Wie viel ist es dir wert, in einer Demokratie zu leben? Würdest du demonstrieren gehen, um sie zu retten? Dich festnehmen lassen?
In Israel kann man gerade beobachten, wie viel den Israelis ihre Demokratie wert ist. Sie treten für ihre Freiheit Barrikaden ein, lassen sich von Polizist:innen abtransportieren, blockieren Straßen. Zahlreiche Menschen wurden dafür bereits festgenommen oder landeten nach Ausschreitungen im Krankenhaus. Der Grund für die Demos ist die geplante Justizreform des wegen Korruption angeklagten Ministerpräsidenten Benjamin Netanyahu. Nach den Protesten hat Netanyahu die Reform vorübergehend gestoppt.
Nach Plänen der Regierungskoaltion sollte das israelische Parlament künftig mit einfacher Mehrheit Entscheidungen des obersten Gerichts des Landes aufheben können. Damit hätte die Regierung quasi machen können, was sie will. Ihrer Macht wären kaum Grenzen gesetzt gewesen. Gleichzeitig wollte die Koalition mehr Einfluss auf die Ernennung von Richter:innen nehmen.
Die Reform hätte die Gewaltenteilung in Israel de facto abgeschafft, warnte David Myers, Professor für jüdische Geschichte an der Universität von Kalifornien. Das Ziel der Regierung, sagt Myers, ist die Errichtung eines ultra-konservativen, ethno-zentrischen jüdischen Staates.
Schritt für Schritt arbeitet die Regierung die Zutatenliste einer sogenannten illiberalen Demokratie ab. Das ist ein komplizierter Begriff für ein einfaches Phänomen: ein autoritärer Staat, der sich unter dem Deckmantel der Demokratie versteckt.
Eine liberale Demokratie schützt die Rechte von Einzelmenschen und Minderheiten, genau wie Presse-, Meinungs-, Religions-, Versammlungsfreiheit. Menschen haben Grundrechte, dem Staat sind Grenzen gesetzt. Parlament und Gerichte kontrollieren die Regierung.
In einer illiberalen Demokratie hingegen übt die Regierung quasi uneingeschränkte Macht aus. Sie nutzt ihre Mehrheit, um die Demokratie von innen auszuhöhlen und rücksichtslos die eigenen Interessen durchzusetzen.
Illiberale Demokratien sind weltweit auf dem Vormarsch. Was in Israel gerade passiert, ähnelt der Politik in Ungarn, sagt der Professor David Myers: „Viktor Orbán und Benjamin Netanyahu folgen einem gemeinsamen Drehbuch.“ Und weil die Netanyahus und Orbáns dieser Welt ähnlich vorgehen, hilft es, sich die „illiberale Demokratie“ als eine Art Rezept vorzustellen. Wer es einmal versteht, erkennt es leicht. Denn auch, wenn es regionale Unterschiede gibt,die Zutaten sind oft die gleichen. Welche das sind und in welchen Schritten die Zubereitung gelingt, möchte ich in diesem vierten Teil meines Zusammenhangs „Wie Rechte regieren – und wie du sie stoppst“ erklären. Wenn du keinen Teil verpassen möchtest, kannst du hier kostenlos meinen Newsletter abonnieren.
Das Rezept: Ein ungarisches Original
Das Grundrezept der „illiberalen Demokratie“ hat der Journalist Fareed Zakaria 1997 in einem Essay für die Zeitschrift „Foreign Policy“ aufgeschrieben. Von einer illiberalen Demokratie könne man sprechen, wenn demokratisch gewählte Regierungen „die verfassungsmäßigen Grenzen ihrer Macht systematisch ignorieren und ihren Bürgern grundlegende Rechte und Freiheiten verwehren“, schreibt er. Kurz, die Regierung wurde zwar demokratisch gewählt, macht anschließend aber was sie will: politische Gegner:innen einschüchtern, zum Beispiel. Oder sich selbst bereichern. Sie verletzt permanent die Grundrechte von Einzelpersonen und Minderheiten – und schränkt die Gewaltenteilung ein. Der Philosoph Alexis de Tocqueville nannte das eine „Tyrannei der Mehrheit“.
