Am 3. Oktober soll Deutschland wieder seine Einheit feiern. Doch anders, als der Feiertag suggeriert, ist Deutschland längst nicht vereint. Auch mehr als 30 Jahre nach dem Fall der Mauer gibt es zwei Rezeptionen ein- und desselben Ereignisses: Während die Menschen im Westen nach dem Fall der Mauer unbehelligt weiterlebten, war die Wende für die Menschen im Osten ein tief einschneidendes, oft alles veränderndes politisches Erlebnis. Während die Menschen im Westen nur den Soli zahlten, zahlten die Menschen im Osten den wirklichen Preis, plus den Soli. Nur wurde das im Westen so nicht erzählt.
Die Journalistin Nicole Zepter, selbst in einer westdeutschen Kleinstadt geboren, hat diesen Umstand zum Anlass genommen, einmal genauer hinzuschauen: Wie wurde in ihrer Heimat Westdeutschland die Geschichte des Mauerfalls und die Zeit danach aufgearbeitet – beziehungsweise: allzu oft nicht aufgearbeitet?
Zepters Buch „Wer lacht noch über Zonen-Gaby? Ein Vorschlag zur Versöhnung“ fügt der innerdeutschen Debatte eine wichtige Komponente hinzu: Zepter nimmt den Westen in die Verantwortung. Und sie spart nicht an Selbstkritik. Der nachfolgende Text ist ein Auszug aus Zepters Buch, das Ende August 2022 erschienen ist.
Wenige Wochen vor dem Mauerfall sitzen in Frankfurt am Main die Redakteure der westdeutschen Satirezeitschrift Titanic zusammen und überlegen, was sie auf den Titel der Novemberausgabe setzen. In der DDR brodelt es seit Monaten: Kurz nach dem Sommer, am 4. September 1989, gehen einige hundert Menschen in Leipzig für mehr Reisefreiheit und die Abschaffung der Stasi auf die Straße. Und es werden täglich mehr. Als Ungarn in der Nacht vom 10. auf den 11. September seine Grenze öffnet, fliehen Tausende DDR-Bürger:innen nach Österreich.
In der Botschaft in Prag, aber auch in Budapest und Warschau, warten die Geflüchteten auf ihre Ausreise in die Bundesrepublik. Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher verhandelt seit Wochen für sie. Dann endlich verkündet er auf dem Balkon der Botschaft in Prag: „Ich bin zu Ihnen gekommen, um Ihnen mitzuteilen, dass heute Ihre Ausreise …“, weiter kommt er nicht, sein Satz geht in Jubelschreien unter.
Es ist der 30. September. Die Menschen dürfen ausreisen. Trotz des Drucks der Bevölkerung feiert die DDR-Regierung Anfang Oktober ihr vierzigjähriges Jubiläum. Es wirkt trotzig und bizarr. Während der Feierlichkeiten kommt es zu Demonstrationen, die der Staat brutal auflöst.
Wie eine westdeutsche Zeitschrift die „Zonen-Gaby“ erfindet
Wenige Tage später, am 9. Oktober, versammeln sich 70.000 Demonstrant:innen in Leipzig. Diesmal wehrt sich der Staat nicht.
Das Westfernsehen zeigt die Bilder dieser Tage unentwegt. Vor allem eine Szene bleibt bei den Redakteuren hängen, die noch heute seltsam wirkt: Menschen verteilen neben Schokolade und Sekt auch Bananen an ankommende Geflüchtete. „Wir zeigen einfach eine junge Frau, die eine Banane in der Hand hält. Zonen-Gaby im Glück“, soll Titanic-Gründer Robert Gernhardt gesagt haben. Der Autor Bernd Eilert soll hinzugefügt haben: „Und statt einer Banane drücken wir ihr eine Gurke in die Hand.“
Der Name soll von der ehemaligen Bundesvorsitzenden der PDS, Gabriele „Gabi“ Zimmer, stammen. Die Redaktion sucht eine passende „Gaby“ und findet sie in Worms, in der Lieblingskneipe eines Redakteurs. Gaby heißt eigentlich Dagmar und ist medizinisch-kaufmännische Angestellte. Sie hat kurzes blondes Haar, ein freundliches Gesicht. Im November 1989 wird aus ihr eine Ostdeutsche – mit Jeansjacke, „die nach DDR aussieht“ und Minidauerwelle.
