Wusstest du, dass du uns bei Krautreporter auf unserer Webseite ständig Fragen stellen kannst? Krautreporter-Leserin Steffi hat das getan und uns gefragt: Was bedeutet „Öffentlichkeit“? Wie entsteht sie? Und welche Mechanismen bestimmen die öffentlichen Debatten? Danke, Steffi! Darum geht es heute in meinem Newsletter.
Medien und Öffentlichkeit sind nicht das Gleiche. Aber unsere Aufmerksamkeit hechtet oft einem Ereignis nach dem anderen hinterher – und meist erfahren wir daraus aus den Medien: egal ob Terror in Colorado, Trumps Twitter-Comeback oder das Ende der Klimakonferenz. Ich möchte aber einen kurzen Blick zurückwerfen. Auf einen Aufreger, der schon ein paar Tage zurückliegt.
Am 9. November war die Klima-Aktivistin Carla Rochel zu Gast in der Talkshow von Markus Lanz. Es ging darum, wer sich aus welchen Gründen an Straßen festkleben darf. Also: um die Klimakrise.
In einem Teil der Sendung forderte Lanz Rochel auf, „optimistisch“ zu sein. Die Geschichte der Menschheit sei eine Geschichte der Anpassung, sagte er. Das gelte auch für die Klimakrise. Rochel erklärte ihm, dass das nicht der Fall sei. „Doch“, entgegnete Lanz. Als Rochel ihn darauf hinwies, dass eine 2,7 bis 4 Grad wärmere Welt laut wissenschaftlichen Prognosen Leid und Tod für viele Menschen bedeuten würde, fragte er: „Aber woher wissen denn die Wissenschaftler das?“
Manchmal genügt ein einziger Moment, um die Logik unserer Zeit wie in einem Glaskasten auszustellen.
Vor fünf Jahren hat der Weltklimarat in einem Sonderbericht beschrieben, was uns erwartet, wenn die globale Durchschnittstemperatur das 1,5-Grad-Ziel übersteigt: Armut für Millionen von Menschen, Ernteeinbußen, Gletscherschmelze, untergehende Inseln. Lanz ignoriert das.
Wie kann ein Fernsehmoderator, hinter dem eine ganze Mannschaft gut ausgebildeter Journalist:innen steht, die Realität so verzerrt wahrnehmen?, fragte ich mich. Bis ich erkannte, dass die Sendung symbolisch für eine viel größere Entwicklung der vergangenen Jahre steht. Es ist eine Entwicklung, die unsere Demokratie untergräbt. Weil sie ihr Fundament erschüttert.
Damit eine Demokratie funktioniert, müssen alle an dieselbe Wahrheit glauben
Es ist ja so: Wenn wir als Gesellschaft konstruktiv über unser Selbstverständnis als Demokratie streiten wollen, brauchen wir eine öffentliche Debatte. Wir müssen über Probleme reden und darüber, wie wir eigentlich leben wollen. So weit, so einfach. Es gibt aber eine Voraussetzung für das Gelingen dieser öffentlichen Debatte: Wir müssen uns zumindest darüber einig sein, was eigentlich real ist und was nicht.
In anderen Worten: Eine funktionierende Demokratie braucht eine Gesellschaft, die ein geteiltes Verständnis der Realität hat. Wir müssen alle an dieselbe Wahrheit glauben. Das ist ein Grundgebot für jede funktionierende Gesellschaft. Nur dann funktionieren nämlich Regeln, an die sich alle halten – weil sie Sinn ergeben. Etwa beim Beispiel Klimakrise: Es ist sinnlos, mit einem Klimawandel-Leugner über die richtigen politischen Maßnahmen zu streiten, die uns auf den 1,5-Grad-Pfad bringen. Vor einer solchen Debatte müsste dieser erst einmal anerkennen, dass es die Klimakrise gibt.
Diese geteilte Realität ist die kritische Infrastruktur der Demokratie. Ohne geht es nicht. Denn wenn wir uns nicht einmal einig sind, was real ist und was nicht, kann es auch keine wirkliche Verständigung mehr darüber geben, wer wir sein und wie wir leben wollen.
Und damit kommen wir zu dem Problem, das die Sendung von Markus Lanz so banal illustriert hat: Die Realität ist tot.
Das Fernsehen hat aus Politik eine Show gemacht
Schon 1985 veröffentlichte der Medienwissenschaftler Neil Postman ein Buch: „Amusing Ourselves to Death: Public Discourse in the Age of Show Business“ (dt.: Wir amüsieren uns zu Tode: Öffentlicher Diskurs im Zeitalter der Unterhaltungsindustrie). Postman sagt: Medien beeinflussen unsere Konzepte von Wahrheit und die Art und Weise, wie wir denken. Sie kreieren Erfahrungen und Wissen. In anderen Worten: Medien produzieren unsere Realität.
