Ein Passant macht ein Selfie mit Prigoschin, der in einem Auto sitzt

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Politik und Macht

So liefen die Verhandlungen zwischen Wagner und dem Kreml

Und deshalb brauchte es den belarussischen Diktator Lukaschenko, um den Wagner-Aufstand zu beenden.

Profilbild von Andrey Pertsev

Das unabhängige russische Onlinemagazin Meduza hat aus dem Exil in Lettland recherchiert, was am Wochenende des Wagner-Aufstandes im Kreml ablief. Wo war Putin? Und warum verhandelte Lukaschenko den Deal? Das waren Fragen, die sich am Wochenende viele stellten, und auf die es keine Antworten zu geben schien. Meduza bietet hier exklusive Einblicke in das Innenleben einer Diktatur, in einem für Krautreporter ungewöhnlichen Stil. Wir fanden den Text so erhellend, dass wir ihn übersetzt haben.


In der Nacht vor Prigoschins Aufstand beschuldigte der Wagner-Gründer das russische Verteidigungsministerium, seine Kämpfer angegriffen zu haben, legte jedoch keine Beweise vor, um diese Behauptungen zu belegen. Prigoschin nannte insbesondere den russischen Verteidigungsminister Sergej Schoigu einen „Feigling“ und eine „Kreatur“, die „gestoppt“ werden müsse.

Kurz bevor Prigoschin seine Truppen umdrehen ließ, wurde plötzlich bekannt, dass Alexander Lukaschenko, der Präsident von Belarus, die Verhandlungen führte. Er soll es gewesen sein, der Prigoschin schließlich zum Einlenken überredet hat, so die offiziellen Vertreter von Minsk. Auch Kreml-Sprecher Dmitri Peskow bestätigte dies, obwohl Prigoschin selbst sich noch nicht dazu geäußert hat. Peskow zufolge wird Prigoschin „nach Belarus ausreisen“, und Russland wird das Strafverfahren gegen ihn einstellen. Was genau Prigoschin nach seiner Ankunft in Belarus erwartet, ist noch nicht klar.

Prigoschins Forderungen waren vage und seltsam

Nach Angaben einer Quelle von Meduza, die dem Kreml nahesteht, begannen die russischen Behörden die Verhandlungen mit Prigoschin am Abend des 23. Juni, als er den Beginn seines „Marsches der Gerechtigkeit“ ankündigte:

„Die militärische Führung, die Mitarbeiter des Kremls und Regierungsbeamte versuchten, mit Prigoschin zu verhandeln – wobei es angesichts seiner Taten schwierig war, genau zu wissen, worüber überhaupt verhandelt werden sollte.

Prigoschins Forderungen waren vage und seltsam. Er wollte Schoigu loswerden, Autonomie über die Belange von Wagner und mehr Geld. Nach einer bewaffneten Rebellion gab es jedoch keinen Platz mehr im System (für Prigoschin). In jedem Fall würde er schlechter dastehen, selbst wenn man ihm garantierte, dass er in Sicherheit wäre und (die Wagner-Gruppe) in irgendeiner Form erhalten bleiben würde. Er wollte nichts verlieren.“

Meduza hatte bereits berichtet, dass der Kreml zunächst hoffte, die Situation „relativ friedlich“ zu lösen, sich aber nicht mit Prigoschin einigen konnte. Der Kreml wies daraufhin russische Gouverneure und Politiker an, Prigoschins Handeln öffentlich zu verurteilen und ihn zum „Verräter“ zu erklären. Gegen 10 Uhr Moskauer Zeit hielt Putin eine landesweite Fernsehansprache, in der er Prigoschin als „Verräter“ bezeichnete und einen „Dolchstoß“ anprangerte. Damit schien er die Möglichkeit einer friedlichen Lösung auszuschließen.

Prigoschin soll versucht haben, Putin anzurufen

Prigoschin entgegnete daraufhin, dass der „Präsident sich zutiefst irrt“. Er fügte hinzu, dass „sich niemand stellen wird“, weder auf Aufforderung des Präsidenten, noch des Geheimdienstes oder sonst jemandem. Zu diesem Zeitpunkt kontrollierten die Wagner-Kämpfer bereits Rostow am Don und waren auf dem Weg nach Moskau.

Nach Angaben der Meduza-Quellen, die dem Kreml nahestehen, versuchte Prigoschin am 24. Juni um die Mittagszeit, den Kreml selbst zu kontaktieren. Er soll sogar versucht haben, Putin anzurufen, aber der Präsident wollte nicht mit ihm sprechen.

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Die Quellen von Meduza glauben, dass Prigoschin wahrscheinlich erkannte, dass „er zu weit gegangen war“ und „die Aussichten für seine Kolonne, weiter vorzudringen, gering waren.“ Zu diesem Zeitpunkt näherten sich seine Kämpfer bereits dem Fluss Oka, wo die russische Armee und die Nationalgarde ihre erste Verteidigungslinie errichtet hatten. Trotz Prigoschins Behauptungen, dass „die halbe Armee“ bereit sei, sich ihm anzuschließen, erhielt Wagner in den ersten Stunden des Aufstands keine zusätzliche Unterstützung durch Soldaten.

