Eine Frau steht erhöht, umringt von einer Menschengruppe. Es ist Nacht, im Hintergrund brennt etwas.

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Politik und Macht

Wie gelingt eine Revolution?

Ob Iran eine Demokratie wird, kann niemand sagen. Aber ich zeige euch, was es für einen erfolgreichen Umsturz braucht.

Profilbild von Rebecca Kelber
Reporterin für eine faire Wirtschaft

Manchmal beginnt es mit einer Kleinigkeit. Im Libanon wollte die Regierung 2019 eine Steuer auf WhatsApp-Anrufe erheben. Tausende protestierten im ganzen Land, der Premierminister Saad Hariri musste zurücktreten. Und ein Zeitungsartikel, der den Ajatollah Chomeini beschimpfte, löste 1979 die islamische Revolution mit aus.

Manchmal beginnt es mit einer Ungerechtigkeit. In Tunesien zündete sich im Dezember 2010 der tunesische Gemüsehändler Mohamed Bouazizi selbst an, weil er sich nicht länger von der Polizei demütigen lassen wollte und die 22-jährige Masha Amini starb in Iran im Polizeigewahrsam. Sie soll festgenommen worden sein, weil ihr Kopftuch ihr Haar nicht komplett bedeckte.

Manchmal beginnt es mit einer politischen Entscheidung. Fidel Castro kam in Kuba an die Macht, weil die Regierung die Wahlen einfach absagte, als sie begriff, dass sie sie verlieren würde. Der ukrainische Präsident Viktor Janukowitsch entschied 2013, ein EU-Abkommen nicht zu unterschreiben. Das löste den Euromaidan aus.

Ein Auslöser, eine Schwelle, ein Kipp-Punkt: So beginnen Revolutionen. Massen an Menschen strömen dann auf die Straße, im ganzen Land. Weil sie ebenfalls genug haben von Ungerechtigkeit. Wut entlädt sich kollektiv. Sie ist stärker als die Angst, der Frust und die Apathie, die die Menschen vorher am Protest gehindert hatten.

In den Nachrichten dominieren dann emotionale Bilder: Die Nacht der friedlichen Revolution in Deutschland oder die Massen auf dem Tahrir-Platz in Ägypten. Wir bewundern den Mut dahinter. Wir sehen, wie viel Menschen bewirken können, wenn sie zusammenstehen.

Viele Menschen sind zu sehen, sie halten sich gegenseitig an den Händen.

Zehntausende anti-Mubarak-Demonstrierende halten sich auf dem Tahrir-Platz an den Händen. Kairo, Februar 2011. © picture alliance / dpa | Franck Fernandes

Revolutionen gibt es schon seit Jahrhunderten, auf ihnen ruhen die Gründungsmythen von Ländern wie den USA oder Frankreich. Schon seit Jahrzehnten forschen Politikwissenschaftler:innen dazu, was eine Revolution ausmacht. In der wissenschaftlichen Datenbank Google Scholar finden sich über 3,5 Millionen Ergebnisse zum Stichwort „social revolution“.

In Iran beginne gerade eine Revolution, schreibt meine Kollegin Gilda Sahebi bei uns. Doch was heißt „Revolution“ überhaupt? Und was muss passieren, damit sie gelingen kann? Diese Fragen stellen sich gerade so dringend wie seit langem nicht mehr. In diesem Text suche ich nach Antworten.

Was ist überhaupt eine Revolution?

Der Sozialwissenschaftler Albert Hirschman veröffentlichte 1970 das Buch, „Voice, Exit, Loyalty“. Er argumentiert, wenn in sozialen Gefügen viele Menschen unzufrieden seien, gebe es drei Möglichkeiten. Am Beispiel eines Betriebs: Wenn Hans in seiner Firma unzufrieden ist, kann er seine Bedenken äußern und versuchen, etwas zu verändern (voice). Er kann kündigen (exit) oder sich an die Situation anpassen und einfach weiterarbeiten, aus Überzeugung oder Bequemlichkeit (loyalty).

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Gibt es Massenproteste, entscheiden sich große Teile der Bevölkerung um. Statt zu versuchen, das Land zu verlassen oder sich stillschweigend anzupassen, äußern sie ihr Unbehagen. Wer sich für „voice“ entscheidet, tut das oft, weil die Kosten für den „exit“ zu groß sind, schreibt Hirschman. Etwa weil er kein Visum in Ländern bekommt, die vielversprechender erscheinen.

