Gewalt ist wirklich keine Lösung
Politik und Macht

Gewalt ist wirklich keine Lösung

Über gewaltlose Demonstrationen erfährt die Welt weniger als über die blutigen Aktionen von Guerillas und selbsternannten Revolutionären. Dabei sind friedliche Bewegungen mächtiger. Viel mächtiger.

Profilbild von Rico Grimm
Politik- und Klimareporter

Seit 88 Jahren ernennt das Time-Magazin einen Menschen zur „Person des Jahres“. Die Redaktion kürt dabei nicht die besten Menschen, sondern die einflussreichsten. So schaffte es der deutsche Massenmörder Adolf Hitler auf die Liste, der sowjetische Massenmörder Josef Stalin gleich zweimal – gleichberechtigt mit Aids-Forschern, Entdeckern und Whistleblowern. 2011 hatten die Time-Redakteure den Demonstranten zur Person des Jahres gewählt und damit die beste Entscheidung seit Jahren getroffen. Sie lagen dennoch daneben, ohne dass sie das hätten wissen können.

Monate zuvor hatte sich Mohammed Buazizi auf einem Marktplatz in einer tunesischen Kleinstadt angezündet und damit ein Beben ausgelöst, das die Welt bis heute spürt. In Tunesien und Ägypten stürzen Demonstranten ihre Diktatoren, in Syrien kann sich der Autokrat Baschar al-Assad nur an der Macht halten, weil er seine Bürger gegeneinander aufhetzt. Bald darauf besetzen junge Israelis die Straßen von Tel Aviv und demonstrieren für bessere Lebensbedingungen. In Chile wollen Studenten die Hochschulgebühren abschaffen, in Mexiko demonstrieren sie gegen regierungsfreundliche Medien. In Spanien gründet sich mit den Indignados („die Empörten“) eine Bewegung, deren politischer Arm, die Podemos-Partei, wohl im Herbst die Regierung übernehmen wird. Die Occupy-Bewegung zwingt das Thema Ungleichheit auf die globale Agenda, die ganze Welt schaut im September nach Hongkong zur Regenschirm-Revolution, Deutschland blickt im Dezember nach Dresden, wo Pegida demonstriert, und als in Frankfurt die Europäische Zentralbank ihren neuen Bau einweiht, protestieren Tausende unter dem Motto „Blockupy“, zum Teil mit Gewalt, gegen die Sparpolitik in Europa.

„Der Demonstrant“ ist nicht die Person des Jahres. Er ist die Person des Jahrzehnts.

Bemerkenswert dabei ist, dass nur die wenigsten Bewegungen der vergangenen 110 Jahre überwiegend gewalttätig waren. Ganz normale Menschen konnten den Lauf der Welt beeinflussen, ohne Autos anzuzünden, sich in die Luft zu sprengen, ohne mit Sturmgewehren Unbewaffnete niederzuschießen und Fremde zu enthaupten.

Beinharte Realisten nehmen friedliche Proteste dennoch nicht ernst; sie zählen Panzer und starren auf das Bruttosozialprodukt, um Macht zu verorten. Sie belächeln Friedensmärsche wegen ihrer Tantigkeit und Petitionen, weil sie so harmlos sind. Dabei müssten die anderen sie belächeln. Denn diese Geostrategen – die oft auch Zyniker sind – sind die Naiven, die die Realität nicht erkennen. Der Stift ist tatsächlich mächtiger als die Kalaschnikow. Das haben wir jetzt schwarz auf weiß.

Die erste Studie, die systematisch alle Protestbewegungen der letzten 110 Jahre auswertet – ein Mammutwerk

In ihrer Studie „Why Civil Resistance Works“ haben die beiden US-Forscherinnen Erica Chenoweth und Maria J. Stephan insgesamt 323 Widerstandsbewegungen aus 110 Jahren bis 2006 untersucht und sind zu einem eindeutigen Ergebnis gekommen: Überwiegend gewaltfreie Bewegungen waren erfolgreicher als überwiegend gewalttätige. Ihre Chancen sind doppelt so hoch, dass sie ihre Ziele komplett oder teilweise erreichen. Der Grund: Wer friedlich demonstriert, kann viel mehr Menschen dazu bewegen, Widerstand zu leisten und so unmittelbar den Druck auf die Regierung zu erhöhen.

