Ein verwackeltes Handy-Video auf Youtube: Kinder an einem See. Russische Stimmen, Sonne und Wind. Plötzlich ein lautes Dröhnen. Ein Feuerwerk am Horizont, am helllichten Tag. Kleine weiße Punkte, kurz getaktete Salven, in flachem Winkel in den Himmel. Krieg.
Am Morgen des 11. Juli 2014 geraten ukrainische Einheiten im Grenzgebiet Zelenopillja unter massiven Artilleriebeschuss. 30 Soldaten werden getötet, über 100 verletzt. In den folgenden Tagen und Wochen erfolgen dutzende weitere Artillerieangriffe. Die Ukrainer müssen sich zurückziehen und bereits gewonnene Gebiete den vorrückenden Separatisten überlassen. Bis Ende Juli fallen ein Großteil der russisch-ukrainischen Grenze und weite Gebiete um Donezk und Lugansk wieder unter Kontrolle der Separatisten.
Woher genau dieser Artilleriebeschuss kam, hat das Recherche-Netzwerk Bellingcat untersucht. Und zwar anhand von frei zugänglichem Material. Das Team analysierte vor allem aktuelle Satellitenbilder von Google Earth und Videos aus sozialen Medien. Eines dieser Videos ist am russischen Kowalewskij-See aufgenommen. Aus einigen hundert Metern Entfernung wird Artillerie zufällig dabei gefilmt, wie sie Richtung Ukraine schießt. Bellingcat sammelte Dutzende solcher Aufnahmen, untersuchte die Krater der Einschläge und verband alles zu einem indiziengespickten Report. Der brisante Schluss: „Mit einer Ausnahme befanden sich alle Feuerstellungen auf dem Territorium Russlands.“
Nicht erst seit dieser Enthüllung sind Bellingcat-Gründer Eliot Higgins und seine Mitstreiter im Fadenkreuz der pro-russischen Propaganda. Die Kommentarfunktion des Artikels beim Guardian, der den Report vorstellte, wurde nach 1.657 Kommentaren geschlossen. Die allermeisten Kommentare richten sich, mehr oder weniger aggressiv, gegen Higgins. „Sie wollen mich mit der CIA in Verbindung bringen oder anders diskreditieren“, erzählt er. Der „Informationskrieg” um die Deutungshoheit im Ukraine-Konflikt tobt verschärft dort, wo besonders öffentlich verhandelt wird. Gemäß des Mottos: Das erste Opfer jedes Krieges ist die Wahrheit.
Doch hat die Lüge heute ein neues Ziel. Es geht ihr nicht mehr nur darum, die Wahrheit des Gegners zu zersetzen. Sondern das Konzept Wahrheit an sich.
Ein „niedliches Schulprojekt“ verändert die Welt
Für Eliot Higgins begann alles in Ghuta, einer Region östlich der syrischen Hauptstadt Damaskus. Am 21. August 2013 regnete es hier Bomben. Die Bilder der Opfer waren erschreckend, wie immer. Aber dieses Mal fiel Higgins auch etwas anderes auf: Verletzte zuckten in Krämpfen, mit Schaum um den Mund. Es gab unzählige Leichen ohne jede äußerlich sichtbare Verletzung. Nicht „irgendwelche“ Bomben waren gefallen, sondern, so mutmaßte Higgins vor seinem Laptop: chemische Kampfstoffe.
Damals war Eliot Higgins arbeitslos. Monatelang saß der gelernte Bürokaufmann zu Hause in Leicester, 160 Kilometer nördlich von London, und suchte vergeblich nach authentischen Informationen über den Bürgerkrieg in Syrien. Irgendwann fing er an, Videos, die verzweifelte Syrer auf Youtube gestellt hatten, systematisch zu analysieren. Ihre Inhalte mit Aufnahmen von Google Earth und Streetview abzugleichen. Und die auf den Bildern zu sehenden Waffen in öffentlichen Archiven zu suchen. „Vor dem arabischen Frühling wusste ich über Waffen nicht mehr als das, was ich von Rambo oder Arnold Schwarzenegger gelernt hatte“, sagt er.
Aber er hatte Zeit und Geduld. Ein neuer Job war nicht in Sicht. Gelangweilt von seiner letzten Anstellung im Büro einer Non-Profit-Organisation, machte Higgins den Krieg zu seinem Hobby. Zu seiner Mission. Er schaute sehr genau auf das, was jeder sehen konnte. Und versuchte zu verstehen.