Lukaschenko profitiert von seiner Rolle als Verhandlungsführer

Der Kreml erkannte vermutlich, dass sich Prigoschins Einschätzung geändert hatte und beschloss daraufhin, eine „blutige Konfrontation“ mit Wagner zu vermeiden. An der letzten Verhandlungsrunde nahmen Berichten zufolge der Stabschef des Kremls, Anton Waino, der Sekretär des russischen Sicherheitsrats, Nikolaj Patruschew, und der russische Botschafter in Belarus, Boris Gryslow, teil, während Lukaschenko die Hauptrolle übernahm. Laut einer dem Kreml nahestehenden Quelle bestand Prigoschin darauf, dass an den Verhandlungen auch Spitzenbeamte teilnehmen. Angesichts der Abneigung Putins, mit Prigoschin zu verhandeln, blieben den Unterhändlern nur wenige Möglichkeiten.

„Prigoschin brauchte eine vertrauenswürdige dritte Partei, um auszusteigen und sein Gesicht zu wahren. Da kam Lukaschenko ins Spiel. Er genießt die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit – deshalb hat er zugestimmt“, sagte die Quelle von Meduza.

Lukaschenko profitiert eindeutig davon, denn er weiß, wie man von der öffentlichen Aufmerksamkeit profitiert, wenn man derjenige ist, der „Russland vor einem Blutvergießen oder noch schlimmer – einem möglichen Bürgerkrieg bewahrt“, so die Quelle.

Die Quellen von Meduza fügen hinzu, dass Prigoschin letztendlich der Verlierer der Rebellion sei. „Er ist aus Russland ausgewiesen worden. Der Präsident wird ihm das nicht verzeihen“, erklärte eine Quelle. Die exakten Details von Prigoschins Zukunft müssen noch ausgearbeitet werden, aber er „wird nicht mehr den gleichen Einfluss und die gleichen Ressourcen haben wie zuvor.“

Es ist unklar, ob es im russischen Verteidigungsministerium zu personellen Veränderungen kommen wird

Auch im russischen Verteidigungsministerium könnte es zu personellen Veränderungen kommen, „obwohl dies eher auf interne Probleme des Ministeriums als auf die Forderungen Prigoschins zurückzuführen wäre.“ Zu Beginn der Rebellion veröffentlichte der russische General Sergej Surowikin ein Video, in dem er die Wagner-Kämpfer aufforderte, sich zurückzuziehen und „das Problem friedlich zu lösen“. Auch Generalleutnant Wladimir Alexejew bezeichnete Prigoschins Vorgehen als „Dolchstoß“ und „Putschversuch“.

Im Laufe weniger Stunden traf sich Prigoschin mit Alexejew und dem stellvertretenden Verteidigungsminister Junus-bek Jewkurow im Hauptquartier des südlichen Militärbezirks in Rostow am Don. Prigoschin teilte ihnen mit, er werde sich auf den Weg nach Moskau machen und den Generalstabschef (Waleri Gerassimow) und Verteidigungsminister Sergej Schoigu aufsuchen. Weder Schoigu noch Gerassimow haben sich zu Prigoschins Rebellion geäußert. Es ist auch unklar, wo genau sie sich zum Zeitpunkt der Ereignisse aufhielten.

Eine weitere Meduza-Quelle, die der russischen Führung nahesteht, bezweifelt, dass es in nächster Zeit personelle Veränderungen im Verteidigungsministerium geben wird, da „Putin sich fast nie unter Druck beugt“.

Es gibt Kritik aus dem Kreml an Putins Umgang mit dem Wagner-Aufstand

Die Quellen von Meduza fügten hinzu, dass die Rebellion die Position Putins schwäche: „Er war nicht in der Lage, sich auf das Niveau von Prigoschin herabzulassen, aber nach der gestrigen nationalen Ansprache war er verschwunden. Er ist der erste Befehlshaber und übernimmt damit die Kontrolle, wenn es nötig ist. Er sollte Lukaschenko nicht zum öffentlichen Gesicht machen und auch nicht den russischen Sicherheitsbeamten [Silowiki] die Verhandlungsführung überlassen.“

Während Prigoschin seine Armee in Richtung Moskau führte, war Putin nach Angaben seines Sprechers Peskow im Kreml mit Dokumenten beschäftigt. Auch Putins Flugzeug, das ausgerüstet ist, um die Armee anzuführen, soll am Nachmittag des 24. Juni von Moskau abgeflogen sein. Es soll dann in der Nähe der Stadt Twer vom Radar verschwunden sein. Das berichtet (das von russischen Investigativjournalisten gegründete Onlinemedium, d.Red.) iStories unter Berufung auf Flugdaten von Flightradar.

Eine der Quellen von Meduza glaubt, dass Putin nun versuchen wird, seine Macht zu festigen, und dass die Zahl der Versuche der russischen Eliten, „die Hierarchie umzustrukturieren“, nur zunehmen wird.


Diesen Text hat Meduza mit einer CC BY 4.0 Lizenz veröffentlicht.

Übersetzung: Rebecca Kelber, Rico Grimm, Bent Freiwald und Martin Gommel; Fotoredaktion: Philipp Sipos, Schlussredaktion: Susan Mücke, Audioversion: Christian Melchert

So liefen die Verhandlungen zwischen Wagner und dem Kreml

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