Als Erfolg werten Chenoweth und Stephan dabei jene Kampagnen, die ihr selbst gestecktes Ziel innerhalb eines Jahres nach ihrem größten Mobilisierungserfolg erreicht haben. Das hört sich etwas theoretisch an, ist aber leicht zu verstehen. In Ägypten demonstrierten etwa am 1. Februar 2011 Millionen Menschen, so viele wie nie zuvor und niemals wieder während der Proteste. Zehn Tage später dankte der Diktator Husni Mubarak ab. Die Bewegung war erfolgreich. In China hingegen standen Mai 1989 zehntausende Studenten auf dem Tiananmen-Platz, gingen in den Hungerstreik und erreichten keines ihrer Ziele. Die Bewegung war gescheitert.

Mehr von Krautreporter

Den beiden Forscherinnen ist dabei egal, wie lange eine Bewegung aktiv war. Ihnen ist es wichtig, einfache Unruhen auszulassen, die keine Führung, keinen Namen, kein offensichtliches Ziel haben. Außerdem haben die beiden nur jene Bewegungen einbezogen, die sich eines von drei Zielen gesteckt hatten: Regierungswechsel („regime change“), Ende einer Besatzung und Unabhängigkeit. Bewegungen wie Blockupy oder Pegida beziehen sie nicht in ihre Untersuchung ein.

Chenoweth und Stephan stellten fest, dass eine Bewegung um so erfolgreicher ist, je mehr Menschen sich ihr anschließen; nicht zuletzt deswegen gibt es immer wieder Streit über die Teilnehmerzahlen bei Demonstrationen.

Wer Gewalt anwendet, macht es vielen anderen Menschen unmöglich, sich seiner Sache anzuschließen. Das hat mehrere Gründe:

1. Körperliche Schwierigkeiten

Sie können 79 Jahre alt sein und ohne Problem an einem Waren-Boykott teilnehmen; sich in den Bergen verschanzen und ein umfangreiches Waffentraining absolvieren werden Sie in diesem Alter nicht mehr. An einem bewaffneten Aufstand können oft nur junge und mittelalte Männer teilnehmen. Der Rest der Bevölkerung bleibt außen vor.

2. Informationsaustausch

Als Nachwuchs-Revoluzzer stehen Sie vor einem echten Problem. Sie können sich mit spektakulären Anschlägen und Attentaten einen soliden taktischen Propaganda-Vorteil verschaffen. Danach müssen Sie aber abtauchen, wenn Sie nicht verhaftet werden wollen. Kommunikation fällt dann schwer, Rekrutierung auch. Nicht umsonst setzt etwa Al-Kaida auf Zellen, die unabhängig voneinander agieren.

3. Moral

Gewalt ist keine Lösung. Und das sehen sehr viele Menschen so und schließen sich deswegen aus Prinzip keinen Bewegungen an, für die Gewalt ein probates Mittel darstellt. Aber auch friedliche Widerstandskämpfer haben schwere Entscheidungen zu treffen. Wenn sie zum inneren Zirkel gehören, müssen sie sich oft von ihrem Privatleben verabschieden und könnten ihre Familie und Freunde gefährden.

4. Überzeugung

Wenn Sie Gewalt anwenden, müssen Ihre neuen Rekruten fasst immer ihr altes Leben aufgeben. Sie müssen sie trainieren und auf ihre Standfestigkeit überprüfen. Das kostet Zeit und Geld. Wie einfach ist es da im Vergleich, gewaltlos zu demonstrieren? Während der 2009er Proteste im Iran stellten sich bei Sonnenuntergang viele Menschen auf die Dächer ihrer Häuser und riefen „Tod dem Diktator!“, um gegen die Wahlfälschung von Mahmud Ahmadinedschad zu demonstrieren. So etwas können Sie auch als Familienvater machen.

Wir haben gesehen, warum es friedlichen Bewegungen eher gelingt, viele Menschen auf die Straße zu bringen als gewalttätigen. Das erklärt aber noch nicht, warum diese damit letztlich erfolgreicher sind. Denn mal ehrlich: Attentate lösen unmittelbar größere Reaktionen aus. Nach den Paris-Anschlägen im Januar war die Welt geschockt, traurig, aber dann auch resolut: Millionen Franzosen gingen auf die Straße, Bürger drückten ihr Mitgefühl aus.

Und das ist das Problem von blutrünstigen Aktionen: Sie vereinen die Menschen, die Eliten, die sich in ihrer Existenz bedroht fühlen. Wenn Sie aber zum Beispiel eine Regierung stürzen wollen, sollten Sie alles daran setzen, die Eliten zu spalten. Sie sollten einflussreiche Unternehmer, Intellektuelle und Religionsführer dazu bringen, Sie zu unterstützen und den Herrschenden so wichtige Säulen ihrer Macht wegschlagen. Das ist wahrscheinlicher, wenn Sie über große Netzwerke verfügen.