Besonders interessiert Postman sich für das Fernsehen. Dort muss alles unterhaltsam sein. Die Menschen müssen vor dem Fernsehen gehalten werden. Das Entertainment, sagt Postman, ist so zur natürlichen Form geworden, in der sämtliche Erfahrungen und Realitäten präsentiert werden. Und das hat nicht nur unsere Wirklichkeit in ein Showbusiness verwandelt, sondern auch unsere öffentliche Debatte.
Anstatt stundenlang über Gesetze zu streiten, machte das Fernsehen aus Politiker:innen Celebrities, die sich selbst in Szene setzen, strategische Kommunikation betreiben und darauf bedacht sind, ihr Image zu pflegen. Auch Talkshows wie die von Markus Lanz zeigen diese Entwicklung: Ihr Ziel ist es in erster Linie, das Publikum zu unterhalten. Infotainment nennt sich das.
So ist auch der Titel von Postmans Buches zu verstehen: Das Fernsehen als Massenmedium, sagt er, sorge dafür, dass die Menschheit sich letztlich zu Tode amüsiere. Denn wenn wir die Realität bloß noch als Entertainment wahrnehmen, bleibt kaum Platz für ernste und konstruktive Debatten.
Inzwischen leben wir in einer anderen Welt. Die Digitalisierung hat die analoge Realität verschluckt. Das Web 2.0 hat nicht nur das Fernsehen als Leitmedium abgelöst, sondern auch eine neue Architektur der Partizipation geschaffen: Jede Person mit Internetzugang kann im Netz an Debatten teilnehmen, Posts liken und kommentieren, Inhalte hochladen, hetzen und hassen, diskutieren und recherchieren.
Was aber bedeutet das für unseren öffentlichen Diskurs?
Im Internet gibt es mehr als eine Realität
Printzeitung, Radio und Fernsehen waren Massenmedien. Sie schufen eine geteilte Realität. Aber sie hatten auch einen Nachteil: Es war einer kleinen Elite vorbehalten, an der Produktion dieser Realität mitzuwirken. Die Digitalisierung hat das geändert.
Heutzutage kann jede Person mit Smartphone und Internetzugang daran mitwirken, Realität, Wissen und Erfahrungen zu produzieren. Aus dem Bett, auf dem Klo oder auf dem Weg zur Arbeit. Mit Fotos, Videos, Sprachnachrichten, E-Mails, Kommentaren, Quote-Tweets und Swipes. Gleichzeitig ist jeder Facebook-, Instagram-, Tiktok- oder Twitter-Feed personalisiert. Es gibt keine zwei Menschen, denen die gleichen Posts angezeigt werden. Wie Tiktok funktioniert, hat mein Kollege Tarek Barkouni in diesem Text erklärt.
Das heißt: Heutzutage kuratiert, produziert und konsumiert jeder seine ganz eigene Realität. Sie bewegt, verändert und sortiert sich neu, im Sekundentakt.
Das verändert alles, sagt der Medienwissenschaftler William Merrin in seinem Paper „Bemusing Ourselves to Death: Public Discourse in the Age of Social Media“, was übersetzt etwa heißt: Wir verwirren uns selbst zu Tode: Der öffentliche Diskurs im Zeitalter der sozialen Medien. Die Zerstörung der geteilten Realität sei die umfassendste und wichtigste Folge der Digitalisierung, sagt er. Was wir beobachten können, ist die Aufteilung der Realität in Milliarden von Einzel-Filterblasen. Das heißt: Alle Internetnutzer:innen suchen jederzeit ihre eigene Wahrheit in ihrer eigenen, kleinen und doch grenzenlosen Welt.
Was das für den öffentlichen Diskurs bedeutet, ist offensichtlich: Es wird immer schwieriger, sich miteinander zu verständigen. Weil die Grundvoraussetzung fehlt, die geteilte Realität. Ohne die kann es auch keine öffentliche Debatte über unser Selbstverständnis als Demokratie geben. In anderen Worten: Die kritische Infrastruktur der Demokratie bricht zusammen.
An die Stelle der Entertainment-Logik der TV-Ära tritt gerade eine andere: Verwirrung und Ratlosigkeit. Merrin sagt: Wir amüsieren uns nicht mehr zu Tode, wir wundern und verwirren uns dem Abgrund der Demokratie entgegen.
Redaktion: Lisa McMinn; Schlussredaktion: Bent Freiwald; Bildredaktion: Philipp Sipos; Audioversion: Iris Hochberger