Und dann ist es soweit: Die Titanic veröffentlicht das Cover einer lächelnden Frau, sie hält eine Gurke in der Hand, vor Freude weint sie eine Träne. Über dem Foto steht: „Zonen-Gaby (17) im Glück (BRD): ‚Meine erste Banane.“ Es ist bis heute die meistverkaufte Ausgabe der Titanic.
Westdeutsche geben sich gern liberal – und sind voller Vorurteile
Diese Satire ist mehr als dreißig Jahre nach dem Fall der Mauer nah dran am westdeutschen Selbstverständnis: Es ist westdeutscher Mainstream, über den Osten zu lachen und ihn als rückständig zu betrachten. Dass die Empathie füreinander verloren gegangen ist, spürt man auch im Privaten. Ich bin immer wieder überrascht, wie sehr das Pflegen von Vorurteilen in Gesprächen im liberal geprägten und akademisch gebildeten Freundes- und Bekanntenkreis verbreitet ist. So wird zum Beispiel über das „Gejammer der Ostdeutschen“ geklagt. Eine Bekannte sagte einmal, sie habe doch nichts gegen Ostdeutsche und überhaupt, Ostdeutschland sei nie ein Thema für sie gewesen.
Das trifft auf viele Westdeutsche zu. Für sie war und ist die DDR selten ein Thema – weder einzelne Lebensgeschichten noch die Erfahrungen in der Nachwendezeit. Vielleicht gab es mit etwas Glück ein wenig Ostalgie bei dem Berlinbesuch. Politiker:innen, Kolleg:innen, Freund:innen und Mitglieder der eigenen Familie werfen „den Ostdeutschen“ am Abendbrottisch vor, in einer Opferrolle zu verharren oder als Wähler:innen der AfD an den rechten Rand zu rücken.
Das Erstaunen über die Enttäuschung und Demokratieskepsis im Osten ist groß. 47 Prozent der Bürger:innen in Ostdeutschland fühlen sich ausschließlich als Ostdeutsche, nur 44 Prozent als Angehörige der gesamten Nation. Unter Westdeutschen dominiert hingegen die gesamtdeutsche Identität. Viele Westdeutsche haben ihre Vorurteile kultiviert, mit weitreichenden Folgen für Ostdeutsche.
Es gibt eine deutliche Unterrepräsentanz von Ostdeutschen in führenden Ämtern, seien es CEOs in Unternehmen, Richter:innen oder Direktor:innen von öffentlichen wie privaten Institutionen. Unter den knapp zweihundert Dax-Vorständen befinden sich nur vier mit ostdeutscher Herkunft. Erst im Jahr 2019 wird erstmals eine Juristin mit ostdeutscher Biographie Richterin am Bundesverfassungsgericht. Es gibt weniger ostdeutsche Chefredakteur:innen als westdeutsche, und auch ihre Sichtbarkeit ist geringer: Der Anteil von ostdeutschen Talkshowgästen im ersten Halbjahr 2020 lag bei gerade einmal 8,3 Prozent. Ostdeutsche verdienen immer noch 16,9 Prozent weniger als Westdeutsche, was auch daran liegt, dass der Osten als unattraktiver Standort für Unternehmen gilt.
Die Wessis wollen „die Ossis“ nicht als Konkurrenz
Als sich im Jahr 2011 eine Ostberlinerin für einen Job als Buchhalterin in Stuttgart bewirbt, wird sie mit dem Kommentar „Ossi“ am Seitenrand ihrer Bewerbung abgewiesen. Als das Kabinett der neuen Bundesregierung unter Kanzler Olaf Scholz im September 2021 verabschiedet wird, sind unter den 17 Minister:innen gerade einmal zwei Ostdeutsche: Klara Geywitz und Steffi Lemke.
Eine Studie der Universität Kassel zeigt zudem, dass auch dreißig Jahre nach der Wiedervereinigung kaum Ostdeutsche in politischen Spitzenpositionen tätig sind: In der Regierungszeit Angela Merkels hat der Anteil von Staatssekretär:innen und Abteilungsleiter:innen in den Ministerien und im Kanzleramt bei rund einem Prozent gelegen. In der Amtszeit von Gerhard Schröder und auch in der ersten Amtszeit Merkels hat es gar keine Ostdeutschen in diesen Positionen gegeben. Die Studie schließt mit dem Zitat: „Man sucht aus Ostdeutschland stammende Spitzenbeamtinnen und Spitzenbeamte in der gesamtdeutschen Verwaltungselite bis heute fast vergeblich.“
Nach wie vor ist die Arbeit der Treuhandanstalt, die zwischen 1990 und 1994 aus der ehemaligen sozialistischen Planwirtschaft eine soziale Marktwirtschaft erschaffen sollte, umstritten und wird in Ost- und Westdeutschland unterschiedlich bewertet. Im Osten als Symbol einer „feindlichen Übernahme“, wie eine Studie zur Wahrnehmung und Bewertung der Treuhand aus dem Jahr 2016 zeigt. Im Westen als notwendige und erfolgreiche Leistung.