Als im Libanon 2019 Massenproteste losgingen, sprachen die Menschen von einer thaura, also der Revolution. Für einen Moment schien alles möglich. Staatschef Saad Hariri trat zurück. Langfristig änderte sich aber kaum etwas. Heute befindet sich das Land in einer tiefen politischen und ökonomischen Krise, über die Hälfte der Bevölkerung lebt inzwischen in Armut, die Inflation zwischen 2020 und 2022 lag bei 90 Prozent berichtet Deutschlandfunk Kultur.

War das eine Revolution? Wohl eher nicht, zumindest keine gelungene. Denn dafür wäre eine radikale Veränderung der politischen, sozialen und ökonomischen Bedingungen nötig gewesen, steht im Politiklexikon.

Nicht alles, was radikal ist, ist eine Revolution. „Defund the police“ ist kein revolutionärer Ausruf, weil er nur eine einzige Behörde angreift. „Nieder mit dem Regime“ dagegen schon. Auch ein Putsch ist keine Revolution. Wenn also eine kleine Gruppe der Machtelite des Landes geplant die Macht an sich reißt, wie beim versuchten Militärputsch in der Türkei 2016.

Mir machen Revolutionen Angst

Ich muss an dieser Stelle zugeben, dass ich kein großer Fan von Revolutionen bin. Das ist insofern bemerkenswert, als ich Politikwissenschaft an einer Universität studiert habe, an der sich wohl die Mehrheit meiner Kommiliton:innen als linksradikal bezeichnet hat. Ich kannte einige, die nicht nur Marx, sondern auch Lenin im Lesekreis lasen. Wer die SPD wählte, galt als konservativ, wer für Reformen statt Revolutionen eintrat, als spießig. Dass ich trotzdem nicht für Revolutionen zu haben bin, liegt wahrscheinlich daran, dass mir Sicherheit ausgesprochen wichtig ist. Und es gibt wenige Zeiten, die so unsicher sind wie Revolutionen. Natürlich ist es für mich leicht, das aus meiner bequemen, deutschen Perspektive so zu sehen. Immerhin bin ich in einem wohlhabenden und demokratischen Land geboren. Der Alltag der Demonstrierenden in Iran ist dagegen sowieso von Unsicherheit geprägt.

Oft sieht die Welt nach der Revolution allerdings schlimmer aus als vorher. Der neue Diktator Ägyptens, Al-Sisi, brachte eine neue, härtere Form der Diktatur ins Land.

Die iranische Friedensnobelpreisträgerin Shirin Ebadi war die erste Richterin Irans. Als die wütenden Massen den Schah stürzen wollte, machte sie mit. Nach der islamischen Revolution verlor sie ihren Posten: Frauen durften nicht mehr als Richter:innen arbeiten.

Wie startet man eine Revolution?

Die Frage, warum es zu Revolutionen kommt, lässt sich nur schwer beantworten. Einen Monat vor der russischen Revolution verkündete Lenin: „Wir, die Alten, werden vielleicht die entscheidenden Kämpfe dieser Revolution nicht miterleben.“ Kurz vor den Protesten und Revolutionen im arabischen Raum, die wir „arabischer Frühling“ nennen, waren sich Sozialwissenschaftler:innen sicher: Die Diktaturen würden noch jahrzehntelang fortbestehen.

Aus der Zukunft betrachtet wirkt die Vergangenheit wie eine unvermeidbare, logische Abfolge. Aber Geschichte ist weniger vorhersehbar als wir annehmen. Deshalb können wir so gut über die Zitate berühmter Menschen lachen, die erklärten, der Computer oder das Internet oder das Auto werde sich niemals durchsetzen.

Ein paar Anhaltspunkte gibt es aber. Der Revolution geht immer eine Unzufriedenheit voraus. Eine, die die Bevölkerung spürt, die sich jahrelang angestaut hat. Weil niemand zuhört, der etwas ändern könnte. Soziale Ungleichheit ist ein Nährboden für Unzufriedenheit, auf dem eine Revolution wachsen kann, sagt Bert Hoffmann, der Politikwissenschaft an der Freien Universität Berlin lehrt.