Die wichtigste Säule sind dabei die Sicherheitsapparate. Gelingt es Demonstranten, Polizisten, Soldaten und Geheimdienstler zu überzeugen, die Befehle der Regierung nicht mehr zu befolgen, steigt die Erfolgschance enorm. Auf dem Tahirplatz in Kairo gaben sich die Militärs „neutral“ und als „Wächter des Volkes“ und besiegelten so das Schicksal des verhassten Präsidenten Mubarak.

Aber: Auch hier sind die Friedlichen wieder erfolgreicher. Für einen Polizisten macht es einen großen Unterschied, ob Sie Steine auf ihn schleudern oder ihm, von Mensch zu Mensch, manchmal sogar von Nachbar zu Nachbar, von Cousin zu Cousin, einen Happen Essen und eine Flasche Wasser reichen und zeigen, dass Sie ihn nicht verletzen wollen. Sollte das Regime wider Erwarten doch auf die Demonstranten schießen lassen, können diese sich einen Effekt zunutze machen, den Chenoweth und Stephan „Backfiring“ nennen. Wenn Unbewaffnete mit Gewalt angegangen werden, steigt die Wahrscheinlichkeit, dass Polizisten und Soldaten diese Ungerechtigkeit mit Kündigung und Befehlsverweigerung quittieren. Außerdem werden internationale Sanktionen wahrscheinlicher.

Sorry Che, Gandhi ist stärker

Che Guevara im November 1958 mit Zigarre und Gewehr auf einem Esel - der bewaffnete Aufstand wirkt zwar cooler, ist aber weniger effektiv als friedlicher Protest

Che Guevara im November 1958 mit Zigarre und Gewehr auf einem Esel - der bewaffnete Aufstand wirkt zwar cooler, ist aber weniger effektiv als friedlicher Protest Gemeinfrei

Zuletzt brauchen Sie eine starke, große Bewegung, um Rückschläge wegzustecken und ihre Taktik zu testen und zu verbessern. Wenn die Führer verhaftet werden, können andere nachrücken, wenn eine Stadt „befriedet“ ist, beginnt der Protest in einer anderen. Wenn zum Beispiel eine Gruppe bei einer Demonstration einen guten, ansteckenden Protestruf gefunden hat, kann sie ihn weiterreichen an alle Gruppen im Land.

Chenoweth und Stephan prüfen jeden einzelnen dieser Faktoren durch eine klassische statistische Analyse. Sie schauen also, welcher Faktor bei erfolgreichen Kampagnen wie oft auftauchte und errechnen daraus eine Wahrscheinlichkeit. Wenn zum Beispiel sehr vielen erfolgreichen Bewegungen gemein ist, dass sie Überläufer aus der Polizei in ihren Reihen haben, dann erhöht das Überlaufen die Wahrscheinlichkeit für Erfolg.

Für aktuelle Debatten liefern Chenoweth und Stephan auch noch weiteren Zündstoff. Autokraten brandmarken Proteste im eigenen Land gerne als „von ausländischen Agenten“ gesteuert. Russland hat sogar ein Gesetz erlassen, das vom Ausland finanzierte NGOs so nennt. Aber den Zahlen der beiden Forscherinnen zufolge haben zivile Protestbewegungen in 90 Prozent der Fälle keine Hilfe von außen erhalten. Sie sind ja nur schlagkräftig, wenn sie viele Menschen auf die Straße bringen. Ausländische Hilfe ist wahrscheinlicher, wenn der Kampf gewalttätig ist. Die Unabhängigkeitsbewegung in der Westsahara kämpfte etwa zunächst mit Waffen gegen Marokko – und wurde deswegen von Algerien unterstützt.

Mit ihrer Studie haben die Forscherinnen zahlreiche Preise und in der Politikwissenschaftsszene Bekanntheit gewonnen. Zu Recht muss man wohl sagen. Denn viel zu selten trauen sich Sozialwissenschaftler so eine wichtige und große Frage zu stellen und sie nicht nur theoretisch zu beantworten, sondern auch auf der Grundlage harter Fakten. Einflussreiche gewaltlose Aktivisten wie der Serbe Srdja Popovic zitieren dieses Werk denn auch und sehen darin eine Bestätigung für ihre Strategie.

Wen diese Ergebnisse nicht freuen dürften, ist klar: Die Schlächter dieser Welt, die im Namen des Islamischen Staates in Syrien und dem Irak, der Roten-Armee-Fraktion oder des Nationalsozalistischen Untergrundes Menschen umbringen oder umgebracht haben. Ihnen beweist diese Studie, dass sie nicht nur Verbrecher sind, sondern auch noch dumme Verbrecher – die zu den falschen Werkzeugen greifen.


Aufmacherfoto: Gandhi 1944; Gemeinfrei