Der Grundgedanke der Treuhand, am Runden Tisch der Übergangsregierung Modrows (Hans Modrow war der letzte Vorsitzende des Ministerrats und damit Regierungschef der DDR, d.R.) entstanden, war es, das Volksvermögen gerecht aufzuteilen. Diese Idee entwickelte sich zu einer einschneidenden, von der westdeutschen Regierung dominierten Privatisierung der Ostbetriebe, die den Abbau von Betrieben und massive Arbeitslosigkeit nach sich zog.
Der Blick des Westens gen Ostdeutschland: erbarmungslos
Fakten sind eindeutig, messbar und sichtbar. Aber spürbar? Dafür braucht es mehr als Verstand. Dafür braucht es Mitgefühl. Mit dem Fall der Mauer wurden Anfang der Neunzigerjahre die Unterschiede zweier deutscher Landesteile deutlich. Wirtschaft, Lebensverhältnisse, der Zustand der Städte, aber auch kulturelle Differenzen zeigten, wie weit Ost und West voneinander entfernt lagen. Doch statt im Westen mit Anteilnahme und Aufbruchstimmung zu reagieren, wurde der Blick erbarmungslos. Statt Glück und Zusammenhalt entstand auf beiden Seiten Deutschlands eine Kultur der Unzufriedenheit, der Vorurteile, der Herablassung und der Stigmatisierung.
Die Autorin
Aus Menschen, die einer Diktatur entflohen waren, wurden Ostdeutsche. Ehemalige DDR-Fernsehstars, Schriftsteller:innen und beliebte Sportler:innen versickerten im gesamtdeutschen Gedächtnis. Welche:r Westdeutsche kennt Brigitte Reimann oder Tamara Danz? Kunstgeschichte wurde eingelagert („Dresdner Bilderstreit“) und Geschichte abgerissen (Palast der Republik). Das Land, das sich selbst mit einer friedlichen Revolution aus der Diktatur befreite, wurde von einem Akteur zum Statisten.
Die Wiedervereinigung wurde in der deutschen Erzählung zu einer Leistung der Regierung Helmut Kohls. Die Treiber:innen der demokratischen Bewegung, die Menschen auf den Montagsdemonstrationen, die nicht selten ihr Leben für die Revolution riskiert hatten, wurden im kollektiven gesamtdeutschen Gedächtnis vergessen.
Die Demütigung Ostdeutscher findet in Westdeutschland kein Echo
Über die Zeit nach dem Mauerfall gibt es unzählige Geschichten, Bücher und Filme. Und immer wieder ist dabei die gleiche Erzählung der Ungerechtigkeit zu hören. „Ossis raus“ wurde zum Schlagwort, geschrieben auf Plakate, Wände oder auf Zettel, die unter den Scheibenwischern von Ostdeutschen klemmten. Doch bis heute ist diese Diskriminierung im Westen scheinbar ohne spürbares, zumindest sicht- und hörbares Echo geblieben.
So wie die Geschichte der Figur Maria aus Daniela Kriens Roman „Irgendwann werden wir uns alles erzählen“. Krien ist im Osten aufgewachsen und lebt heute in Leipzig. Liest man die Liebesgeschichte zwischen der 17-jährigen Maria und einem 40-jährigen Mann, spielt sich schnell der Hintergrund nach vorne, vor dem die Beziehung spielt: Sommer 1990 in der DDR, die Zeit zwischen Wende und Wiedervereinigung, in einem Dorf unweit der innerdeutschen Grenze.