Um bei dem Bild eines Rezeptes zu bleiben: Die illiberale Demokratie ist ein Trend aus der kulinarischen Tradition des Autoritarismus. Und eine besonders gelungene Version ist die ungarische Variante à la Viktor Orbán. Nachdem Orbáns Partei Fidesz die absolute Mehrheit im Parlament gewonnen hatte, änderte er unter anderem die Verfassung, besetzte Gerichte und Kulturinstitutionen neu, schränkte die Versammlungs- und Pressefreiheit ein, brachte Medien unter seine Kontrolle, schnitt die Wahlkreise nach seinem Gusto zu, riegelte die Grenzen ab, verbot Gender-Studies, verbannte eine unabhängige Universität aus dem Land, änderte Lehrpläne und stellte die Aufklärung über Homo- und Transsexualität unter Strafe. Kurz: Orbán hat aus einem einfachen Rezept eine Kunst gemacht. Die Haute Cuisine des Illiberalismus. Aber Varianten gibt es viele: Neben Ungarn gelten auch Polen, Singapur, Indien und die Türkei als illiberale Demokratien. Und sie alle arbeiten mit ähnlichen Zutaten.
Die Zutaten: ein charismatischer Typ, Rücksichtslosigkeit, eine Prise Populismus
Die Zutaten einer illiberalen Demokratie sind in jeder Weltregion zu finden. Trotzdem gibt es regionale Besonderheiten. Wichtig ist es, das Handwerk zu beherrschen. Präzise dosiert, reichen dann schon wenige gewagte Handgriffe und eine überlegte Auswahl der folgenden Zutaten:
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Macht: Kann man nie genug haben. Deshalb vereint die Regierung einer illiberalen Demokratie so viel Macht auf sich, wie nur möglich. Ein Mittel, um das zu erreichen: Der Regierungschef redet eine übermächtige Bedrohung herbei und stiftet Chaos im Land, um sich anschließend als die harte Hand zu präsentieren, die für Stabilität und Ordnung sorgt. So machte es zum Beispiel der türkische Präsident Erdoğan, als er im Jahr 2017 die Abschaffung der Parteiendemokratie im Land damit rechtfertigte, nur ein starker Ein-Mann-Staat könne die Zukunft des Landes retten.
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Charismatischer Leader: Einen starken Mann braucht das Land. Oder eine Frau. Hauptsache jemanden, der anpackt und reden kann. Wichtig ist anzuecken. So oft und scharf wie möglich.
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Geschwächtes Rechtssystem: Gerichte dürfen in einer illiberalen Demokratie nicht zu viel zu sagen haben. Die Regierung schränkt deshalb deren Befugnisse ein. Am besten gelingt das per Verfassungsänderung. Oder, indem Richter:innen-Posten an Personen gehen, die der Regierung oder deren politischer Ideologie nahestehen. Genau das versucht aktuell die israelische Regierung.
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Schwaches Parlament: Die Rolle des Parlaments ist in der illiberalen Demokratie die eines Kellners; ein ergebener Diener, der die Pläne des Machthabers abnicken und Kritik freundlich weglächeln soll. Dafür wird er schließlich bezahlt.
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Eine kräftige Prise populistischer Rhetorik: Regierende einer illiberalen Demokratie sprechen immer im Namen des „Volkes“: Sie geben vor, auf der Seite einer „schweigenden Mehrheit“ zu kämpfen. Egal, wie groß ihr eigenes Vermögen ist und wo ihre Kinder studieren: Sie führen den Kampf des einfachen Mannes gegen „die da oben“ an, gegen die vermeintlich abgehobenen, realitätsfernen, elitären und kosmopolitischen Strippenzieher:innen aus Politik, Medien, Kultur und Wissenschaft. Praktisch: Wenn sie hier kräftig pfeffern, überträgt das den Geschmack auf andere Zutaten.
