Collage im GTA-Style mit Putin, seinem Handlanger Setschin und seinem Widersacher Prigoschin

Skadr, bashta, Mikhail Svetlov, Contributor/Getty Images

Politik und Macht

Analyse: Don Putin und seine Feinde

Um die Politik des Kremls zu verstehen, müssen wir Russland als das begreifen, was es längst ist: ein Mafiastaat.

Profilbild von Isolde Ruhdorfer
Reporterin für Außenpolitik

Jewgeni Prigoschin wollte sich rächen. Also packte der Wagner-Chef einen mit Kunstblut beschmierten Vorschlaghammer in einen Geigenkasten und schickte ihn an das Europäische Parlament – das soll zumindest ein Video zeigen, das vergangenen November im Netz kursierte. Wenige Wochen zuvor war ein anderes Video aufgetaucht, in dem Wagner-Söldner einen ihrer desertierten Soldaten mit einem Vorschlaghammer erschlagen. Die Botschaft an die EU war also klar. Sie hatte Russland zu einem staatlichen Terrorismus-Unterstützer erklärt und das wollte Wagner-Chef Prigoschin nicht auf sich sitzen lassen.

Die Geste Prigoschins wirkt in ihrer Drastik fast schon lächerlich. Sie erinnert an die berühmte Szene aus Francis Ford Coppolas „Der Pate“, in dem der italienische Mafiaboss Don Corleone seinem Gegner einen echten Pferdekopf ins Bett legen lässt. Nur dass die Szene mit dem Pferdekopf aus einem Film stammt. Der Vorschlaghammer hingegen ist Realität.

Solche blutigen Drohungen sind keine Ausnahme im heutigen Russland. Und die Aktion mit dem Vorschlaghammer erinnert nicht nur zufällig an den Film „Der Pate“. Denn Russland ist zu einem Mafiastaat geworden, mit einem mächtigen Boss an der Spitze: Wladimir Putin. Viele seiner Entscheidungen scheinen irrational, viele Ereignisse in Russland völlig irrsinnig, etwa Prigoschins Putschversuch. Doch wenn man Russland als Mafiastaat begreift, dann ist der Putschversuch ein Krieg zwischen zwei rivalisierenden Banden. Und auch sonst ergibt plötzlich vieles Sinn.

Putin kennt seine engsten Buddies vom KGB oder aus seiner Anfangszeit in Sankt Petersburg

Eine Mafia ist eine verbrecherische Organisation, die ihre Interessen mit Gewalt und Erpressung rücksichtslos durchsetzt. Sie ist hierarchisch organisiert und beeinflusst die Politik, die Wirtschaft, die Justiz. Russland ist in dieser Hinsicht noch einen Schritt weiter gegangen: Der russische Staat wird nicht nur durch die Mafia beeinflusst – der russische Staat ist die Mafia.

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Echte Macht hängt in Russland nicht unbedingt mit einem offiziellen Posten zusammen. Die wirklich einflussreichen Männer (ja, es sind nur Männer) sind nicht unbedingt Minister oder Abgeordnete des Parlaments. Es sind Männer, die Putin vom sowjetischen Geheimdienst KGB oder aus seiner politischen Anfangszeit in Sankt Petersburg kennt. Beispielsweise Igor Setschin, Putins rechte Hand und Chef des Ölkonzerns Rosneft, Spitzname: „Russlands Darth Vader“.

In diesem kleinen mächtigen Kreis spielt Loyalität eine wichtige Rolle. Sie ist wichtiger als Institutionen oder Gesetze. „Das hat in Russland Tradition“, sagt der Osteuropa-Historiker Jan Claas Behrends. „Loyalität zum Zaren oder zu Stalin war immer wichtiger als Gesetze.“ Deshalb vertraue Putin nicht auf Leistung. „Er holt sich nicht die besten in den Kreml, sondern diejenigen, denen er am meisten vertraut“, so Behrends.