Krien beschreibt, wie Maria und ihre Familie die Wiedervereinigung erleben. Maria erzählt: „An das erste Mal im Westen erinnere ich mich ungern. Demütigend war das Einreihen in die Schlange für das Begrüßungsgeld gewesen, erniedrigend die Blicke eines Obst- und Gemüsehändlers, als ich ihn fragte, wie diese und jene Frucht hieße und wie man sie essen müsse. Vorher standen wir Stunden am Grenzübergang und froren; es hatte ersten Schnee gegeben – frühen Schnee –, und wir waren nicht vorbereitet auf Hunderte von Autos, die alle die Grenze passieren wollten. Wir warteten viele Stunden im eiskalten Auto, nur um uns dieses Geld zu holen und endlich den Westen leibhaftig gesehen zu haben. Ich war enttäuscht. Die Erwartung, die mein ganzes Leben lang Zeit gehabt hatte, sich aufzubauen, hielt der Wirklichkeit nicht stand. Das einzige Geschäft, das ich betrat, war dieser Obstladen, dessen Besitzer uns kalt musterte. Es war uns ins Gesicht geschrieben, woher wir kamen.“
Statt sich offen und unvoreingenommen zu begegnen, werden bis heute immer wieder die gleichen Stereotype bedient: Ostdeutsche tendieren zum Rassismus, Ostdeutsche sind undankbar, Ostdeutsche schätzen die Freiheit nicht, Ostdeutsche distanzieren sich nicht genug vom Unrechtsstaat DDR, Ostdeutsche sind provinziell, Ostdeutsche haben keinen Geschmack. Und ganz besonders: Ostdeutsche fühlen sich als Opfer.
Was ist das für ein Land, in dem der andere Teil fremd bleibt?
Der Begriff „Dunkeldeutschland“ wurde in den westdeutschen Medien etabliert und schaffte es dank seiner häufigen Verwendung sogar auf die Nominiertenliste für das Unwort des Jahres 1994. Erst war es die fehlende Beleuchtung, dann die graue Tristesse der Städte, später der dunkle Fleck der Gesellschaft: Rassismus, Homophobie, rechte Gesinnung. Gewonnen hat übrigens das Unwort „Peanuts“. Auch der Ausdruck „Tal der Ahnungslosen“ fand in den Medien weite Verbreitung: Menschen in Ostdeutschland, die in Regionen mit schlechtem Fernseh- und Rundfunkempfang lebten, sodass sie scheinbar nichts wussten und „ahnungslos“ blieben.
Vielen Deutschen ist im Alltag klar, was mit Ost und West gemeint ist. Es ist ein Konstrukt, ein Framing, das viele gerne schon überwunden hätten, das sich aber verfestigt hat. Ausgesprochen wird Ostdeutsch oder Westdeutsch oft in Gegensätzen, im Anderssein, in Klischees. Was ist das für ein Land, in dem der andere Teil immer der Fremde bleibt?
Der Journalist Daniel Schreiber erzählt in seinem Essay „Zuhause“ von seiner Heimat Mecklenburg-Vorpommern: „Das Bild der DDR wird von Deutschen auf beiden Seiten der einstigen Grenze aus unterschiedlichen Gründen in Romanen, Fernsehserien und Gesprächen immer wieder obsessiv aufgesucht, weil ihr Verlust für viele Menschen im Osten Deutschlands schmerzhaft bleibt und auch von Menschen im Westen nicht wirklich aufgearbeitet werden kann. Bei einer konsequenten Aufarbeitung würde das Land mit zu vielen unbequemen Wahrheiten über sich selbst und seine Geschichte konfrontiert, mit Wahrheiten, die mitunter ihrer Version der Geschichte widersprechen könnten.“
Die Wiedervereinigung ist keine Leistung von Westdeutschen
Wahrheiten, die selbst dann, wenn sie ausgesprochen werden, von vielen Westdeutschen bis heute nicht gehört werden wollen. Unbequeme Wahrheiten wie diese: Die oft einschneidenden Konsequenzen des Mauerfalls im individuellen Lebenslauf erlitten ausschließlich Ostdeutsche, während im Westen das Leben, zumindest bis zu den Hartz-IV-Reformen, wie gewohnt weiterging.
Die Wiedervereinigung ist keine Leistung von Westdeutschen. Die Friedliche Revolution ist zunächst eine Leistung von Ostdeutschen, die ein großes persönliches Risiko auf sich genommen haben, um den politischen Umsturz zu schaffen.
Diese Leistung von Ostdeutschen wurde und wird bis heute von Westdeutschen oftmals nicht wertgeschätzt oder überhaupt verstanden.