Mit Erfolg: Ohne einmal vor Ort gewesen zu sein, ohne jede militärische oder waffentechnologische Ausbildung konnte Higgins zuerst nahezu zweifelsfrei beweisen, dass das Assad-Regime Fassbomben einsetzte. Am 10. September veröffentlichte Human Rights Watch dann einen Bericht über den Angriff mit dem Nervengas Sarin auf Ghuta, inklusive der Bilder und Analysen von Higgins. Einige Tage später bestätigten UN-Waffeninspektoren, die vor Ort waren, seine Ergebnisse bis ins Detail. Der schüchterne Engländer, der ungerne telefoniert und Mails nie unterschreibt, war schlagartig zu einer der wichtigsten Quellen über einen grausamen Bürgerkrieg geworden, aus dem nur wenige Journalisten berichten konnten. Und das ohne sein kleines Haus zu verlassen, wo er mit seiner Frau und ihrer gemeinsamen Tochter wohnt.
Um aus seinem seltsamen Hobby einen Beruf zu machen, startete er eine Crowdfunding-Kampagne und gründete schießlich Bellingcat. Der Name leitet sich von einer Fabel ab: Die Mäuse beschließen, der Katze eine Glocke um den Hals zu hängen, um nie wieder von ihr überrascht zu werden. Doch findet sich keine Maus, die sich der übermauslichen Aufgabe stellen will. „To bell the cat“ heißt daher im Englischen eine Heldentat zu Gunsten der Gruppe.
Den ersten Ukraine-Scoop schaffte Bellingcat Anfang 2015, als der SPIEGEL eine auf ihren Recherchen fußende Story brachte: „Todesflug MH17 – Wer warum schoss“. „Es gibt starke Hinweise darauf, dass das russische Militär den Separatisten im Osten der Ukraine den (…) Buk-Raketenwerfer zur Verfügung stellte“, schloss der Report. Die Herkunft der Boden-Luft-Rakete, die das Passagierflugzeug MH17 zum Absturz brachte und 298 Zivilisten tötete, erklärte Higgins anhand eines aufwändigen Puzzles aus Social-Media-Inhalten. In der Ukraine war er noch nie, und mit Flugzeugabstürzen hatte er sich vorher nicht beschäftigt.
https://twitter.com/marksleboda1/status/568600912660443136
Für seine Kritiker macht ihn genau das angreifbar: Higgins sei „ein arbeitsloser Bürohengst“, twitterte der kremltreue „Sicherheitsexperte“ Mark Sleboda. Er solle erst einmal einen akademischen Abschluss in einem relevanten Fach schaffen, oder bis dahin eben in den wirklich kompetenten Thinktanks Kaffee kochen. Sleboda nennt den Report ein „niedliches Schulprojekt“, pure Propaganda und Verschwörungstheorie. Lesen will er ihn nicht, schließlich befasse er sich nur mit der Arbeit von „qualifizierten Profis und Akademikern“. Higgins sei jedoch weder Waffenexperte noch jemals im Feld gewesen. Er könne und dürfe nicht über diese Dinge veröffentlichen.
„Bis jetzt attackieren sie immer nur mich, nicht meine Reports”, sagt hingegen Higgins, „was in meinen Augen für die Qualität der Reports spricht“. Und er ist längst nicht mehr alleine.
