Am 20. Januar 2017 stand Donald Trump unter dem wolkenverhangenen Himmel Washingtons. Es war der Tag seiner Amtseinführung. Später, bei einem Ball, schwärmte er über das Wetter. „Gott schaute herab und sagte: ‚Wir lassen es nicht auf deine Rede regnen“, erzählte er. Ja, einige Tropfen seien am Anfang gefallen. Aber das habe sofort aufgehört. „Und dann wurde es richtig sonnig.“
Klingt biblisch, oder?
Nun: Während Trumps Amtseinführung regnete es. Die Menschen, die Trump zujubelten, trugen Regenhüte und Plastikcapes. Der Faktencheck ist selbst Jahre später noch leicht: Youtube aufrufen, „Trump Inauguration 2017“ eingeben, Video ansehen. Dass Trump ein notorischer Lügner ist, ist kein Geheimnis. Die Washington Post zählte in den vier Jahren seiner Amtszeit als US-Präsident mehr als 30.000 Lügen. Das sind 20 Lügen pro Tag.
Aber die Frage ist: Warum zur Hölle lügt jemand über das Wetter?
Es gibt so viele gute Gründe, um zu lügen: Man kann aus ideologischen Gründen Statistiken beschönigen, den Untergang des Abendlandes ausrufen, um Wahlen zu gewinnen oder den menschengemachten Klimawandel leugnen, um ihn politisch auszuschlachten.
Klar, für Politiker:innen wie Trump ist nicht die Wahrheit der Maßstab des eigenen Handelns, sondern der Erfolg. Schon Hannah Arendt hat in ihrem Essay „Wahrheit und Politik“ darauf hingewiesen, dass die Wahrheit nicht das Kerngeschäft der Politik ist. Schließlich wollen Politiker:innen die Realität nicht beschreiben, sondern verändern.
Doch die Wetter-Lüge ist anders.
Sie ist das Symbol eines ausgeklügelten Systems, das Autokrat:innen auf der ganzen Welt anwenden: Offensichtliche Lügen sind nicht nur eines der effektivsten Mittel um Aufmerksamkeit zu erzeugen, sondern auch ein Werkzeug, um Menschen zu Gehorsam und Loyalität zu zwingen. Und um ihren Widerstand zu brechen. Je dreister, desto effektiver. Klingt absurd? Wie genau das funktioniert, erkläre ich deshalb in diesem ersten Teil meines neuen Zusammenhangs „Wie Rechte regieren – und wie du sie stoppst“.
Was die Wetter-Lüge von einer Alltagslüge unterscheidet
Seien wir ehrlich: Wir alle lügen. Wir täuschen Schnupfen vor, weil wir nicht zur Arbeit gehen wollen. Wir schwärmen über die Erbsensuppe des besten Freundes, obwohl sie fürchterlich schmeckt. Und die Delle am Auto meiner Eltern? War ich nicht.
Was diese Lügen gemeinsam haben: Sie wollen nicht als solche erkannt werden. Lügner:innen wollen nicht erwischt werden. Das ist der Sinn einer Lüge. Der Partner soll glauben, man habe ihn nicht betrogen. Die Wähler:innen sollen glauben, man sei nicht korrupt. Der beste Freund soll glauben, dass die Erbsensuppe super ist.
Der Zweck einer Lüge hängt von ihrem Kontext ab. Lügen sollen Freundschaften und Beziehungen retten, die Wahrheit verschleiern, die Wiederwahl sichern oder Zweifel säen. Fliegen sie auf, kann das nerven, erzürnen, traurig machen oder amüsieren. Aber immer gilt: Im Angesicht der Wahrheit fallen all diese Lügen in sich zusammen.
Nicht so die Wetter-Lüge. Sie ist so offensichtlich gelogen, dass es eine Beleidigung der menschlichen Intelligenz wäre anzunehmen, die Menschen verstünden sie nicht. Das zeigt auch der Fall eines geistigen Verbündeten Trumps, des rumänischen Diktators und Stalin-Fans Nicolae Ceaușescu. Er herrschte in Rumänien von 1965 bis 1989. Auch er erhob sich zum Wettergott. Jahrelang fälschte Ceaușescu die Wetterberichte im eigenen Land. Im Ernst. Auf Anordnung des Präsidenten wurde es niemals kälter als minus 15 Grad.
Was Ceaușescu und Trumps Wetter-Spinnereien verbindet? Ganz einfach: Ihr Zweck ist nicht, die Wahrheit zu verschleiern. Es geht darum, die eigene Macht zur Schau zu stellen – und andere dazu zu zwingen, sie anzuerkennen.