Die westdeutsche Bereitschaft, nach dem 9. November 1989 auf Ostdeutsche zuzugehen, sie und das Land kennenzulernen, war und ist bis heute gering. Außer an Ostberlin gab es kein spürbares Interesse „am Osten“.
Ostdeutsche wurden nach der kurzen Euphorie des 9. Novembers 1989 oft Hohn und Spott preisgegeben.
Die Deutungshoheit über die Wende sollte bei den Ostdeutschen liegen
Ostdeutsche waren nach dem Mauerfall nur als Besucher:innen willkommen, nicht als Konkurrent:innen am Arbeitsplatz oder als Nachbar:innen.
Mit der Maueröffnung am 9. November 1989 „wächst zusammen, was zusammen gehört“, so wird Alt-Bundeskanzler Willy Brandt oft zitiert. Doch die tatsächliche Geschichte ist eine andere. Bis heute ist es auch eine Geschichte der Entfremdung und der Missverständnisse. Aber es ist vor allem nicht nur eine Geschichte, sondern eine Vielzahl sehr unterschiedlicher Geschichten, und wenn es uns ernst ist mit dem Zusammenwachsen, sollten wir uns die Mühe machen, davon so viele wie möglich kennenzulernen.
Die Herausforderung für uns als Gesellschaft besteht also darin, über diese unbequemen Wahrheiten ins Gespräch zu kommen. Doch bisher ist der mediale Diskurs in Westdeutschland dafür eher taub. Wir müssen die Distanz verringern.
Ostdeutsche Autor:innen weisen seit Jahren darauf hin, dass Filme, Bücher und Serien wieder und wieder dieselben Klischees bedienen, wie es die Serie „Der Palast“ über ein durch den Mauerbau getrenntes Zwillingspaar unlängst tat. Sie erweckt mit ihren hölzern gezeichneten Figuren, aus West wie aus Ost, den Anschein einer Vorabendserie. Diese Darstellung wird jedoch vorrangig von ostdeutschen Journalist:innen kommentiert. Oder Leser:innen. Unter einem Artikel auf Zeit Online zur besagten Serie liest sich das so:
Kommentar von Bettina Ju:
„Die DDR-Geschichte wird nicht erzählt werden. Sie ist ein Klischee: von Diktatur, Stasi, Mangel Wirtschaft, SED. Weil die Medien in ‚westdeutscher‘ Hand sind. Die haben die DDR nicht erlebt und sind auch nicht interessiert daran. Die ehemaligen Ostdeutschen in verantwortlichen Positionen haben sich angepasst, um nicht unangenehm aufzufallen. Die Geschichte der DDR bleibt in den Menschen erhalten, die sie auf unterschiedliche Weise erlebt haben und wird mit ihnen sterben. DDR und BRD sind ein Missverständnis. Habe kürzlich ein Interview mit Bernhard Schlink gelesen: Der sagte, die Westdeutschen ironisieren die Themen und halten sich auf Distanz zu den Themen. Die Ostdeutschen sind direkt, ernsthaft und wirken für die Westdeutschen naiv. Da wusste ich Bescheid. Ich bin die andere.“
Die Antwort von Frubo darauf:
„Blödsinn. Selbst als ‚ungelernter DDR-Bürger‘ (ich lebe seit 1990 in den neuen Bundesländern) kann ich das beurteilen. Das von Ihnen als Klischee Bezeichnete war für viele DDR-Bürger harte und bittere Realität.“
Es ist ein Ringen um Identität, um die eigene Geschichte. Der Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk, der sich seit Jahrzehnten mit der Aufarbeitung der SED-Diktatur beschäftigt, sieht darin ein strukturelles Problem: „Wenn ich als westlicher Medienmacher ausschließlich einen Fremdblick habe, dann präsentieren diese Medien Bilder, die dem Fremdblick entsprechen. Damit konnte kaum ein Ostdeutscher was anfangen. Das ist ein Problem bis zum heutigen Tag. Die Deutungseliten im Osten sind Westler.“
Rechtsradikale gibt es auch im Westen
Diese mediale Deutungshoheit mag auch dazu führen, dass die Ausgewogenheit bei der Berichterstattung über das Phänomen der im Osten überdurchschnittlich erfolgreichen AfD auf der Strecke bleibt. Nach der Bundestagswahl 2017 konstatierte etwa die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung: „17 Millionen Menschen kamen 1990 aus einem Land namens DDR in die Bundesrepublik. Das Wahlergebnis zeigt: Viele von ihnen haben sich bis heute nicht integriert.“
Das Problem des Rechtsradikalismus ist auch im Westen existent und zehn Prozent bei der Bundestagswahl 2022 für die AfD ein gesamtdeutscher Erfolg. Ebenfalls kein großes Medienecho hat der Umstand erfahren, dass gerade Sachsen und Thüringen einen Zuzug von Rechtsradikalen, etwa aus Bayern oder dem Ruhrgebiet, erfahren, die dort Strukturen etablieren, die zu einer weiteren Verselbstständigung des Problems führen. Wie bitter ist die Ironie in diesem Zusammenhang, dass die meisten der führenden Köpfe der AfD in Westdeutschland sozialisiert wurden?
