„Die Geschichte lehrt uns, dass Ideen tödlich sein können“, schrieb der Münchner Jurist und Politikwissenschaftler Karl Loewenstein 1937. Seine Warnung wirkt heute aktueller denn je: Extremisten erstürmen das Kapitol in den USA und den Kongress in Brasilien. Reichsbürger planen den bewaffneten Umsturz in Deutschland. Der Putinsche Angriffskrieg auf die Ukraine dauert weiter an. Und in Indien, Israel und Ungarn bauen die Anti-Demokraten ihre Macht aus, während in Italien mit Giorgia Meloni eine Faschistin regiert.
Im Namen von „Gott, Familie und Vaterland“ erschwert Meloni die Seenotrettung im Mittelmeer, verschärft das Versammlungsrecht und kürzt Sozialleistungen. Interessant ist aber nicht nur, was Meloni macht, sondern auch warum: Die italienische Bevölkerung sterbe aus, behauptet sie immer wieder. Mal spricht Meloni von einer „Invasion“, dann von einem „Plan zum ethnischen Austausch“. Doch der Kern ihrer Behauptung ist oft derselbe: Die Geburtenraten im Land seien zu niedrig. Gleichzeitig würden linke Eliten gezielt Geflüchtete ins Land holen, die die „echten“ Italiener:innen ersetzen.
Klingt vertraut?
Meloni ist nicht die einzige Politikerin, die sich im Kampf gegen einen vermeintlichen „Bevölkerungsaustausch“ wähnt: Der ungarische Präsident Viktor Orbán spricht von einem „selbstmörderischen Versuch, die fehlenden europäischen, christlichen Kinder durch Erwachsene aus anderen Kulturkreisen – Migranten – zu ersetzen.“ In den USA warnen Politiker:innen der Republikaner und Fernsehmoderator Tucker Carlson, die Demokraten würden die weiße Bevölkerung austauschen wollen. In Frankreich war der „Große Austausch“ im vergangenen Wahlkampf allgegenwärtig. Und in Deutschland behaupten nicht nur AfD-Politiker wie Björn Höcke oder Hans-Thomas Tillschneider, die deutsche Bevölkerung solle „ersetzt“ werden: Auch Bettina Kundla, eine ehemalige CDU-Bundestagsabgeordnete, sagte 2016, Merkel habe mit ihrer Flüchtlingspolitik eine „Umvolkung“ betrieben. Umfragen zufolge glaubt jeder dritte Erwachsene in den USA an einen „Bevölkerungsaustausch“. In Frankreich sind es sogar zwei von drei Menschen.
Wie tödlich diese Idee sein kann, zeigen die rechtsterroristischen Anschläge von Utøya, Pittsburgh, Christchurch, El Paso, Halle, Buffalo und zuletzt Bratislava. Alle Täter beriefen sich auf die Erzählung des Großen Austausches, um die Ermordung von insgesamt 175 Menschen zu rechtfertigen.
Dass Staatschefs wie Meloni oder Orbán einen Mythos verbreiten, der anderen zur Rechtfertigung ihrer Mordfantasien dient, ist erschreckend – aber nicht überraschend. Denn der „Bevölkerungsaustausch“ gehört inzwischen zur Standardausrüstung rechter Autokrat:innen. Er ist mehr als eine absurde Verschwörungserzählung. Wer sich den Mythos genau anschaut, versteht, warum Rechte nicht nur gegen vermeintliche Ausländer:innen oder Geflüchtete, sondern auch gegen Transmenschen und Homosexuelle, Jüd:innen, Intellektuelle und sogar gegen Stadtbewohner:innen hetzen. Es ist ein Lehrstück darüber, wie Populist:innen und manche Konservative extrem rechte Feindbilder und Erzählungen übernehmen und verbreiten. Wie Menschen austauschbar werden, solange sie als Projektionsfläche dienen. Und wie Sprache die Rechtfertigung zum Massenmord liefert.