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Diskriminierung von Minderheiten: Funktioniert auch wunderbar als Vorspeise! Machthaber:innen hetzen so gut es geht – und überschreiten auch mal die Grenze des Sagbaren. Nur dann verschiebt sie sich nämlich – und rechtfertigt Menschenrechtsverletzungen. Wichtig ist es, regionale Zutaten zu verwenden – und dennoch herkömmlich zu arbeiten. Das heißt: gegen Minderheiten im eigenen Land zu hetzen, die klassische Feindbilder sind. In der Türkei sind das Kurd:innen, in Indien die muslimische Minderheit, in Ungarn Geflüchtete, Homo-und Transsexuelle und der jüdische Philanthrop George Soros.
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Referenden und Volksabstimmungen: Sie sorgen dafür, dass das Gericht nach außen weiterhin wie eine normale Demokratie wirkt. Damit die Abstimmung wie gewünscht verläuft, erklären die Machthabenden jedes Votum zur grundsätzlichen Abstimmung über die Liebe und Treue zum Vaterland.
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Medien, Universitäten, Meinungs- und Versammlungsfreiheit: Das Auge isst bekanntlich mit. Deshalb gibt es in einer illiberalen Demokratie immer einige Medien, die den Anschein erwecken, sie seien unabhängig. Das ist natürlich nicht der Fall. Hinter den Kulissen schüchtert die Regierung Journalist:innen ein, schließt Medienhäuser und schränkt die Meinungsfreiheit ein. Das geht zum Beispiel, indem sie bestimmte Bücher verbietet. Oder indem sie Lehrpläne umschreibt und so dafür sorgt, dass bloß niemand zu viel über andere Gerichte nachdenkt. Eine andere Taktik: Verfechter:innen einer illiberalen Demokratie deuten Meinungsfreiheit gern in Widerspruchsfreiheit um. Wenn es jemand wagt, sie zu kritisieren, rufen sie laut „Cancel Culture!“ Und canceln dann richtig, per Gesetz.
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Gezielte Repressionen gegen Gegner:innen: Die Zeiten offener Fleischerei sind vorbei. Präzision ist in. Moderne Machthaber:innen arbeiten wie Chirurg:innen, mit gezielten Operationen. Sie verbieten die Darstellung von Homo- und Transsexualität, deklarieren NGOs und Medien als „ausländische Agenten“ oder lassen eine Staatsanwältin wegen Korruptionsverdacht oder Beleidigung gegen ihren politischen Gegner ermitteln. Auch hier ist Erdoğan ein Vorbild: Im Dezember 2022 wurde einer seiner größten Herausforderer, der Istanbuler Bürgermeister Ekrem İmamoğlu, mit einem Politikverbot belegt und zu einer Haftstrafe von zwei Jahren und sieben Monaten verurteilt – wegen Beamtenbeleidigung.
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Korruption: Machthabende in einer illiberalen Demokratie gönnen sich und ihren Liebsten gerne etwas. Berater:innen-Jobs, ein Staatsunternehmen oder EU-Subventionsgelder zum Beispiel. Ein wundervolles Beispiel ist Lőrinc Mészáros, ein alter Schulfreund von Viktor Orbán, der in den vergangenen zehn Jahren plötzlich zu einem milliardenschweren Unternehmer wurde – dank Staatsaufträgen und EU-Subventionsgeldern. Auf die Frage, wem er sein Unternehmerglück verdanke, antwortete er: „Gott, dem Glück und Viktor Orbán.“
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Wahlen anzweifeln: Der Ex-US-Präsident Donald Trump und Brasiliens Ex-Staatschef Jair Bolsonaro haben es vorgemacht. Wer Zweifel an der Rechtmäßigkeit von Wahlen sät, bereitet sich darauf vor, im Zweifel trotz einer Wahlniederlage weiter zu regieren. Das geht zum Beispiel, indem man Briefwahlen als anfällig für Wahlbetrug darstellt. Das versuchte vor der Bundestagswahl 2021 auch die AfD – mit mittelmäßigem Erfolg.