Menschen messen ihre Ansprüche an dem, was sie um sich herum sehen, sagt Hoffmann. Und auch an dem, was sie von der Zukunft erwarten. In Tunesien gab es vor der Revolution 2010 in der Bevölkerung das Gerücht, der damalige Diktator Ben Ali halte weiße Tiger in seinem Präsidentenpalast. Währenddessen konnten sich viele kein Brot mehr leisten. Oft brechen revolutionäre Proteste in Zeiten aus, in denen Menschen hungern, zumindest die meisten. Die Elite des Landes lebt dagegen im Überfluss.

Dass das Brot teurer wird, ist nicht banal, wenn das Geld schon vorher so knapp ist, dass es kaum zum Leben reicht. In der Politikwissenschaft ist der autoritäre Gesellschaftsvertrag in diesem Kontext ein wichtiger Begriff. Er beschreibt Gesellschaften, in denen die Bevölkerung zwar unfrei ist, aber der Diktator dafür sorgt, dass seine Untertanen genug zum Leben haben. Sie sind unfrei, aber satt und haben kein Interesse an Umstürzen. Erst, wenn das Gefüge zusammenbricht, kommt es zu Revolutionen.

Wie verläuft eine Revolution?

Ein Patentrezept für eine Revolution gebe es nicht, sagt Politikwissenschaftler Bert Hoffmann. „Wenn es das gäbe, würde es die Gegenseite mitbekommen und verhindern.“ Als Che Guevara versuchte, seine revolutionäre Methode von Kuba auf Bolivien zu übertragen, scheiterte er – und wurde schließlich erschossen.

Manche Elemente von Revolutionen wiederholen sich aber: Zu Beginn stehen, laufen und skandieren die Massen auf der Straße. Damit die Proteste wieder verebben, können kleine Zugeständnisse der Regierung reichen. Die Erhöhung der Metrofahrten kann zurückgenommen, eine neue Wahl versprochen werden. Kommen diese Konzessionen zu spät, lässt die Bevölkerung sich nicht mehr befrieden. Schnell geht es um mehr, oder um ganz anderes.

Am Anfang weiten sich Proteste manchmal auch deshalb zur Revolution aus, weil Diktatoren mit einer Gewalt vorgehen, die auch jene als ungerechtfertigt empfinden, die sonst nicht protestieren würden. Die russische Revolution im Februar 1917 wurde beispielsweise angefacht vom Zaren, der auf Arbeiterinnen und Soldatenmütter schießen ließ, die für Brot und Arbeiter:innen-Räte protestierten.

Wann sind Revolutionen erfolgreich?

Wie es zum Umsturz kommt, ist also jedes Mal ein bisschen anders. Aber wann ist eine Revolution erfolgreich? Die Autorin Bini Adamczak hält, im Gegensatz zu mir, viel von Revolutionen. Der Umsturz, schreibt sie in ihrem Buch „Beziehungsweise Revolution“, sei dabei nur ein Element der Revolution. Oft käme es wieder und wieder zu Umstürzen. Das Ziel – eine andere politische und wirtschaftliche Ordnung – ist nämlich gar nicht so schnell zu erreichen. Oft komme es im Prozess wieder und wieder zu Rückschritten. Revolutionen sind also nicht geradlinig, sondern ein ewiges Hin und Her.

Ist eine Revolution erfolgreich, wenn sich zumindest Kleinigkeiten verbessert haben? Nach den Massendemontrationen im Libanon konnten Vertreter:innen der Protestbewegung bei der nächsten Wahl viel mehr Sitze gewinnen als vorher vorstellbar gewesen wäre. Befindet sich der Libanon also mitten im revolutionären Prozess? Manche würden das so sehen.

Damit der Umsturz gelingen kann, braucht es aber nicht nur Massenproteste, sondern auch ein Implodieren der bisherigen Führung. Die politische Elite des Landes steht dann nicht mehr hinter dem Diktator, dem bisherigen Regime. Ein Knackpunkt sind beispielsweise die Sicherheitskräfte. Bleiben sie auf der Seite des Machthabers, auch wenn sie auf Menschen schießen müssen, die ihre Verwandten oder Freund:innen sind? Oder wechseln sie die Seiten, wie bei der Februarrevolution in Russland?

Aber auch die andauerndsten Proteste können allein nichts ausrichten. Ein trauriges Beispiel dafür ist Syrien. Wenn die politische Elite zusammenhält, wenn das Militär bereit ist, auf seine eigene Bevölkerung zu schießen, kommt es nicht zur Revolution, sondern zum Bürgerkrieg. Oder zum blutigen Ende der Proteste, wie beim Massaker auf dem Tian’anmen-Platz 1989 in China.