Heute arbeiten an die acht Freiwillige und viele lose Helfer zusammen mit Higgins an Bellingcat. Ihre Mittel sind unspektakulär. Ihre Hebel sind die „lächerlich niedrigen Informations- und Transaktionskosten” des digitalen Zeitalters, wie Clay Shirky es in seinem Standardwerk zur Online-Kooperation namens “Here comes Everybody” ausdrückte. Niemals zuvor waren so viele Informationen aus so vielen unterschiedlichen Quellen so frei verfügbar. Und konnten so einfach miteinander geteilt, in Beziehung gesetzt und schließlich veröffentlicht werden. Und genau das ist nicht nur für die Produktivität wichtig, sondern auch für die Glaubwürdigkeit. „Die Informationen, die wir nutzen, sind offen für jeden – beispielsweise das Bildmaterial der Satellitenkarten“, sagt Eliot Higgins. „Das zu fälschen, wäre enorm aufwändig und gleichzeitig leicht zu durchschauen.“
Higgins lebt den Open Source Gedanken. Er will berichtigt und verbessert werden, bis seine These trägt. „Um uns zu widerlegen, kann jeder die gleichen Techniken nutzen und eben so offen mit seinen anderslautenden Informationen umgehen. Lägen wir falsch, wäre das sehr einfach und eindeutig zu beweisen.“
Die von Bellingcat verwendete Analyse der Einschlagskrater beispielsweise ist durchaus umstritten. Manche militärische Quellen nennen sie, wie der Guardian zitiert, „hochgradig experimentell und anfällig für Ungenauigkeiten“. Andere wiederum, wie die finnische Akademie zur Landesverteidigung, bestätigt die Methode als valide. Auch deswegen will Higgins seine Instrumente in Zusammenarbeit mit Universitäten weiterentwickeln und unabhängig verifizieren lassen. Viel wichtiger ist jedoch genau das, was seine Kritiker immer wieder herausstreichen: Bellingcat arbeitet nicht mit klassifiziertem Geheimdienstmaterial. Sondern mit frei zugänglichen, an sich neutralen Daten, die erst durch die Verknüpfung wertvoll werden. Seinen Gegnern jedoch gilt das Internet nicht als neutrales Medium. Sondern als Waffe des Feindes.
Eine Waffe namens Information
Die Anweisung kommt von ganz oben: „Das Internet erscheint in erster Linie als ein CIA-Projekt”, sagte Wladimir Putin im April 2014, „Geheimdienstaktivitäten stehen dabei nach wie vor im Mittelpunkt.“ Die Sichtweise vom amerikanisch gesteuerten Kriegsmedium Internet setzt nur ein anderes Narrativ fort: Russland steht unter Propaganda-Beschuss, was sich wiederum von der geopolitischen Dimension ableitet: Die USA und die NATO bedrängen Russland. Das große, stolze Land muss und darf sich wehren.
Information ist in dieser Ideologie kein geistiger Rohstoff, kein Wert mehr an sich. „Die geopolitische Doktrin Russlands behandelt Information als gefährliche Waffe“, schreibt Jolanta Darczewska, stellvertretende Direktorin des Zentrums für Ost-Studien in Warschau, in ihrer Studie „Anatomie des russischen Informationskriegs“. Die Operation auf der Krim wird demnach als „defensive Informationskriegsführung“ angesehen. Die Kunst dieser „Spetspropaganda“ (Spezialpropaganda) stammt aus dem Kalten Krieg. Nachdem sie in den 1990er Jahren in Vergessenheit geraten war, soll sie seit 2000 wieder verstärkt an den Militärschulen gelehrt werden. Und in digitalen Zeiten setzen die Kreml-Ideologen vor allem auch auf das Netz. Denn es reicht überallhin, wo russisches Propaganda-TV noch nicht sendet. Und ist deutlich billiger.
Die Schlachtfelder dieses Online-Infokrieges sind, neben russischen Netzwerken und Plattformen, längst auch die Kommentarfelder westlicher Seiten. Im Sommer 2014 zitierte die Süddeutsche Zeitung aus umfangreichen anonymen russischen Quellen. Eine Petersburger „Agentur zur Analyse des Internets“ versuche mit hunderten von Angestellten in amerikanischen und europäischen Online-Medien, von Fox News über CNN bis zur Huffington Post, sowie Netzwerken wie Facebook, Twitter, LinkedIn oder Youtube, massenhaft Propaganda zu verbreiten. Laut den anonymen Hinweisgebern sollen Tätigkeitsberichte direkt an Wjatscheslaw Wolodin gehen, den stellvertretenden Leiter von Putins Präsidialadministration.
Doch den seit Ausbruch des Ukraine-Konflikts verstärkt auftretenden Kommentar-Eskalationen eine zentrale Steuerung oder auch nur einen unnatürlichen Ursprung nachzuweisen, wird wohl ein Indizienprozess bleiben: Als die polnische Online-Ausgabe der Newsweek im März 2014, kurz nach der Annexion der Krim, ein zweifelhaftes Aufkommen von pro-russischen Kommentaren feststellte, untersuchte man die Herkunft der Absender. Ironischerweise stammten deren IP-Adresse aus der ganzen Welt – nur nicht aus Russland. „Verfasst waren alle in nahezu perfektem Polnisch, mit einigen wenigen Fehlern, wie sie ein guter Fremdsprachler machen würde, oder ein Bot“, sagte der polnische Journalist und Netz-Aktivist Jarosław Lipszyc bei einem Vortrag auf der re:publica 2014. Dazu waren sie länger und besser geschrieben als herkömmliche Kommentare, und verbanden auffällig pro-russische Standpunkte mit Hate Speech gegen alles, was westlich-liberal erschien.