Die Zubereitung: In drei Schritten zur illiberalen Demokratie
Wenn Politiker:innen sich für die passenden Zutaten entschieden und trotz, oder wegen, ihrer populistischen Rhetorik eine Wahl gewonnen haben, gelingt die Zubereitung einer illiberalen Demokratie in drei aufeinanderfolgenden Schritten. Der Politikwissenschaftler Bálint Magyar beschreibt in seinem Buch „The Anatomy of Post-Communist Regimes“, wie es geht.
1. Der Anlauf
Bálint Magyar nennt diese Phase den „autocratic attempt“, also den „autokratischen Versuch“. Politiker:innen beginnen nach ihrer Wahl die Aushöhlung der Demokratie mit kleinen institutionellen Veränderungen, die auf die große Veränderung des Systems abzielen. Sie nutzen ihr demokratisches Mandat etwa, um die Exekutive zu stärken und ihre Macht zu bündeln. Oder sie beschneiden die Aufgaben und Befugnisse von Kommunal- und Landespolitik, dem Parlament, Gerichten und der Staatsanwaltschaft. Sie besetzen auch gerne so viele Positionen wie möglich mit freundschaftlich oder ideologisch loyalen Helfer:innen. Und wenn möglich ändern sie die Verfassung und das Wahlsystem im Land, um ihre Macht langfristig immer weiter auszubauen.
2. Der Durchbruch
Ob der „autokratische Durchbruch“, gelingt, hängt vor allem von einer Frage ab: Können die illiberale Partei oder die entsprechenden Politiker:innen sich ein Monopol auf die politische Macht im Land verschaffen, zum Beispiel durch einen Wahlsieg mit absoluter Mehrheit? Wenn ja, können sie in aller Ruhe mit dem „Verfassungsputsch“ beginnen. Das Ziel ist klar: Die Demokratie soll bloß auf dem Papier weiterleben. Also heben sie die Gewaltenteilung auf, aber lassen die entsprechenden Institutionen zum Schein weiterleben. Frei nach dem Motto: Die Leute essen, was man ihnen vorsetzt, aber sie wollen das Gefühl bekommen, eine Wahl zu haben.
3. Köcheln lassen
Der dritte und letzte Schritt der Zubereitung ist die „autokratische Konsolidierung“. Das ist ein kompliziertes Wort für eine einfache Sache: Die entsprechenden Politiker:innen sichern ihre Macht und bauen sie weiter aus. Dafür müssen sie langfristig neben der Gewaltenteilung den zweiten Verteidigungsmechanismus einer liberalen Demokratie ausschalten: die Zivilgesellschaft. Diese hat vier Säulen: 1. unabhängige Medien, die kritisch über Regierungsarbeit berichten. 2. Bürger:innen, die ihre Meinung frei bilden und ausdrücken können – auf der Straße oder an der Wahlurne. 3. Nichtregierungsorganisationen (NGOs), die die Arbeit des Staates überwachen. Und 4. eine unabhängige Wirtschaft, die sich für ihre Interessen einsetzen und Oppositionsparteien unterstützen kann. Gelingt es, diese vier Mechanismen nach und nach faktisch außer Kraft zu setzen, haben die illiberalen Kräfte gewonnen. Sie können auftischen, was ihnen beliebt und weiterkochen, solange sie wollen.
Allerdings liegt in diesem dritten Punkt auch das größte Potenzial für demokratischen Widerstand. Wie viel Einfluss unabhängige Medien, Bürger:innen, NGOs und Unternehmen haben, ist aktuell in Israel zu sehen. Pilot:innen der israelischen Luftwaffe weigerten sich, Benjamin Netanyahu zu einem Staatsbesuch nach Italien zu bringen. Unternehmen drohen damit, ihr Kapital ins Ausland abzuziehen. Und nachdem auch US-Präsident Joe Biden Kritik an der Justizreform äußerte, musste die israelische Regierung ihr Vorhaben zumindest abbremsen. Ob sie das langfristig aufhalten kann, wird sich zeigen.
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Redaktion: Lisa McMinn, Schlussredaktion: Susan Mücke, Bildredaktion: Philipp Sipos, Audioversion: Christian Melchert