Wie Hitlers „Bibel“ und ein rassistischer Roman die moderne Rechte inspirieren
Es beginnt an der Côte d’Azur. In einer französischen Mittelmeerstadt, an einem sonnigen Tag. Von der Uferpromenade aus sieht man die Yachten draußen auf den Wellen schaukeln. Dann taucht am Horizont ein dunkler Fleck auf und wird immer größer. Bald füllt eine Flotte rostiger Schiffe den Horizont. Unaufhaltsam nähern sie sich der Küste. Als die Schiffe Land erreichen, strömen Menschenmassen von Bord und bewegen sich ins Landesinnere. Hunderttausende Migrant:innen aus Indien fallen in Frankreich ein. Der große Austausch der weißen Bevölkerung Europas hat seinen Anfang genommen.
Mit dieser Szene beginnt der 1973 veröffentlichte Roman „Le Camp des Saints“ („Das Heerlager der Heiligen“) von Jean Raspail. Darin steht Europa, die „Wiege der Zivilisation“, vor einer existenziellen Bedrohung: Fluten von Migrant:innen, eine formlose Masse von Invasoren, überrennen den Kontinent. Ein Horrorszenario, in dem Menschenrechte und Mitmenschlichkeit in den Untergang führen.
Das Buch ist rassistischer Kitsch und heute ziemlich populär. Viktor Orbán nannte „Le Camp des Saints“ in einer Rede im Sommer 2022 ein „herausragendes Buch“. Ex-Trump-Berater Steve Bannon verehrt es. Auch der Autor Renaud Camus ist ein bekennender Bewunderer. Camus veröffentlichte 2011 das Buch „Le Grand Remplacement“ („Der Große Austausch“) und gilt als Namensgeber und Inspirationsquelle der Verschwörungserzählung.
Doch ihre Ursprünge sind deutlich älter. 1916 veröffentlichte Madison Grant, ein rassistischer Rechtsanwalt aus New York, das Buch „The Passing of the Great Race“. Darin schreibt er über die Überlegenheit einer „nordischen Rasse“ – und prophezeit deren Untergang durch Einwanderung. „Grant vertritt die Ansicht, dass man die Weißen als eine vom Aussterben bedrohte Art betrachten kann“, sagt der Geograph und Autor Reece Jones im Guardian.
Folgerichtig lautet die Konsequenz: Eine vom Aussterben bedrohte Art braucht ein Schutzgebiet. Das forderte Grant in den USA. Sein Werk beeinflusste den „Immigration Act“ von 1924, der die Einwanderung in die USA massiv begrenzte – besonders für Menschen, die nicht aus nordeuropäischen Staaten stammen. Einer von Grants größten Fans: Adolf Hitler.
Dieser nannte das Buch eine „Bibel“ und schrieb Grant einen Brief, um sich für die Inspiration zu bedanken. In „Mein Kampf“ behauptete Hitler, Juden würden planmäßig Schwarze ins Rheinland bringen, um die dortige Bevölkerung zu ersetzen.
In der Nachkriegszeit überlebte die Verschwörungserzählung
Nach dem Zweiten Weltkrieg tauchten Light-Versionen von Grants Theorie auf. Enoch Powell, ein britischer Politiker der Konservativen Partei, hielt 1986 eine berüchtigte Rede. Die Einwanderung würde die britische Bevölkerung zu „Fremden in ihrem eigenen Land“ machen, sagte er in seiner „Rivers of Blood“-Rede. Und behauptete, dass „in 15 oder 20 Jahren der Schwarze die Peitsche über den Weißen halten wird.“ Einer seiner heutigen Bewunderer: der Brexit-Verfechter und UKIP-Politiker Nigel Farage.
2011 schließlich erschien „Le Grand Remplacement“ von Renaud Camus. 2016 folgte die deutsche Übersetzung, „Revolte gegen den großen Austausch“, mit einem Vorwort des Rechtsextremisten Martin Sellner, Chef der Identitären Bewegung. Camus’ Behauptung: Sinkende Geburtenraten und eine bewusst herbeigeführte Masseneinwanderung führen zu einem Bevölkerungsaustausch in den westlichen Ländern.