Was wahr ist, bestimmt der Lügende
Masha Gessen arbeitet für das US-Magazin New Yorker und nennt solche Lügen „Machtlügen“: „Es ist die Lüge des größeren Jungen, der deine Mütze geklaut hat und sie trägt – und gleichzeitig leugnet, dass er sie überhaupt genommen hat“, schreibt Gessen in ihrem Essay „Surviving Autocracy“.
Das Problem: Gegen eine solche Lüge gibt es keine Verteidigung. Denn sie funktioniert jenseits der Kategorien „wahr“ und „falsch“. Ihr Zweck ist nicht, die Wahrheit zu verschleiern, sondern zu zeigen: „Ich kann sagen, was ich will, weil ich an der Macht bin.“
In anderen Worten: Diese Lüge ist eine Machtdemonstration. Wer die Realität je nach Gusto leugnet oder anerkennt, macht nichts anderes, als die eigene Macht zur Schau zu stellen.
So lässt sich zum Beispiel verstehen, warum Wladimir Putin nach langer Leugnung irgendwann offen zugab, dass russische Truppen auf der Krim aktiv sind: Nicht, weil er „erwischt“ wurde. Er gab es nicht kleinlaut zu, wie ein ertapptes Kind, sondern offen und großspurig. Putin wollte schlichtweg zeigen: Ich mache und sage, was ich will. Über die Fakten entscheide ich.
Hinzu kommt: Je offensichtlicher die Macht-Lüge, desto größer der Aufschrei, desto größer der mediale Druck, über sie zu berichten. Das Problem ist: Viele Medien gehen damit nicht richtig um. Sie behandeln Power-Lügen wie den Versuch eines Politikers, die Wahrheit zu verschleiern. Sie machen sich dann an aufwendige Faktenchecks und schreiben Kommentare über die Verrohung des politischen Diskurses. Aber das läuft ins Leere. Denn es wissen ja alle Bescheid.
Stattdessen spielen die Medien, die sich so verhalten, damit einer weiteren Funktion der Macht-Lüge in die Hände: Die Lüge soll nicht nur Macht demonstrieren, sondern auch Loyalität unter Anhänger:innen herstellen. Und eine Gesellschaft in Freund und Feind sortieren.
Die Macht-Lüge sortiert in Freund und Feind
Inzwischen kennen wir die Geschichten, mit denen Putin seinen Angriffskrieg rechtfertigt. Kurz bevor er den Befehl zum Einmarsch in die Ukraine gab, sprach er dem Nachbarland ab, ein souveräner Staat zu sein. Die Ukraine sei ein westliches Marionettenregime, sagte er. Das Land stehe außerdem kurz davor, sich Atomwaffen zu besorgen – und sei deshalb eine existenzielle Gefahr für Russland.
Bullshit.
Wer glaubt schon ernsthaft, die Ukraine stünde kurz davor, Atombomben zu besitzen? Wie bei Trump und seinem Wetter-Gesabbel ging es auch Putin nicht darum, die Wahrheit zu verschleiern. Hätte er tatsächlich glaubwürdig einen Krieg in der Ukraine rechtfertigen wollen, hätte er sich etwas Besseres ausgedacht.
Aber auch hier gilt: Es geht gar nicht darum, dass jemand diese Lüge ernsthaft glaubt. Sie ist bloß ein Instrument. Sie dient dazu, Loyalität herzustellen. Denn sie spaltet die Gesellschaft: In diejenigen, die sie aus Gehorsam akzeptieren – selbst wenn sie wissen oder ahnen, dass sie unwahr ist. Und in diejenigen, die sie nicht akzeptieren – und sich damit als Gegner:innen des Präsidenten outen.
Einen besseren Sortiermechanismus als eine offensichtlich unwahre Macht-Lüge gibt es kaum. Wer nicht in Ungnade fallen will, muss die Lüge akzeptieren. Der Autokrat verlangt bedingungslose Gefolgschaft. Je absurder die Lüge, desto größer der Druck. So zwingt man Menschen zu Gehorsam. Und Fakten werden zu einer Frage der Loyalität. Für die winkt natürlich eine Belohnung. Manchmal ist es ein guter Job. Manchmal das bloße Überleben. Für die allermeisten lautet die Verheißung aber nur: Seelenfrieden.
Power-Lügen spalten die Gesellschaft
Wer Macht-Lügen benutzt, stellt die Bevölkerung vor ein Dilemma: Soll man den eigenen Augen und Erfahrungen trauen? Oder die Behauptungen des Autokraten akzeptieren? Die Menschen müssen zwischen zwei Realitäten – und den entsprechenden Konsequenzen – wählen. Masha Gessen sagt: Das ist das Dilemma von Menschen, die in totalitären Gesellschaften leben.