Bezahlte Trolle oder sogar „Naschibots“, also Bots der putintreuen Jugendorganisation Naschi?
Rolf Fredheim, ein Forscher an der Universität Cambridge, untersuchte im Zeitraum 2011 und 2012, wie oppositionelle Medien in Russland unter Bot-Attacken kamen. „Wenn die Russen von Bots sprechen, meinen sie eher Menschen, die mehrere Online-Persönlichkeiten kontrollieren, und die zum Beispiel bei der Auswahl der Ziele von Bots, also Software, unterstützt werden.“ Auch Ilja Klischin, Online-Chef des unabhängigen TV-Senders Doschd TV, berichtet von tausenden „atmenden Bots“, also bezahlten Trollen, die liberale Medien attackieren, wo immer sie online angreifbar sind.
„100 Kommentare am Tag schafft jeder von denen am Tag im Durchschnitt“, schätzt wiederum Jarosław Lipszyc. „Dadurch können die Trolle das Forum übernehmen und jede Diskussion unterdrücken“. Lipszyc weiß von Twitter-Aufrufen zu ähnlichen Attacken auch auf deutsche Medien wie Spiegel Online. Der Guardian berichtete im April 2014 von einer „organisierten Pro-Kreml Kampagne“ in seinen Foren. „Auch wenn es keine handfesten Beweise gibt, wer dahinter steckt“, schrieb der zuständige Redakteur Chris Elliott, „glauben die Guardian-Moderatoren, die es mit 40.000 Kommentaren am Tag zu tun haben, an eine orchestrierte Kampagne“.
Die Community Manager deutscher Nachrichtenportale sind vorsichtig mit solchen direkten Anschuldigungen. Man will die eigenen Leser nicht unter Generalverdacht stellen. „Natürlich ist es augenfällig, wie viele pro-russische Kommentare kommen, wenn wir etwas zu dem Konflikt schreiben“, sagt zum Beispiel Katharina Kütemeyer von Stern.de. „Aber wir können nicht belegen, dass das zentral gesteuert ist.“ Philipp Löwe von Spiegel Online beobachtet, „dass wir besonders nach russlandkritischen Artikeln natürlich Einiges abbekommen. Das sind dann auch erstaunlich kleinteilige Einlassungen, in denen wohl formulierte Argumentationsbausteine wörtlich wiederholt und massiv unter die Artikel gebracht werden. Aber ob das konzertierte Kampagnen sind oder nur eifrige Privatpersonen, die sich beispielsweise über Facebook-Gruppen organisieren, ist schwer zu sagen.“
Und letztlich ist man auch machtlos, so lange die Propaganda sich an allgemeine Regeln hält; nicht massenhaft postet, nicht rassistisch oder sexistisch wird. „Die Propaganda nutzt das Recht auf freie Meinungsäußerung aus, und die ist Grundlage für die Demokratie, die wir schützen wollen“, klagt Lipszyc. Und sie nutzt das grundsätzliche Misstrauen von Menschen, die den „Mainstream-Medien“ nicht mehr glauben wollen und dadurch empfänglich werden für diese Argumentationen.
Wie geht diese Propaganda der Basis vor? Mark Sleboda, der Experte von Russia Today, nennt Bellingcat „Internet-Trolle“. Die Regierung in Kiew ist in seinen Kreisen nur eine „Nazi-Junta“. Es gibt keine verschiedenen legitimen Standpunkte, sondern nur „Patrioten“ und „Faschisten“. So missbraucht man Begriffe und macht sie dadurch wertlos. Eine Diskussion wird unmöglich. Gegenüber westlichen Adressaten, so analysiert Jolanta Darczewska, nutzt die Propaganda wiederum deren Werte und Vokabeln. Putin sei ein „demokratisch gewählter Staatsmann“, der keinen Krieg will. Es geht plötzlich um „Investitionssicherheit“ und „Frieden“, wo die nach innen gerichtete Propaganda noch die russische Stärke und Vorherrschaft feiert.
