Kürzlich habe ich Äpfel mit Birnen verglichen.
Sie sind sich erstaunlich ähnlich: Beide Früchte, beide wachsen an einem Baum bei gemäßigten Wetter, beide haben ein eher saftiges Fruchtfleisch. Ich kam zu dem Schluss, dass sich von einer Birne mehr über das Wesen des Apfels lernen lässt als von einer – sagen wir mal – goldgeschmiedeten Wikingeraxt, die ein betrunkener Camper beim Pinkeln im schwedischen Wald entdeckt hat.
Wir sollten öfter Äpfel mit Birnen vergleichen. Es ist ein ergiebiger Zeitvertreib; insbesondere, wenn es sich bei den Früchten um historische Ereignisse handelt. Gerade diesen wird ja mit aller Entschiedenheit nachgesagt, überhaupt nicht vergleichbar zu sein.
Diese Haltung habe ich noch nie verstanden. Denn ist es nicht offensichtlich, dass sich vielleicht die Umstände ändern, aber nicht die Menschen? Worauf Menschen reagieren müssen, ist unterschiedlich. Wie sie reagieren, bleibt prinzipiell gleich.
Ich ziehe ständig historische Vergleiche. Anders könnte ich die Gegenwart nicht verstehen. Und vielen anderen Menschen geht es genauso. Nach Beginn der Corona-Pandemie und des noch immer leicht unfassbaren Wirtschafts- und Börsenbooms, den die großzügigen Staatshilfen auslösten, riefen manche Medien die neuen Goldenen Zwanziger aus.
Dieser Vergleich liegt nahe: Eine globale Pandemie, neue Fortschrittsbegeisterung und, nun ja, eben die 20er Jahre. Und wer würde nicht gern in einer Zeit leben, die Albert Einstein, das Kino und Marlene Dietrich hervorgebracht hat? So etwas schmeichelt ja auch uns. Inzwischen hört man von diesem Vergleich nur noch selten. Das „Brüllen“ der „Roaring Twenties“ geht in den Klagen über hohe Benzinpreise, Wladimir Putin und die Gas-Engpässe unter. Vielleicht sind die 1920er Jahre nicht der beste Vergleich.
Ein anderes Jahrzehnt allerdings drängt sich geradezu auf. Es war das Jahrzehnt der extravaganten Körperhaar-Philosophien, der Drogen und der guten Musik: die 1970er Jahre.
Alleine in der Kultur gibt es Ähnlichkeiten, die nicht zu übersehen sind. Fangen wir mit Männerhaaren an. Regierte in den 2010er Jahren der zurückgenommene Undercut des Hipsters, ist die wuschelige Langhaar-Friese gerade wieder im Kommen, übrigens parallel zum voll in Fahrt kommenden Mega-Trend der Psychopharmaka, der seinen wohl deutlichsten Ausdruck in einer sehr erfolgreichen Netflix-Doku findet. Lange Haare und Drogen? Jup, das sind die ’70er. Genauso wie Zimmerpflanzen.
Die 1970er Jahre waren das Jahrzehnt, in dem sich die Menschen von der kühlen Nacktheit der Moderne verabschiedeten und ihre Häuser und Wohnungen mit Topfpflanzen aus allen Breitengraden heimelig machten. Es gab spezielle Magazine, die sich nur diesem Thema widmeten. Heute gibt es Hunderte Menschen auf Instagram, die nichts anderes machen, als ihre Pflanzen einem stetig wachsenden Publikum zu präsentieren.
Stagflation, LSD und lange Haare
Noch deutlicher sind die Parallelen in der Wirtschaftswelt. Das Ende eines jahrzehntelangen Booms in der westlichen Welt? Sehen wir gerade. Energiekrise? Haben wir! Ein globales Finanzsystem im Aufruhr? Ja. Hohe Inflation, gekoppelt mit schwachem Wachstum? Check. Das Ganze begleiten immer lauter werdende Warnungen vor den ökologischen Folgen unserer Lebensweise? In den 1970er Jahren kamen diese Warnungen vom Thinktank Club of Rome, heute sind es die Klima-Aktivisten und -Aktivistinnen, die uns zeigen, welche Folgen unser Konsum hat.