In totalitären Staaten gilt: Der eigenen Wahrnehmung zu vertrauen, ist ein einsames Los. Schließlich muss man sich permanent mit den Lügen des Regimes beschäftigen, die eigene Wahrnehmung hinterfragen und aufpassen, mit der eigenen Opposition zur Realität der Machthaber nicht in Gefahr zu geraten. Ein rundherum stressiges Los.
Deshalb ist es verlockend, Lügen und Propaganda zu akzeptieren. Es birgt das Versprechen einer ruhigeren Existenz. Man muss keine Angst haben. Schließlich steht man auf der Seite der Macht – und kämpft nicht gegen sie. „Der Weg zum Seelenfrieden liegt darin, seinen Geist dem Regime zu überlassen“, schreibt Masha Gessen.
Dass Diktaturen Menschen mit diesem Mechanismus zum Gehorsam drängen, ist nicht neu. Es ist auch in Ländern wie Iran zu sehen: Viele Menschen vor Ort berichten, dass sie in der Öffentlichkeit schweigen und die Regeln und Lügen des Regimes akzeptieren, während sie zu Hause, wenn niemand zuschaut, das Kopftuch ablegen und die Politik kritisieren.
Dieser Mechanismus wirkt aber nicht nur in totalitären Regimen. Auch wer unter der ständigen Flut an Lügen, Hass und Propaganda von neofaschistischen Bewegungen lebt, befindet sich in einem permanenten Zustand der kognitiven Spannung. Einerseits kann niemand die Lügen der Demagog:innen ignorieren. Andererseits kann man sie aber auch nicht einfach glauben, weil sie so offensichtlich unwahr sind.
Dieses Spannungsverhältnis macht das Leben unglaublich anstrengend. Es lähmt. Und wer angesichts solch lächerlicher und offensichtlicher Lügen nichts dagegen unternehmen kann, fühlt sich hilflos. Niemand fühlt sich gerne hilflos. Und niemand mag die eigene Machtlosigkeit akzeptieren. Deshalb gibt es zwei Auswege, die die Befreiung von diesem Stress versprechen.
Ein Ausweg ist es, die autoritäre Version der Realität zu akzeptieren. Die andere Möglichkeit besteht darin, der Politik keine Aufmerksamkeit mehr zu schenken und sich ins Private zurückzuziehen. Beide Möglichkeiten sind ein Sieg für die Anti-Demokraten.
Was hilft also dagegen? Klar, eine Lösung für alles gibt es nicht. Aber ein paar Ansätze.
So können wir uns gegen Power-Lügen wehren
Eine Lüge hat nur so lange Macht, wie Menschen sich ihr unterwerfen. Das schrieb der tschechische Essayist und Politiker Václav Havel schon 1978 in seinem Essay „The Power of the Powerless“. Jeder Einzelne kann sich also dafür entscheiden, sich der Lüge nicht mehr zu unterwerfen. Deshalb sind Abweichler:innen und Dissident:innen so wichtig. Sie verbreiten im Alltag und in ihrem persönlichen Umfeld die Einsicht: Es ist möglich, sich einer Lüge zu widersetzen. So vergrößert sich die „Macht der Machtlosen“.
Bei Trump sehen wir aktuell: Strafverfolgung hilft. Unabhängig von der Lagerbildung der Gesellschaft müssen die Behörden möglichen Straftaten konsequent nachgehen. Das führt nicht unbedingt dazu, dass alle Trump-Fans sich von ihm abwenden. Sie sehen jede Ermittlung als vermeintliche Hexenjagd der Regierung gegen ihre Gruppe. Viel wichtiger ist aber: Die mächtigen Unterstützer:innen wenden sich nach und nach von ihm ab. Sie haben Angst, dass die Gefolgschaft ihnen selbst doch noch schadet. So bricht seine Basis langsam weg.
Auf persönlicher Ebene gilt: Rückzug hilft nicht. Wenn wir uns dazu entscheiden, einfach keine Nachrichten mehr zu schauen, überlassen wir den Anti-Demokrat:innen das Feld. Was helfen kann, ist „kritisches Ignorieren“. Diese Taktik haben Forscher:innen jüngst als neue Kernkompetenz im digitalen Zeitalter beschrieben. Sie sagen: Unsere Aufmerksamkeit ist begrenzt. Deshalb müssen wir heutzutage in der Schule lernen, welche Themen und Menschen wir ignorieren können, um uns auf die wichtigen Dinge zu konzentrieren. Denn wer gewissen Lügen die eigene Aufmerksamkeit verweigert, schafft in der algorithmusgetriebenen Öffentlichkeit des digitalen Zeitalters mehr Platz für Wahrheit und wichtige Debatten. Das ist ein Anfang.
Redaktion: Lisa McMinn, Schlussredaktion: Susan Mücke, Bildredaktion: Philipp Sipos, Audioversion: Iris Hochberger