Diese Kombination wirkt zerstörerischer auf den Diskurs als alle restriktiven Maßnahmen: „Nach Zensur und eindimensionaler Propaganda erleben wir eine neue Art von Angriff auf die Meinungsfreiheit“, sagt der Pole Lipszyc. Am Ende soll nicht einfach eine gegnerische Meinung unterdrückt, sondern jeder Standpunkt grundsätzlich unbrauchbar gemacht werden. Weil nicht mehr klar ist, worüber man überhaupt redet.
Propaganda sind immer die anderen
Die Russen sind damit nicht allein: Auch Nordkorea oder China unterhalten große „Troll-Armeen“, wie die chinesische sogenannte 50-Cent-Partei, benannt nach dem Lohn für jeden regierungsfreundlichen Kommentar. Westliche Demokratien ziehen nach: Die USA betreiben angeblich längst gezielte Online-Arbeit mit Hilfe leistungsstarker Software. Mit „Sockenpuppen“, also gesteuerten Online-Identitäten, soll zumindest im Mittleren Osten auf Arabisch, Farsi, Urdu und Paschtu extremistischen Botschaften entgegen gewirkt werden. In ihrem eigenen Hinterhof, in diesem Falle Kuba, könnten weitreichendere Propaganda-Methoden eingesetzt werden, wie beispielsweise ein Twitter-ähnliches Netzwerk, mit klar pro-amerikanischer Agenda, zur Schwächung des sozialistischen Regimes.
Großbritannien gründete kürzlich eine ganze Brigade, 1.500 Mann stark, für die hybride Kriegsführung im Netz. Wie der britische Geheimdienst GCHQ (zumindest in der Theorie) das Netz nutzt, um Online-Diskurse zu manipulieren, wurde im Zuge der Snowden-Leaks bekannt. Und selbst die EU gibt durchaus Geld aus, um „euroskeptische Wogen“ im Netz zu beobachten und entsprechend gegenzuwirken.
Propaganda, könnte man sagen, sind immer die anderen.
Doch war bis März 2015 kein einziger konkreter Fall bekannt, wo so offensichtlich und massiv auf den Diskurs eingewirkt wurde wie in der Ukraine-Krise. Die Gegenwehr der Euromaidan-Bewegung, die beim österreichischen Standard auf dem Höhepunkt der Maidan-Proteste 2014 ebenfalls „Einträge gegenseitig positiv bewerten und anfeuern“, bleiben Reaktionen auf eine virtuelle Übermacht. Oder wie es ein Kommentator auf netzpolitik.org formulierte: „Unter NSA-Berichten finden sich keine hunderte US-Verteidiger, obwohl Obama in Deutschland immer noch wesentlich beliebter ist als Putin.”
Der Krieg um die Deutungshoheit in der Ukraine jedenfalls kippt manchmal ins Komische: Sasha Grey, ehemalige amerikanische Pornodarstellerin, inzwischen Schauspielerin und Autorin, hat sicher schon viel erlebt. Krankenschwester in der Ukraine war sie jedoch nie. Doch als User der Plattform 2ch.hk („Dvach“) die Leichtgläubigkeit von pro-russischen Usern und Trollen testen wollten, machte man Grey kurzerhand zum unschuldigen Opfer. Ihr Bild landete neben dem schockierenden Bericht, dass sie, die Krankenschwester Sascha Serowa, von ukrainischen Soldaten mit einer Axt geköpft wurde. In dieser Art fälschte man einige Troll-Memes unter anderem mit dem Konterfei von Josef Mengele („Jegor Mangelow“, Spitzname „Engel“), angeblich als Frontarzt von den Ukrainern gefoltert und getötet.
Diese Berichte angeblicher ukrainischer Grausamkeiten waren ein gefundenes Fressen für die pro-russische Propaganda-Maschine, die sie massenhaft weiterverbreitete. Aber auch für nahezu alle deutschen Online-Medien (SPON, sz.de, focus.de) auf der Suche nach Beweisen für abstruse pro-russische Propaganda. Der Irrglaube, dass russische Propagandisten Grey missbraucht hatten, blieb hierzulande haften, nicht nur in der Wikipedia.
Wer braucht noch Wahrheit, wenn er den Sieg haben kann?