In einem System, das auf Loyalität basiert, gibt es auch nur ein einziges Vergehen: Verrat. 2019 sagte Putin in einem Interview mit der Financial Times: „Verrat ist das schlimmstmögliche Verbrechen und Verräter müssen bestraft werden.“ In einer Doku äußerte Putin, er könne alles vergeben, nur Verrat nicht. Und den Putschversuch Prigoschins bezeichnete er – Überraschung! – als Verrat. Auf dem politischen Parkett spielt Verrat normalerweise keine so bedeutende Rolle. Für Putin tut er das offenbar schon.

Wer nicht spurt, wird mit Mafiamethoden terrorisiert

Der ehemalige Oligarch Sergej Pugatschow hat erlebt, was es bedeutet, in der Rolle des Verräters zu landen. Er galt als „Bankier und Kassenwart“ des Kremls und besaß mehrere Werften. Ende der Zweitausenderjahre wollte der Kreml den staatlichen Anteil an der Rüstungsindustrie aufstocken und Pugatschow seine Unternehmensanteile abkaufen. Der aber wollte zunächst nicht. Also überzog der Kreml ihn mit Betrugsvorwürfen und Gerichtsverfahren.

Pugatschow setzte sich ins Ausland ab. In einer Doku erzählt er, dass man ihm gedroht habe, seine Familie zu töten oder die Finger seines Sohnes abzuschneiden und ihm zuzuschicken. „Es war wie bei der Mafia“, sagt Pugatschow. Die bessere Formulierung wäre wahrscheinlich gewesen, dass es nicht nur wie bei der Mafia war, sondern dass Pugatschow dem russischen Mafiastaat tatsächlich zum Opfer fiel.

Diese Episode zeigt auch, wie der Kreml Gesetze benutzt, um Gegner:innen loszuwerden. „Gesetze werden in Russland instrumentell eingesetzt“, sagt der Osteuropa-Historiker Behrends. Sonst ist dem Kreml Gesetzmäßigkeit nämlich nicht besonders wichtig.

Die Wagner-Truppe etwa hätte dem Gesetz nach gar nicht existieren dürfen. Erst als der Kreml Prigoschin stärker kontrollieren wollte, versuchte das russische Verteidigungsministerium, ihn und seine Leute in offizielle Verträge zu zwingen. „Auch in der Mafia gibt es kein Gesetz“, sagt Behrends, „denn die Macht ist das Gesetz.“

Russland benimmt sich wie ein Gangster

Diese Macht demonstriert der Kreml, wo es nur geht: Wenn Putin sich als starker Mann beim Angeln oder auf einem Pferderücken zeigt oder wenn die Staatsmedien wüste Drohungen Richtung Westen schicken. Erst kürzlich titelte die staatliche Nachrichtenagentur Ria Novosti: „Es gibt keine Alternative: Russland muss einen Atomschlag gegen Europa ausführen.“ Dazu ein Foto von einem Atompilz.

Die Atomschlag-Drohung ist zwar eine eher unglaubwürdige Drohgebärde. Doch an einzelnen Personen zeigt sich, mit welchen Mafiamethoden Russland seine Gegner:innen beseitigt. Kremlkritiker Nawalny und Ex-Agent Skripal: vergiftet mit dem Nervengift Nowitschok. Oppositionspolitiker Nemzow und Journalistin Politkowskaja: erschossen auf offener Straße. Lukoil-Chef Maganow und Spitzenärztin Nepomnjaschtschaja: aus dem Fenster „gefallen“. Mysteriöse Fensterstürze sind in Russland eine häufige Todesursache.

Das ist nicht mehr das Gebaren eines autokratischen oder diktatorischen Staates. Das ist das Gebaren eines Gangsters. Denn diese Fälle sind keine seltenen Exzesse. Sie sind Teil des Systems.