Im selben Jahr ermordete Anders Breivik, ein norwegischer Rechtsterrorist, 77 Menschen und veröffentlichte ein 1.500-seitiges Pamphlet im Internet. Darin begründete er seine Tat als einen Akt des Widerstandes gegen den vermeintlichen „Bevölkerungsaustausch“. Breivik wurde zu einer Art Ikone des modernen Rechtsterrorismus. Unter anderem inspirierte er Brenton Tarrant, der am 15. März 2019 in Christchurch 51 Menschen tötete und ebenfalls ein Pamphlet veröffentlichte. Den Namen „The Great Replacement“ borgte er sich bei Camus. Die Argumente ebenfalls.
Die Mär vom „Großen Austausch“ ist also nicht neu. Seit über 100 Jahren dient sie der Rechtfertigung von Hetze und Gewalt. Sie bedient altbekannte Feindbilder und ist in bereits existierende Diskriminierungen eingebettet. Das Besondere an der Erzählung: Die beschriebenen Feindbilder sind bis zu einem gewissen Grad austauschbar.
Im ideologischen Gemischtwarenladen des großen Austausches gibt es für alle die passenden Feindbilder
„Es sind die Juden. Es sind die Juden. Es sind die Juden.“ So beginnt das Pamphlet mit dem Titel „Ruf zu den Waffen“, das der 19-Jährige Juraj Krajčík veröffentlichte, bevor er am 12. Oktober 2022 zwei queere Menschen in Bratislava hinrichtete. Jüdinnen und Juden seien für den „Bevölkerungsaustausch“ verantwortlich, sagt er. Die Frage ist: Was haben queere Menschen damit zu tun?
Die Anhänger:innen der Geschichte vom großen Bevölkerungsaustausch sehen sich als Teil einer Gruppe, die besonders toll ist: ein Volk, ein Kulturkreis, eine Ethnie, eine Religion. Diese Gruppe ist in ihrer Existenz bedroht: Sie stirbt aus, weil es zu wenig Nachwuchs gibt. Weil Feinde von außen in ihr „angestammtes“ Gebiet eindringen. Weil Verräter von innen an ihrem Untergang mitwirken. Und natürlich muss jemand dahinterstecken.
Schauen wir uns die einzelnen Feindbilder einmal genauer an.
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Der äußere Feind: Dazu zählen die „Horden“, „Ströme“ und „Flüsse“ von Migrant:innen, die die weiße Bevölkerung angeblich ersetzen sollen. Entmenschlichte Massen von nichtweißen Körpern, die das Land fluten. Wie Naturkatastrophen. Sie wollen das Land übernehmen. Es ausnutzen. Oder sich zumindest nicht integrieren. Ihr Normalmodus: Vergewaltigen und Plündern. Kurzum, sie sind minderwertig und animalisch, die altbekannten Charaktereigenschaften des Rassismus. Das wird mal mehr, mal weniger offen ausgedrückt. Auf jeden Fall sind die Diffamierten immer „anders“. Integrationsverweigerer. Asoziale. Rückständige.
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Der innere Feind: Darunter fallen Feministinnen, Homosexuelle und Transmenschen. Warum? Ganz einfach: Die Anhänger:innen vom „Großen Austausch“ beklagen niedrige Geburtenraten. Ihr „Volk“ produziere nicht ausreichend Nachwuchs, um die Welt oder das eigene Land zu dominieren. Das sagen sowohl Meloni und Orbán als auch Rechtsterroristen wie der Christchurch-Attentäter Brenton Tarrant. Schuld daran haben alle, die zu diesen Zahlen beitragen: Frauen, die nicht bloß Reproduktionsmaschinen weißer Kinder sein wollen. Feministinnen, weil sie die weibliche Rolle als Gebärmutter der Nation hinterfragen. Queere Menschen, weil sie die Geschlechterordnung insgesamt in Frage stellen, die das Volk für die eigene Fortpflanzung so dringend braucht, und die zugleich einen angeblichen, moralischen Verfall repräsentieren. Das Weltbild hinter diesen Vorwürfen wird schnell deutlich: Menschen sollen heterosexuell lieben. Frauen sollen Kinder bekommen. Möglichst viele. Aber nur weiße! Abtreiben oder über ihren eigenen Körper bestimmen, sollen sie nicht. Diese Einstellung schlägt auch Brücken ins christlich-fundamentalistische Lager: Der Trump-Vertraute Matt Schlapp, Vorsitzender des Conservative Political Action Committee, argumentierte bei einem Besuch in Ungarn, dass ein Abtreibungsverbot eine wichtige Waffe im Kampf gegen den „Bevölkerungsaustausch“ sei.