Wenn ein Ex-Pornostar zur Märtyrerin umgedeutet und manipuliert werden kann, wenn tausende krude Theorien gleichberechtigt neben vernünftigen Erklärungen stehen, wenn Fakten und Informationen in aggressivem Geschrei verschwimmen, scheint das Ziel erreicht. „Die russische Propaganda will keine eigene Wahrheit verbreiten, sondern nur den Glauben daran erschüttern, dass es so etwas wie eine Wahrheit geben könnte“, sagt Timothy Snyder, Historiker an der Universität Yale. „Die Europäer sollen nicht nur davon abgehalten werden, ihre eigenen Interessen zu verteidigen. Sie sollen sich auch Moskaus idiotisch-konspirativen Blick auf die Welt zu eigen machen“, sagte er der Zeit.
„Objektivität ist ein Mythos, den man uns aufzwingt“, behauptet hingegen der Journalist Dmitrij Kisseljow, als Chef der internationalen Nachrichtenagentur Rossija Sewodnja („Russland heute“) oberster Propaganda-Offizier Putins. „Unser Land braucht aber Liebe.“
Soll die Wahrheit ersetzt werden mit emotionaler Loyalität?
Der estnische Präsident Toomas Hendrik Ilves warnte auf der Münchner Sicherheitskonferenz: „Wenn wir das Konzept der empirischen Wahrheit aufgeben, dann sind wir zurück im Mittelalter.“ Es gelte dann nicht mehr das Recht des Richtigen, sondern das Recht des Stärkeren. Denn ohne den wissenschaftstheoretischen Pakt, dass es zumindest eindeutige Falsifizierung geben muss, funktionieren liberale Gesellschaften nicht, funktioniert die Aufklärung nicht – und alles, was wir ihr zu verdanken haben. Unsere Unterscheidung der gedanklichen Welt in „ist sicher falsch“ und „ist erst noch als falsch zu beweisen“ – sie ist in diesem „Informationskrieg“ nicht mehr nur Mittel, sondern Mittel, Zweck und Ziel zugleich.
Oder, aus anderer Perspektive betrachtet: „Früher hieß es: Der Sieger schreibt die Geschichte“, sagte Propaganda-Chef Kisseljow in seiner Wochenschau beim Staatssender Rossija 1. „Heute wird Geschichte geschrieben, um zu siegen.“
Die ARD-Korrespondentin Golineh Atai wurde 2016 vom Medium Magazin als „Journalistin des Jahres“ geehrt, speziell für ihre Arbeit in der Ukraine. In ihrer Dankesrede zeigte sie sich besorgt: „Ich werde überrollt von der Spin-Lawine, von der Inszenierungsmaschine des Kreml. Sie hat eine so fantastische Ausstrahlungskraft, dass mittlerweile alle meine deutschen Freunde gar nicht mehr wissen, worum es in der Ukraine und in Russland geht. Nur noch müde Zweifel sind übrig geblieben: ‚Nichts ist wahr. Alles ist möglich.‘“
Was klingt wie eine exakte Beschreibung der Zielsetzung der russischen Spetspropaganda, mündet bei Atai in einen flammenden Appell: „Legen Sie die Mittel der Infokrieger bloß. Zeigen Sie der Welt, wer Informationskriege angefangen und wer sie perfektioniert hat.”
Im digitalen Zeitalter geht dieser Aufruf nicht nur an Journalisten. Die Mittel zur Entlarvung sind demokratisiert. „Es ist und bleibt ein Unterschied, ob man etwas nur „Propaganda nennt, oder in einer fünfzehnminütige Präsentation haarklein erklärt, warum es Propaganda ist“, sagt Eliot Higgins. „Und fast jeder kann das.“
Einer der aktuellen Posts auf Bellingcat heißt: „Kontrolliere das Internet, und du kontrollierst das Narrativ.“ Eliot Higgins bleibt also fleißiger Optimist. Er will seine Methoden unabhängig bestätigen lassen. Und Propaganda dort entlarven, wo immer sie auftaucht. „Natürlich wird immer jemand versuchen, die Dinge zu verdrehen“, gibt er zu. „Aber wir werden immer mehr.“
So sitzen er und seine Leute vor ihren Computern. Analysieren Satellitenbilder, scannen Fotogalerien. Schauen unzählige Videos durch. Immer auf der Suche nach Feuerwerk. Nach kleinen weißen Punkten, kurz getakteten Salven, in flachem Winkel in den Himmel.
Aufmacher-Foto: Eliot Higgins (privat)