Zu dem Gangstergehabe gehört auch die Erpressung von Nachbarländern, zum Beispiel der Republik Moldau. Das kleine Land ist von russischem Gas abhängig – und orientiert sich politisch deutlich Richtung EU. Das passt Russland nicht, weshalb es ihm immer wieder den Gashahn zudreht. Recherchen der Financial Times haben gezeigt, dass das Staatsunternehmen Gazprom der Republik Moldau 2021 billigeres Gas anbot für den Fall, dass Moldau sein Freihandelsabkommen mit der EU neu verhandele und die mit der Europäischen Union vereinbarten Energiemarktreformen verschiebe.

Banditen, KGBler und Oligarchen teilten den Reichtum unter sich auf

Das heutige politische System ist ein Ergebnis der 1990er Jahre, einer Zeit der Verteilungskämpfe und der Kriminalität. Schießereien auf offener Straße oder Explosionen durch Autobomben gehörten fast schon zum Alltag. Der damalige Präsident Boris Jelzin nannte Russland sogar eine „Supermacht des Verbrechens“. Und Putin? Als Vizebürgermeister von Sankt Petersburg kooperierte er selbst mit den Gangstern aus der Unterwelt. Möglicherweise schaute er sich von ihnen Verhaltensweisen ab.

Bis Ende der 90er Jahre teilte eine kleine Gruppe Banditen, Ex-Geheimdienstler und Oligarchen, den Reichtum Russlands unter sich auf. Die politische und wirtschaftliche Unsicherheit jener Zeit half ihnen dabei. Nun aber brauchten sie ein stabiles Land, um ihren Reichtum behalten zu können.

Der Reichtum dieser Elite ist pervers. Zu Putins geheimem Palast sollen nicht nur Weinberge, sondern auch ein Kasino, eine Eishockeyhalle und eine Austernfarm gehören. Und vergoldete Klobürsten. Einer Untersuchung zufolge ist das Vermögen reicher Russ:innen im Ausland so groß wie das der gesamten Bevölkerung innerhalb des Landes. Einige wenige Russ:innen besitzen also Jachten in Nizza und Villen in London im Wert des gesamten Vermögens aller in Russland lebenden Menschen.

Natürlich geht es der Elite um Putin nicht ausschließlich um persönliche Bereicherung. Auch Nationalismus, Imperialismus und Kolonialismus spielen eine Rolle. Die Sichtweise von Russland als Mafiastaat ist nicht die einzige Erklärung für die Politik des Kremls. Doch es ist eine hilfreiche Perspektive, um scheinbar irrationale Entscheidungen Putins zu verstehen.

Für Putin sind Kritiker:innen eine feindliche Bande

Der russische Historiker und Journalist Jaroslaw Schimow nennt das russische System ein „Banditentum mit Ideen“ und die herrschende Elite eine „organisierte kriminelle Vereinigung“. Er schreibt: „Kriminelle Vereinigungen leben nur so lange, wie sie mit Gewalt, Angst und Erpressung Ressourcen aus dem System abschöpfen können, das sie parasitieren – ob es sich nun um Alkohol- und Zigarettenläden oder ein großes Land handelt.“ Deshalb neigten solche Systeme zu Nullsummenspielen, also einer Taktik, bei der man nur gewinnen kann, wenn die Gegenseite verliert. Kompromisse oder gar Win-Win-Situationen sind in so einer Situation nicht denkbar.

In dieser Mafialogik sind alle sozialen Veränderungen eine Bedrohung. Putin glaubt nicht daran, dass Menschen lediglich etwas an ihrer Situation verändern wollen, wenn sie ihn kritisieren. Für ihn sind sie eine feindliche Bande.

Putin versteht nur die Sprache der Stärke – das ist mehr als eine Floskel. Putin lebt in einem System, das von blutigen Vorschlaghämmern und Drohungen mit atomarer Vernichtung geprägt ist. Einem System, in dem Gegner:innen vergiftet, erschossen und aus Fenstern gestürzt werden und in dem die Elite den Reichtum des Landes plündert. Es ist eine Mafia, die sich als Staat verkleidet.


Redaktion: Rico Grimm, Schlussredaktion: Susan Mücke, Bildredaktion: Philipp Sipos, Audioversion: Christian Melchert

Don Putin und seine Feinde

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