Wie demokratisch klingt dieser Satz für dich: „Die Stimmabgabe ist geheim: Es darf keine Kontrolle über die Stimmabgabe der Wähler ausgeübt werden.“ Klingt doch nach moderner Demokratie, nach Freiheit und Selbstbestimmung bei Wahlen, oder?
Es ist Artikel 99 der Verfassung der Sowjetunion.
Die Sowjetunion war ein totalitärer Staat. Die Wahlen waren eine ritualisierte Show, die lediglich einem Zweck diente: Die Herrschenden konnten sich darauf berufen, den vermeintlichen Volkswillen zu repräsentieren. Das ist lange her. Auch wenn Putin es nicht wahrhaben will: Die Sowjetunion ist Geschichte. Die Gefahr des Totalitarismus aber nicht.
Weltweit sehen wir autoritäre und totalitäre Herrscher oder solche, die es werden wollen. Demagog:innen, die im Namen eines angeblichen „Volkswillens“ Menschenrechte einschränken und gegen Körper, Sexualitäten, Glaubensrichtungen und Überzeugungen hetzen, die nicht in ihren Dreiklang aus Gott, Vaterland und Familie passen. Die falschen Prophet:innen der Gegenwart versprechen die Rückkehr in eine idealisierte Vergangenheit, die nie existierte. Und sie instrumentalisieren demokratische Wahlen, um die Demokratie auszuhöhlen.
Auch in einer der ältesten Demokratien der Welt, den USA.
In den Vereinigten Staaten stehen die Midterm Elections an, die Zwischenwahlen. Sie heißen so, weil sie immer zur Halbzeit einer Präsidentschaft stattfinden. Die US-Bürger:innen wählen am 8. November das gesamte Repräsentantenhaus und ein Drittel des Senats neu. Laut einer Recherche der Washington Post schickt die Republikanische Partei 299 Kandidat:innen ins Rennen, die das Ergebnis der Präsidentschaftswahlen von 2020 anzweifeln oder nicht anerkennen. Die Partei radikalisiert sich seit Jahren. Ihr großes Vorbild ist der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán. Er war einst ein flippiger Revolutionär, heute ist er ein rechter Autokrat.
Orbán und die US-Republikaner teilen eine Idee
Menschenrechte, Rechtsstaatlichkeit, Pressefreiheit sowie die Unabhängigkeit von Justiz, Wissenschaft und Kultur: Seit der Amtsübernahme 2010 hat die Regierung von Viktor Orbán den ungarischen Staat tiefgreifend umgebaut und so gut wie jede Institution im Land unter direkte oder indirekte Kontrolle gebracht. Sie hat die Wahlkreise im Land zu ihren Gunsten zugeschnitten, kontrolliert die Medien, hat Gerichte mit loyalen Richter:innen besetzt, die Grundrechte der Ungar:innen eingeschränkt, Nichtregierungsorganisationen und Geflüchtete dämonisiert, Anti-LGBTQI*-Gesetze erlassen, Lehrpläne von Schulen und Universitäten umgeschrieben, Theaterintendant:innen ausgetauscht und Wohnungslose kriminalisiert.
Mit einer Zwei-Drittel-Mehrheit im Parlament arbeiten Orbán und seine Gefolgsleute an einem System, das er selbst als „illiberale Demokratie“ bezeichnet. „Der neue Staat, den wir in Ungarn bauen, ist kein liberaler Staat, sondern ein illiberaler Staat“, sagte der Regierungschef 2014 in einer Grundsatzrede. Seither hat er nicht aufgehört, an seiner Vision zu arbeiten – und deutsche Interessen für sich zu nutzen.
Orbán ist inzwischen zu einer Art Posterboy der globalen Rechten geworden: Die intellektuelle Elite der regressiven Bewegungen aus aller Welt versammelt sich regelmäßig um den ungarischen Regierungschef und dessen Konzept der „illiberalen Demokratie“. In Sommerschulen, Konferenzen und Institutionen machen sie sich fleißig Notizen und denken Orbáns Regierungsmodell weiter. In den USA sprechen Vordenker der Republikanischen Partei wie Rod Dreher davon, eine „post-liberale“ Politik verfolgen zu wollen.
Die Namen ändern sich, doch der Kern bleibt gleich.
Ob „illiberal“ oder „post-liberal“, beide Denkschulen wenden sich gegen die liberale Demokratie. Der Liberalismus ist eine politische Philosophie, die die Freiheit und das Selbstbestimmungsrecht des Menschen in den Mittelpunkt stellt. Die liberale Demokratie ist eine Regierungsform. Sie garantiert ihren Bürger:innen liberale Freiheiten, zum Beispiel Meinungs- und Pressefreiheit, Koalitionsbildung und freie Religionsausübung.
Orbán und Co. wollen weg davon. Sie glauben, die Spätmoderne habe es mit den liberalen Freiheitsrechten übertrieben. Sie glauben, zu viel Freiheit führe zu Chaos. Sie aber wollen Kontrolle. Und spielen dafür mit der Sehnsucht der Menschen nach Solidarität und Gemeinschaft. Illiberalismus ist also das Gegenteil der Freiheit jedes Einzelnen. Es ist die Freiheit eines Einzelnen, in diesem Fall Orbáns Freiheit, der sich alle anderen beugen müssen.
