „Sport ist schon oft politisch genutzt worden.“ Das zeige schon die Geschichte der Olympischen Spiele. 1936 nutzte Hitler sie, um Deutschland vor der Welt zu inszenieren.
Auch Wladimir Putin spannt Spitzensportler:innen gerne für Propagandazwecke ein. Bekannte Athlet:innen sind zu Gast bei Propagandaveranstaltungen, besuchen verwundete Soldaten oder sind sogar selbst Teil der Armee. Wer bei Olympia teilnimmt, kommt um ein Treffen mit Putin nicht herum: Vor der Eröffnung der Olympischen Winterspiele in Peking traf sich Putin mit dem russischen Nationalteam. Auch wenn russische Athlet:innen unter neutraler Flagge auftreten, bringt man sie dennoch mit ihrem Herkunftsland in Verbindung. Personen des öffentlichen Lebens stehen selten nur für sich.
Noch deutlicher wird das bei Schriftsteller:innen wie Dostojewski. Er schrieb nicht nur „Weiße Nächte“ und „Schuld und Sühne“, sondern positionierte sich auch zu verschiedenen politischen Themen, verherrlichte Krieg und war überzeugt von der „Allmenschlichkeit“ und „Auserwähltheit“ der russischen Menschen. „Dostojewski war ein Ideologe des Imperiums“, sagt Schulze Wessel.
Natürlich ist Dostojewski schon lange tot und hat erstmal nichts mit dem russischen Angriff auf die Ukraine zu tun. „Das Problem ist, dass viele der kanonbildenden Schriftsteller in Russland nationalistische oder imperialistische Ideen vertreten haben“, sagt Schulze Wessel. Es sind also die Bücher, die zur Schullektüre gehören und zuhause in den Bücherregalen stehen, die die Vorstellungen von Russland als Imperium weitertragen.
Personen der russischen Machtelite zeigen das gerne: Außenminister Sergej Lawrow trug im Staatsfernsehen Puschkin vor, und Margarita Simonjan, Sprachrohr der russischen Propaganda, zitierte mehrmals den Dichter Alexander Blok.
Osteuropa-Historiker Schulze Wessel hat deshalb Verständnis dafür, dass die Ukraine Dostojewski oder Puschkin aus den Stundenplänen nimmt und Straßen umbenennt. Schulze Wessel vergleicht das übrigens mit der deutschen Geschichte. Beispielsweise gebe es im ehemals von Preußen geteilten Polen auch keine Straßennamen mehr, die an Persönlichkeiten erinnern, die mit der deutschen imperialen Tradition konnotiert werden. Das werde von Deutschen selbstverständlich akzeptiert. Schulze Wessel findet es deshalb „erstaunlich“, dass die ukrainischen Umbenennungen von manchen in Deutschland kritisch gesehen werden. „Mir kommt es manchmal so vor, als würde unsere imperiale Tradition, die für uns eigentlich abgeschlossen ist, in gewisser Weise doch fortwirken: indem wir dazu neigen, die imperiale Sichtweise Russlands auf die Ukraine zu übernehmen und für deren Entkolonialisierung kein Verständnis zu haben.“
Was heißt das nun? Einerseits kann ich verstehen, dass sich die Ukraine gerade jetzt von ihrem imperialen Erbe befreien will. Andererseits würde es sich falsch anfühlen, meine Ausgabe von „Schuld und Sühne“ ins Altpapier zu befördern. Auch Schulze Wessel hält nichts von Verboten und sagt: „Man sollte nicht aufhören, Dostojewski zu lesen, aber man sollte ihn gut informiert lesen.“ Oder einfach mehr ukrainische Literatur lesen, denn die, so Schulze Wessel, „erlebt gerade eine Blüte.“
Redaktion: Judka Strittmatter, Schlussredaktion: Susan Mücke, Bildredaktion: Philipp Sipos, Audioversion: Christian Melchert