Geht alles gut, erreicht die Revolution den ersten großen Erfolg: Der Herrscher kann sich nicht mehr halten, muss zurücktreten. Für eine echte Revolution geben sich die Demonstrierenden damit aber nicht zufrieden. Alles soll anders werden, fordern sie.

Nach dem Umsturz beginnt die wirklich harte Arbeit

Es folgt der schwierigste Teil jeder Revolution. Das Gesicht des alten Staats hat abgedankt, aber die alten Eliten sind noch nicht verschwunden. Und sie haben ein großes Interesse daran, dass sich möglichst wenig ändert.

Die kubanische Revolution 1959 gelang auch deshalb, weil die politischen Eliten problemlos nach Miami ausfliegen konnten. Sie überließen den Protestierenden das Land und die kubanische Revolution blieb vergleichsweise unblutig. Das ist keineswegs der Normalfall. Die 2011 begonnene Revolution in Ägypten scheiterte auch deshalb, weil das Militär die Kontrolle über die politischen Veränderungen im Land behielt. Damit bestimmte ein entscheidender Teil der alten Machtelite, ob und inwiefern das Land demokratischer wurde.

Nach dem Sturz müssen Millionen Menschen gemeinsam neue Antworten auf die Frage finden, in was für einer Welt sie leben wollen. Oder, weniger pathetisch: Es braucht eine neue politische Architektur, eine neue Verfassung, neue Behörden.

Das ist eine besonders herausfordernde Zeit, sagt die Politikwissenschaftlerin Mariam Salehi. Sie forscht am Zentrum für interdisziplinäre Friedens- und Konfliktforschung an der Freien Universität Berlin. Es gehe in dieser postrevolutionären Zeit vor allem darum, schnell zu sein. Und Veränderungen auf den Weg zu bringen. „Aber wenn man den Prozess inklusiv, partizipativ, möglichst demokratisch gestalten möchte, dann dauert es halt.“

In dieser Zeit, nach der Revolution, kommt manchmal Hilfe von Außen. Oft heißt es, der globale Norden finanziere andernorts Revolutionen. Einen wahren Kern hat der Mythos. Zum Beispiel suchen Revolutionär:innen manchmal Unterstützung aus dem Ausland, sagt Salehi. Tunesier:innen hatten sich beispielsweise bewusst an Ex-Sowjet-Staaten gewandt, um zu lernen, wie sie nach der Revolution mit den Überresten der starken Geheimpolizei umgehen sollten.

War die bekannteste Revolution der Welt überhaupt erfolgreich?

In Diktaturen liegt nicht nur die politische Macht in den Händen weniger, sondern auch die wichtigen Unternehmen. Nach einer Revolution werden Länder im besten Fall also politisch umgebaut. Das ist aber oft nicht genug. Datenleaks wie die Panama Papers oder die Swiss Leaks zeigen immer wieder gewaltige Vermögen von mächtigen Männern in Diktaturen. Diese ökonomische Machtkonzentration aufzubrechen, ist besonders schwierig und braucht oft mehr als ein paar Jahre.

Was also eine erfolgreiche Revolution ist, zeigt sich oft erst nach vielen Jahren und Jahrzehnten. Kämpfe müssen immer wieder gefochten werden, bis sie irgendwann gelingen. Und spätestens nach einem Umsturz braucht es Reformen, die langsam und mühsam sind.

Die Französische Revolution führte zur sogenannten Grand Terreur, einer Schreckensherrschaft. Wer gegen die Revolution war, wurde hingerichtet. Hunderttausende fielen dem zum Opfer. Die wichtigste Revolution der Geschichte scheiterte also zunächst.

Aus heutiger Perspektive war die französische Revolution trotzdem erfolgreich. Durch sie konnte sich die Idee der Demokratie verbreiten, die heute die Grundlage für unser aller Leben bildet. Niemals sollten wir unterschätzen, wie viel es verändert, wenn Gedanken gleichzeitig aus Millionen Kehlen gerufen werden.


Redaktion: Thembi Wolf; Schlussredaktion: Bent Freiwald; Bildredaktion: Philipp Sipos, Audioversion: Iris Hochberger

Wie gelingt eine Revolution?

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