Neben der medialen Deutungshoheit sieht Kowalczuk noch ein weiteres strukturelles Problem: „In meiner Profession, in der Zeitgeschichte, gibt es keine einzige Institution, die in den letzten dreißig Jahren einmal von einem Ostdeutschen geleitet wurde. Eliten rekrutieren sich aus sich selbst heraus. Hier erklären fast ausschließlich Westler dem Osten ihre eigene Geschichte.“
Was Sophie Passmann mit der Geschichte der Wende zu tun hat
Dass darunter die Glaubwürdigkeit leidet, liegt auf der Hand. Doch nur wenige Westdeutsche übernehmen dafür Verantwortung. Der Großteil hat Scheuklappen aufgesetzt und zeigt nur noch mit dem Finger auf die anderen: Nazis, Ossis, Opfer, Jammerer. Das hat seit Jahren Bestand. Nicht nur der Autor Thomas Roethe zimmerte mit seinem Buch „Arbeiten wie bei Honecker, leben wie bei Kohl“ kurz vor der Jahrtausendwende noch einmal alle negativen Klischees in einem Buch zusammen. Heute, fast zwanzig Jahre später, macht sich die liberale, westdeutsche Autorin Sophie Passmann nach einem Besuch im thüringischen Eisenach in ihrer Kolumne auf Spiegel Online über den Osten lustig.
Wütend, ängstlich, passiv-aggressiv seien die Leute dort, viel Trostlosigkeit, wenig Infrastruktur. Zur Empörung ruft jedoch nicht eine westdeutsche Journalistin oder ein westdeutscher Journalist auf, sondern erneut eine Kollegin, die in Sachsen-Anhalt geboren ist, Valerie Schönian, Zeit-Autorin. Die beiden treffen sich in Magdeburg, Schönians Heimatstadt, und sprechen über Passmanns Text. Es geht dabei nicht um Schuldzuweisungen, sondern darum, sich Klischees bewusst zu werden. Und die beiden sprechen darüber, wie es im Vorspann des Interviews heißt, dass „eine Generation doch weniger vereint ist, als sie es oft glaubt.“
Sophie: Wenn ich einen ostdeutschen Dialekt höre – ganz ehrlich –, habe ich sofort ein Klischee im Kopf. Ich weiß, dass das völliger Quatsch ist. Aber so wurde ich von der Gesellschaft geprägt.
Valerie: Die Vorurteile gibt es auf beiden Seiten. Ich habe auch klischeehafte Zuschreibungen gegenüber Westdeutschen im Kopf, wenn ich merke, dass jemand sich nicht für den Osten interessiert, aber über ihn urteilt. Das macht mich wütend. Gab es eigentlich Protest gegen deinen Text über Eisenach?
Sophie: Nö. Bei den Leuten kam vor allem die Information an: Der Osten ist ein bisschen trostlos. Und es ist schlecht, da gestrandet zu sein.
Valerie: Krass.
Sophie: Stört dich das?
Valerie: Es macht mich, ehrlich gesagt, ein bisschen fassungslos. Keiner hat das Bedürfnis zu widersprechen? Das ist doch ernüchternd.
