Diese Folge meines Newsletters will ich mit einem Zitat eröffnen, das nicht weniger als rund 100 Jahre alt ist. In den Zwanzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts formulierte der italienische Philosoph Antonio Gramsci eine Diagnose über die damalige Zeit, die genauso gut aus dem Jahr 2023 stammen könnte: Die Krise, sagte Gramsci, bestehe darin, dass „das Alte stirbt und das Neue nicht zur Welt kommen kann.“
Gibt es eine bessere Zusammenfassung unserer Gegenwart?
Unser neoliberales Wirtschaftssystem liegt im Sterben. Unser Planet ebenfalls. Die Demokratie, wie wir sie kennen, verliert an Zustimmung und Vertrauen. Der Postfaschismus lockt mit alten Heilsversprechen in neuen Wörtern und Theorien. Die Nachwehen der Pandemie belasten die Staatshaushalte, die steigenden Preise die Geldbeutel der Bevölkerung.
Doch egal, ob Klimakrise, Weltordnung, Artensterben, Postfaschismus, Krieg, Inflation, Hyper-Globalisierung oder die Krise von Demokratie und Menschenrechten, überall auf der Welt wehren sich Systeme, Institutionen und Entscheidungsmacher:innen gegen die Geburt des Neuen – und gleichzeitig natürlich gegen den Verlust ihrer Privilegien, die sich auf das gegenwärtige System stützen.
Wie zum Beispiel Industrie und Energiekonzerne, die Think-Tanks wie das Heartland-Institut finanzieren, um mittels pseudo-wissenschaftlicher Arbeiten Zweifel am menschengemachten Klimawandel zu säen. Oder Politiker:innen, die gezielt Desinformationen verbreiteten, um eine neue Verfassung in Chile zu verhindern.
Die gute Nachricht: Wir können die Zukunft bewirken, die wir beschreiben
Der Backlash hat verschiedene Gründe und Gesichter. Doch er richtet sich insgesamt gegen eine post-fossile Welt, in der wir nicht länger unsere eigenen Lebensgrundlagen vernichten, gegen ein Wirtschaftssystem, von dem alle profitieren. Und gegen ein Gesellschaftsbild, das auf Mitmenschlichkeit und Solidarität beruht, statt auf den Idealen einer Der-Mensch-ist-dem-Mensch-ein-Wolf-Mentalität.
Das alte System löst sich auf. Es kann nicht mehr. Gleichzeitig kann das Neue noch nicht zur Welt kommen. Die typischen Symptome dieser Zeit: Unsicherheit, Wut, ein Gefühl von Kontrollverlust und Hoffnungslosigkeit. Das zeigt zum Beispiel diese Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Civey für den Spiegel. Bei den 14- bis 24-Jährigen machen sich laut Vodafone-Stiftung 86 Prozent Sorgen um ihre Zukunft. Und die Langzeitstudie „Die Ängste der Deutschen“ zeigt auf, was die Deutschen aktuell besonders besorgt: steigende Lebenshaltungskosten, explodierende Immobilienpreise, Krieg, Naturkatastrophen, die allgemeine Wirtschaftslage. „Insgesamt sind die Menschen deutlich sorgenvoller als noch vor einem Jahr“, sagt Studienleiter Grischa Brower-Rabinowitsch.
Halten wir fest: Die Zukunft ist kein Versprechen mehr, sondern eine Bedrohung. Die Folge der allgegenwärtigen Krise? Eine zunehmende Politikverdrossenheit, die Teil der Krise ist – und sie gleichzeitig weiter befeuert. Viele glauben nicht mehr daran, dass sich irgendetwas in naher Zukunft zum Guten wendet. Oder dass sie politisch etwas bewirken können. Das Resultat: Rückzug. Nachrichten vermeiden. Grummeln. Meditieren statt protestieren. Viele beschränken sich darauf, das Ausmaß der vermeintlichen Ausweglosigkeit zu beschreiben und anzuprangern. Das ist verständlich, aber ein Problem.
Denn wer sich zurückzieht und passiv wird, überlässt den Verfechter:innen des Gestrigen den Raum. Dadurch bewirken und verstärken wir die Ausweglosigkeit, die wir beschreiben. Sie wird zu einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung. Die gute Nachricht ist: Diese Dynamik zeigt auch den Ausweg aus der Misere. Denn im Umkehrschluss bedeutet das: Wir können die Zukunft bewirken, die wir beschreiben. Wir müssen sie nur richtig beschreiben. Mit Hoffnung.
Hoffnung ist das wichtigste Instrument, das wir haben
Hoffnung hat einen schlechten Ruf. Dabei ist sie das wichtigste Instrument, das wir haben, um die Krisen der Gegenwart zu lösen. Klingt komisch? Nun: Hoffnung haben bedeutet nicht, Scheuklappen anzulegen, um die krisengebeutelte Realität zu ignorieren und zu behaupten, dass alles super sei. Im Gegenteil. „Hoffnung ist ein Mittel der Analyse, um die Voraussetzung des Wandels zu verstehen“, schreibt der Publizist Georg Diez.
Was er damit meint: Wer aus der Perspektive der Hoffnung die Gegenwart analysiert, bekommt einen klaren Blick. Für das, was sich ändern kann. Das ist die wichtigste Voraussetzung, um diese Veränderung zu bewirken.
In anderen Worten: Hoffnung als Analyseinstrument öffnet ein Möglichkeitsfenster. Sie öffnet den Raum zwischen der krisenhaften Realität und einer möglichen Zukunft. Sie beschreibt, wie es anders sein könnte und schafft damit die Voraussetzung für diese Veränderung.
Denn wenn wir uns eine Zukunft ausmalen, auf die wir hinarbeiten wollen, erfordert das auch, dass wir den Status quo analysieren. Schonungslos. Wir müssen uns fragen: Wie sind wir hier gelandet? Was ist falsch gelaufen? Welche Systeme, Institutionen und Glaubenssätze formen die Gegenwart – und wie lassen wir sie hinter uns?
Egal, ob wir über Klimakrise, Artensterben oder soziale Ungleichheit sprechen: Diese Fragen legen offen, was schiefläuft. Und je deutlicher die Gründe unseres Scheiterns, desto klarer wird, wie es anders laufen muss. Das zeigt: Hoffnung ist nicht naiv. Sie ist eine Strategie, die ihre eigene Realität erzeugt. Ein Analyseinstrument, das den Weg für Veränderung ebnet.
Im Dezember habe ich euch gefragt: Was macht euch politisch Hoffnung? Die Antworten: Die feministische Revolution in Iran, das anti-autoritäre Aufbegehren in China und der Aktivismus junger Menschen für das Klima. Leser Manfred macht Hoffnung, dass „wir im Verlauf von drei, vier Generationen aufgehört haben, in der Erziehung unsere Kinder zu schlagen.“ Hinzu kommt: Im Dezember haben sich die Teilnehmer:innen des UN-Weltnaturgipfels auf ein Abkommen zum Naturschutz geeinigt. Bis 2030 sollen knapp ein Drittel der weltweiten Land- und Meeresflächen unter Schutz stehen.
Klar, all das bedeutet nicht, dass wir sämtliche Probleme in Kürze aus dem Weg schaffen werden. Aber all diese Entwicklungen illustrieren, wie sich Fenster der Möglichkeiten öffnen. Der Weg hin zu einer möglichen Zukunft ist immer besser zu sehen. Und je besser er zu sehen ist, desto mehr Menschen können ihn beschreiten.
Redaktion: Julia Kopatzki, Bildredaktion: Philipp Sipos, Schlussredakion: Susan Mücke, Audioversion: Iris Hochberger