Das Problem: In der illiberalen oder post-liberalen Weltsicht ist die versprochene Solidaritätsgemeinschaft immer eine, die andere ausschließt. Leute wie Orbán fordern, dass Religion, Patriotismus und die traditionelle, heterosexuelle Familie den Staat stützen. Im Umkehrschluss heißt das: Sein Konzept schließt diejenigen aus, die anders aussehen, glauben, lieben oder denken. Sie gelten als Gefahr für die völkische Gemeinschaft: Wer nicht heterosexuell liebt, produziert auch keine weißen Kinder für das vermeintliche Volk. Das gleiche gilt für selbstbestimmte Frauen, die etwa eine Abtreibung vornehmen lassen möchten. Wer jenseits der Zweigeschlechtlichkeit existiert, bedroht die herbeigesehnte Eindeutigkeit der Demagogen. Wer anders glaubt, untergräbt die Einheit einer vermeintlich christlichen Gemeinschaft. Wer anders aussieht, muss auch anders sein. Wer nicht arbeitet, ist faul. Wer vor Gewalt und Missbrauch flieht, ist ein „illegal Einreisender“, will bloß in das Sozialsystem einwandern. Wer Orbán in Frage stellt, gilt als Verräter, der auf den Untergang des Volkes hinarbeitet. Wer kritisiert, will den Leuten den Mund verbieten. Oder lügt.
Und das soll Demokratie sein?
Die Vordenker des Illiberalismus sagen: Wir gewinnen Wahlen. Und unsere Wähler:innen geben uns einen Auftrag. Doch sowohl in den USA, als auch in Ungarn stellt sich eine zentrale Frage: Wie demokratisch sind solche Wahlen?
Wenn sie die Wahl nicht gewinnen, war es keine Wahl
Eines der vielen Projekte zur eigenen Machtsicherung von Viktor Orbán war die Verabschiedung eines neuen Wahlgesetzes im Jahr 2012. Darin hat er die Wahlbezirke im Land so zuschneiden lassen, dass seine Fidesz-Partei mit damals 44 Prozent der Stimmen vier Fünftel der Mandate gewonnen hätte.
Eine ähnliche Praxis gibt es in den USA, das sogenannte Gerrymandering. Der Begriff bezeichnet die Zuschneidung von Wahlkreisen, mit der sich eine Partei einen Vorteil verschafft. Das kann zum Beispiel der Fall sein, wenn eine republikanische Regierung ein mehrheitlich von Demokraten-Wähler:innen bevölkertes Gebiet auf zwei von Republikanern dominierte Wahlkreise verteilt. Die demokratischen Stimmen haben dann kaum noch Gewicht.
Die Folge: Je sicherer sich eine Partei ihres Wahlsieges in einem Bezirk ist, desto einfacher ist es dort, radikale oder linientreue Kandidierende aufzustellen. Das führt uns zurück zu den 299 Kandidat:innen der Republikaner, die das Wahlergebnis von 2020 anzweifeln oder nicht anerkennen.
Ein System oder eine Partei, die Wahlen bloß dann anerkennt, wenn sie selbst gewinnt, ist nicht demokratisch. Ein System oder eine Partei, die Wahlkreise so zuschneidet, dass sie mit einer Minderheit der Stimmen eine Mehrheit der Parlamentssitze gewinnt – und diese Mehrheit anschließend nutzt, um liberale Freiheitsrechte des Einzelnen zu beschneiden, die eigene Macht auf Dauer zu sichern und die Demokratie von innen auszuhöhlen – ist nicht demokratisch.
In einem solchen System ist eine Wahl bloß noch eine Farce. Ein Ritual. Sie dient nur noch der formalen Legitimation des eigenen autoritären Projekts – das nach jeder Wahl weiter daran arbeitet, die eigene Macht zu sichern.
Wir sollten deshalb aufhören, die selbstgewählten Begriffe der Demagogen zu nutzen. Sie beschönigen, wo es nichts zu beschönigen gibt. Die „illiberale Demokratie“ in Ungarn ist keine Demokratie, sondern ein autoritäres Regime. Die USA sind noch nicht so weit. Doch der französische Politiker und Schriftsteller Alexis de Tocqueville warnte nach einer USA-Reise schon im 19. Jahrhundert vor einer „Tyrannei der Mehrheit“.
Seine Warnung wirkt aktueller denn je.
Wem das zu hoch gegriffen ist: In einer Halloween-Folge der Simpsons trägt Homer Simpson einen Anstecker, der für die Kandidatur von Ivanka Trump als Präsidentin im Jahr 2028 wirbt. Und die Simpsons hatten schon einmal recht: Sie sagten die Präsidentschaft Trumps voraus.
Was mich sonst gerade beschäftigt: Der Film „Sheroes“. Darin begleitet die französische Regisseurin Aude Pépin eine Hebamme und Feministin, die ihr Leben der Verteidigung der Frauenrechte widmet. Doch der Film ist mehr als ein Porträt: Er ist ein Stück tiefgründigen Nachdenkens über das Dasein als Mutter in unserer Gegenwart und über gelebte Solidarität in Zeiten des autoritären Backlashes. Zu sehen ist der Film beim Streamingdienst Mubi.
Mein Zitat des Monats stammt aus dem wundervollen Buch „Open Water“ von Caleb Azumah Nelson: „You while away the evening together, doing nothing really, which is something, is an intimacy in itself. To not fill your time with someone is to trust, and to trust is to love. And so you should say you spent the evening loving each other, on her sofa, eating, drinking, listening to music.“ Die deutsche Übersetzung „Freischwimmen“ gibt es beim Kampa-Verlag.
Redaktion: Lisa McMinn, Schlussredaktion: Susan Mücke und Thembi Wolf, Bildredaktion: Philipp Sipos, Audioversion: Marie-Paulina Schendel und Christian Melchert