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Die Schuldigen: Die Frage nach den Drahtzieher:innen von vermeintlichen Weltverschwörungen führt fast immer auf antisemitisches Territorium. In diesem Fall heißt das: Jüdinnen und Juden haben sich verschworen, um wahlweise das Volk, die Nation, die Kultur oder das Christentum zu unterwandern und abzuschaffen. Sie haben den Liberalismus mit seinen Menschenrechten, Diskriminierungsverboten und seinem Minderheitenschutz erfunden, um die starke Mehrheit zu entwaffnen. Sie planen die Homosexualisierung des Abendlandes, damit die weiße Bevölkerung ausstirbt – und lehren deshalb Gender-Studies. Aber: Auch Rechtspopulist:innen wissen, dass offener Antisemitismus heutzutage schnell nach hinten losgeht. Deshalb nennen sie Stellvertreter: Liberale Intellektuelle, Feministinnen, Philanthropen, Journalistinnen, Menschenrechtler, Wissenschaftlerinnen, Globalisten. Die verdorbene Stadtbevölkerung, die nicht richtig arbeitet und sowieso „entwurzelt“ lebt. Alles Menschen, die heimlich und hinterlistig daran arbeiten, das Volk abzuschaffen.
Das gemeinsame Gedankengebäude von Populist:innen und Rechtsextremen
Migrant:innen, Jüd:innen, Feminist:innen, queere Menschen: Der „Große Austausch“ bietet für jeden das passende Feindbild – und genau deswegen ist die Geschichte so erfolgreich. Sie funktioniert wie eine Brücke, die Neonazis, fundamentalistische Abtreibungsgegner:innen, Früher-War-Alles-Besser-Träumer:innen mit konservativen Migrationsgegner:innen und Rechtspopulist:innen verbinden kann. Jede:r kann sich das Feindbild herauspicken, das am besten in die eigene Strategie passt.
Es gibt Sinnangebote für alle. Oder besser gesagt: Hass-Angebote. Sie lassen sich beliebig durchdeklinieren. In der Extremform ist von einem „weißen Genozid“ die Rede. In der Light-Version sprechen Politiker:innen eher von „Überfremdung“. In beiden Fällen gilt: Worte haben Konsequenzen.
Manchmal zählen brennende Asylunterkünfte und Tote dazu, manchmal drastische Einschränkungen von Menschenrechten. Doch immer macht die Erzählung den Betroffenen ein Angebot. Sie sagt: Die Bedrohung ist übermächtig, sinkende Geburtenraten bei gleichzeitiger Migration bedeuten den Untergang. Schuldig sind die anderen. Aber du kannst etwas dagegen tun. Du wirst zum Volksheld, wenn du mich wählst. Oder in der extremen Version: wenn du zur Waffe greifst. Angriff wird so zur Verteidigung. Eine klassische Täter-Opfer-Umkehr.
Das zeigt auch, warum es für Politiker:innen wie Giorgia Meloni so verlockend ist, die Erzählung zu verbreiten: Sie können sich als Opfer inszenieren. Als Vorkämpfer:innen einer bedrohten Minderheit. Sie können Stimmung gegen Minderheiten machen – im Namen einer vermeintlich bedrohten Mehrheit.
Der Publizist Paul Mason sagt deshalb, dass Populist:innen, Rechtsextreme und autoritäre Konservative ein gemeinsames „Gedankengebäude“ bewohnen. Es ist „ein Gebäude mit zahlreichen Eingängen, unterschiedlichen Fassaden und mehreren Stockwerken“, schreibt er in seinem Buch „Faschismus – und wie man ihn stoppt“. Jede:r lebt in seinem eigenen Zimmer, „aber auf den Fluren wird man stets Faschisten begegnen.“
Aber nicht nur die einfache Passform für jedes Ressentiment macht die Geschichte des sogenannten Großen Austausches so erfolgreich. Es gibt noch einen anderen Grund.