In der Politik gehen die Parallelen weiter: Stark polarisierte Gesellschaften, die sich über Feminismus und Rassismus streiten? Lautes Ja! Regiert in Deutschland nach bleiernen Jahren einer großen Koalition gerade eine sozialliberale? Aber sicher. Und diese Regierung baut, genauso wie ihre Vorgänger in den 1970er Jahren, den Staat massiv aus. Mehr Sozialleistungen, mehr direkte Eingriffe in das Wirtschaftsleben, mehr Investitionen in Wohnungen und Infrastruktur. Das ist Keynesianismus aus dem Lehrbuch. Die Ära des Neoliberalismus ist zu Ende.
Es gäbe noch mehr Parallelen. Das Ende des Afghanistan-Krieges im Jahr 2021. Das Ende des Vietnam-Krieges im Jahr 1975, jeweils mit schmachvollen Rückzügen der westlichen Truppen, die Bilder hervorbrachten, die sich ins globale Gedächtnis einbrannten.
Ich glaube nicht, dass all diese Gemeinsamkeiten nur Zufall sind. Politik, Gesellschaft, Wirtschaft und Kultur hängen direkt miteinander zusammen. Sie treiben, bedingen und verstärken sich. Wenn Äpfel und Birnen zur gleichen Familie der Gewächse gehören, dann gehören die 1970er und die 2020er Jahre zur gleichen Familie der Jahrzehnte.
Was uns die 1970er über unsere unmittelbare Zukunft lehren
Und es gibt ein paar Dinge, die uns die 1970er Jahre lehren können über unsere Zeit.
Erstens: Alles wird länger anhalten, als wir gerade glauben. Die Stagflation der 1970er Jahre dauerte ein knappes Jahrzehnt. Linke Parteien regierten damals noch länger.
Zweitens: Als Reaktion auf diese Zeit entwickelte sich in den 1970er Jahren eine wirtschaftsliberale Ideologie, die dann in den 1980er Jahren unter Ronald Reagan und Margaret Thatcher die Politik bestimmte. Wahrscheinlich wird nun das Gleiche passieren. Irgendwo sitzen gerade Denker und Philosophinnen, die diese Dogmen der 2030er Jahre vorformulieren. Sie wissen es aber selbst noch nicht. Wenn alles dem Drehbuch folgt, wird diese Ideologie dann auch von einer neuen Generation junger Menschen begleitet, die sich ganz selbstbewusst von der ganzen Hippiekultur abwendet. Damals waren das die Yuppies.
Drittens: Die Investitionen des Staates bringen nicht nur eine Bürokratie stattlicher Größe hervor, sondern legen auch den Grundstein für viele bahnbrechende Erfindungen. Das wäre nach den extrem fortschrittsarmen 2010er Jahren ein Segen. Die 1970er Jahre waren das Jahrzehnt, in dem der Personal Computer (PC) erfunden wurde. Was wird dieses Mal kommen?
Viertens: Aus der Ferne wirken die 1970er Jahre wie ein großes Luftholen und Durchatmen. Die westliche Welt hatte die Wirtschaftswunderjahre und die Proteste der 1960er Jahre hinter sich. Der globale Süden hatte sich zu großen Teilen gerade in die Unabhängigkeit gekämpft und musste nun mit den Folgen zurechtkommen. Vielleicht ist es mit den 2020er Jahren genauso. Falls ja, werden sie kein Jahrzehnt des Chaos sein, sondern der Neusortierung, die alle folgenden Jahrzehnte tief prägen wird.
Ich persönlich hoffe allerdings auf nur eine einzige Sache: das ganz große Revival des Funk.
ABBA hat schließlich auch schon eine neue Platte veröffentlicht.
Redaktion: Thembi Wolf; Schlussredaktion: Tarek Barkouni; Fotoredaktion: Philipp Sipos; Audioversion: Iris Hochberger