Passmann, aufgewachsen in Baden-Württemberg, lebt heute in Köln. Sie ist Autorin und Komikerin, moderiert Radiosendungen und schreibt für Sendungen wie die Late-Night-Show „Neo Magazin Royale“ von Jan Böhmermann. Sie hat eine mediale Aufmerksamkeit und ist gerade bei einem liberalen Publikum beliebt. „Ich habe in Eisenach zum ersten Mal gemerkt“, erzählt Passmann in dem Interview, „dass ich eine westdeutsche Arroganz besitze. Dass ich mich als Wessi fühle, hätte ich nie gedacht. Um mich als andere zu empfinden, musste ich erst mal in den Osten.“ Ostdeutschland, so schreibt Valerie Schönian, habe für Sophie Passmann lange keine Rolle gespielt. Erst der Chemnitzer Rapper Trettmann habe Passmann ein Gefühl für die Region vermittelt. Und das liest sich so:
Grauer Beton / Alle guten Dinge kommen von oben / Der Zebrafink ist mir zugeflogen / Und ab und zu hielt gleich dort wo wir wohnen / Ein ganzer Lkw voll mit bulgarischen Melonen / Kids aus Übersee waren unsere Ikonen / Und weiße Sneaker mehr wert als Millionen / Ich denk’ heut noch oft zurück an meine Straße / An die Alten und die Kids aus meiner Straße / Aus der Platte, die aus meiner Etage / Man hat uns vergessen dort, Anfang der Neunziger Jahre / Desolate Lage, jeden Tag mit der Bagage / Frag nicht, was bei mir ging, hing jeden Tag mit der Bagage / Neue bunte Scheine sprechen eine eigene Sprache / Neue bunte Welt erstrahlt in der Leuchtreklame.
Wie die Ö La Palöma Boys das Bild der Ostdeutschen prägten
Eine Jugend, vergessen. Weil der Zugang fehlte? Die Bezüge? Sophie Passmann ist damit natürlich nicht allein. Rainald Grebe zum Beispiel, geboren in Köln, Musiker und Schauspieler, schuf mit dem Song „Brandenburg“ eine Hymne, die mit westdeutschen Ost-Klischees spielt wie etwa Skinheads und Achim Mentzel als Phänotyp des ostdeutschen Provinz-Moderators.
Der westdeutsche Autor Moritz von Uslar prägt mit seinen erfolgreichen und nicht undifferenzierten Deutschboden-Romanen letztlich das Bild eines provinziellen und rechtsradikalen Ostdeutschlands. Claus Holtfoth und Ulrich Ahlers, geboren in Hannover und Freiburg, hatten als Ö La Palöma Boys in den Neunzigern Charterfolge bis nach Österreich und in die Schweiz. Das Wesen ihrer Auftritte orientierte sich an westdeutsch geprägten Vorurteilen über Sachsen (Dialekt, provinzielles Auftreten). Die in Kassel geborene Kunsthistorikerin Hilke Wagner ist Direktorin des Albertinums, der Staatlichen Kunstsammlungen Dresden, und steht in der Kritik, die Werke ostdeutscher Künstler:innen nicht ausreichend zu berücksichtigen. Und so weiter. Und so weiter.
Hinzu kommt oft eine Unwissenheit, die uns Westdeutsche auszeichnet. Fragen Sie mal in Ihrem westdeutschen Bekanntenkreis, wer den „Soli“, den Solidaritätszuschlag, gezahlt hat. Wenige wissen, dass es eine gesamtdeutsche Leistung war.
Wie wollen wir miteinander umgehen, als Menschen?
Auch ich dachte viel zu lange, dass es nur eine westdeutsche Leistung ist. Ein Bekannter aus Schwerin erinnert sich noch gut an den Beginn seiner Bundeswehrzeit. Der Offizier begrüßte ihn beim Antritt mit den Worten: „Ach du bist einer von denen, für die ich zahle.“
Es gibt schnell ein „Die“ und ein „Wir“. Selten gibt es Verständnis. Die Aufarbeitung der Wiedervereinigung ist für den Westen kein Thema. Daher rührt die Unwissenheit. Warum sollte etwas aufgearbeitet werden, dass – so das westdeutsche Narrativ – eine Erfolgsgeschichte war?
Doch Geschichte lässt sich nicht als „technokratischer Prozess“ erzählen, sie ist „immer auch eine Geschichte von Kulturen, von Menschen, die miteinander umgehen müssen“, davon ist Ilko-Sascha Kowalczuk überzeugt. Und damit erklärt er den Gap zwischen den nachwachsenden Generationen und den ersten Einheitsakteur:innen, der bis heute besteht.
Redaktion: Esther Göbel, Bilredaktion: Philipp Sipos, Schlussredaktion: Susan Mücke, Audioversion: Christian Melchert und Iris Hochberger