Unsere Gesellschaft verändert sich – aber nicht geplant
Die Globalisierung und das Ende des Kalten Krieges haben in den vergangenen 30 Jahren dafür gesorgt, dass zahlreiche Menschen migrieren und Gesellschaften vielfältiger werden. In den USA waren 1965 84 Prozent der US-Amerikaner:innen weiß, 2015 waren es nur noch 62 Prozent. Laut Prognosen werden Weiße ab 2043 nicht mehr die absolute Mehrheit der US-Bevölkerung stellen. Bei den Unter-15-Jährigen und Neugeborenen ist das schon heute der Fall.
Diese Veränderung fällt in eine Zeit, in der es vielen Menschen wirtschaftlich nicht sonderlich gut geht: Lebensmittelpreise steigen, Wohnungen werden immer teurer, Finanz- und Eurokrise haben ihre Spuren in den Lohnabrechnungen vieler Menschen hinterlassen.
In meinem Text „Warum weiße Amerikaner:innen sich diskriminiert fühlen“ habe ich darüber geschrieben, wie dieser Wandel bei vielen Menschen in den USA eine Angst vor Statusverlust auslöst: „Seit der Unterwerfung der amerikanischen Indigenen haben Weiße als Gruppe das Land dominiert, haben Präsidenten gestellt, Banken geleitet, die meisten Oscars gewonnen und TV-Sendungen moderiert. Jetzt, in Zeiten des demografischen Wandels und zunehmender Gleichberechtigung, bekommen sie immer mehr Konkurrenz.“
Aber: Das ist nicht das Produkt eines gezielten Austausches. Dahinter steckt kein Plan. Es ist lediglich die Folge einer einfachen Entwicklung, die der Politikwissenschaftler John Rapley in einem Essay für das Magazin „Aeon“ beschreibt.
Statistisch gesehen ist der „Große Austausch“ eine Rückkehr zur Normalität
Im 19. Jahrhundert sorgte die Industrialisierung bei gleichzeitiger Erfindung zahlreicher Medikamente nicht nur für rasant wachsenden Wohlstand im Westen, sondern auch für höhere Geburtenraten, eine längere Lebenserwartung und niedrige Kindersterblichkeit. Das war die Zeit, in der europäische Staaten einen Großteil des Globalen Südens kolonialisierten. Der weltweite Anteil von Menschen mit europäischer Abstammung wuchs.
Inzwischen sinkt er wieder. Das hat zwei Gründe. Erstens: Menschen in Industrieländern bekommen weniger Kinder. Zweitens: Nach dem Zweiten Weltkrieg erlangten viele ehemalige Kolonien die Unabhängigkeit. Deren neue Regierungen modernisierten die Industrie und investierten in Bildungs- und Gesundheitswesen. Dabei konnten sie auf bereits vorhandene Technologien zurückgreifen. Sie mussten diese nicht erst neu entwickeln. Die Auswirkungen auf die Geburtenraten waren also deutlich schneller zu spüren als zuvor im Westen.
„Statt der anderthalb Jahrhunderte, die das Vereinigte Königreich brauchte, um die Kindersterblichkeitsrate von eins zu drei auf eins zu zwanzig zu senken, benötigte Malaysia 100 Jahre später nur etwas mehr als eine Generation“, schreibt Rapley. In anderen Worten: Länder wie Malaysia erlebten in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts einen Bevölkerungsboom, der dem vieler westlicher Staaten ein Jahrhundert zuvor entsprach. Allerdings in viel kürzerer Zeit.
Statistisch gesehen ist der „Große Austausch“ also eine Rückkehr zur Normalität. Klar, im Westen gibt es heute mehr nicht-europäischstämmige Menschen als früher. Aber es gibt auch viel mehr Nachfahr:innen von europäischen Menschen außerhalb Europas, zum Beispiel in den USA.
Das demaskiert die Verschwörungserzählung vom „Bevölkerungsaustausch“ als das, was sie wirklich ist: keine Gegenwartsdiagnose besorgter Bürger:innen, sondern die Rechtfertigung für eine Welt, in der weiße Menschen ihre Macht und Privilegien gegen all jene verteidigen dürfen, die sie zur Bedrohung erklären.
Redaktion: Esther Göbel, Schlussredaktion: Susan Mücke, Bildredaktion: Philipp Sipos, Audioversion: Christian Melchert