Thomas Hobbes war ein Pessimist. Er sagte, das menschliche Leben sei „einsam, armselig, ekelhaft, tierisch und kurz“. Lesen kann man das in seinem Buch „De Cive“ – zu Deutsch: „Vom Bürger“, das der englische Philosoph im Jahr 1642 veröffentlichte. Darin malte er sich den angeblichen Naturzustand des Menschen aus. Hobbes behauptete darin auch, der Mensch führe in seinem Ursprungszustand einen „bellum omnium contra omnes“, also einen „Krieg aller gegen alle.“ Du merkst: alles sehr trist.
Man muss dieser Behauptung eigentlich nicht allzu viel Bedeutung beimessen. Gedankenexperimente über die vermeintlich gute oder bösartige Natur des Menschen waren damals in Mode. Sie gehörten zum Zeitgeist. Und waren natürlich völlig unterkomplex. Aber das macht nichts. Denn sie erhoben in der Regel keinen Anspruch auf Allgemeingültigkeit. Sie dienten lediglich dazu, eine politische Theorie – in diesem Fall eine Staatstheorie – zu entwickeln. Nicht mehr. Und nicht weniger.
Was Hobbes wohl nicht ahnte: Er lieferte mit seiner berühmten Behauptung eine nahezu perfekte Beschreibung von Krieg im 21. Jahrhundert.
Kämpfer, Krieger, Zivilist
„Das gesamte Schlachtfeld hat sich verändert“, schreiben der Medienwissenschaftler William Merrin und der Sozialwissenschaftler Andrew Hoskins in ihrem 2020 veröffentlichten Paper „Tweet fast and kill things: digital war“: „Multimedia-Smartphones, Messaging-Apps und Social-Media-Plattformen schaffen eine globale, partizipative Arena, in der die Unterscheidungen zwischen Kämpfer, Zivilist und Informationskrieger implodieren.“
Die Forschenden sagen: Digitalisierung und Automatisierung haben den Charakter von Kriegen grundlegend verändert. Und die Grenze zwischen Kriegs-Teilnehmer:innen und Außenstehenden verschwinde immer mehr. Heutzutage kann quasi jeder bei jedem Konflikt mitmischen. Alles, was man dafür braucht, sind ein Internetzugang und ein Smartphone. Während Soldat:innen auf dem Schlachtfeld kämpfen, nutzen Zivilist:innen öffentlich zugängliche Daten, wie zum Beispiel Videos und Fotos, Social-Media-Profile oder Ortungsdaten, um Kriegsverbrechen, Truppenbewegungen oder Propaganda der jeweiligen Gegenseite zu entlarven. Oder um feindliche Ziele zu identifizieren.
Ein Beispiel: Am 16. April tötete eine russische Rakete mindestens drei Ukrainer:innen in Kyiv. Ziel des Angriffs war eine Lagerhalle. Der belgische Journalist Brecht Castel fand heraus: Neun Tage vor der Attacke hatte das ukrainische Fernsehen einen Bericht über die Lagerhalle gesendet. Darin befand sich eine Militärwerkstatt. Erbeutete russische Panzer wurden dort gewartet und überholt, um sie für den erneuten Kriegseinsatz vorzubereiten. Der Bericht wurde weitflächig in den sozialen Medien geteilt. Die Lagerhalle war lediglich von innen zu sehen, um ihren Standort nicht preiszugeben. Doch die Betreiber:innen eines russischen Telegram-Kanals, der auf sogenannte Open-Source-Recherchen spezialisiert ist, identifizierte den Ort anhand von öffentlich zugänglichen Daten. Und teilte ihn mit seinen mehr als 500.000 Follower:innen. Dazu schrieben die Verfasser:innen: „Dieser Ort ist es auf jeden Fall wert, mehrere Raketen dorthin zu schicken.“ Zwei Tage später zerstörte das russische Militär die Lagerhalle. „Das ist Konflikt heutzutage“, schreiben Merrin und Hoskins.
Fernab vom eigentlichen Kampfgeschehen mischen unzählige Menschen im Kriegsgeschehen mit: Sie teilen Posts und Gifs, analysieren Videos, verbreiten Propaganda, sammeln Spenden, rekrutieren neue Kämpfer:innen, schaffen Memes und richten die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf bestimmte Themen und Erzählungen. Heutzutage kann jede:r Inhalte produzieren, hochladen, verbreiten und analysieren. Merrin und Hoskins sprechen deshalb von „partizipativem Krieg“: Jede:r kann mitmachen. Unabhängig von Alter, Erfahrung, Job und Expertise. Während der Metro-Fahrt, bei der Arbeit oder auf dem Weg in die Uni.
Das Resultat: ein riesiges Chaos, in dem niemand mehr durchblickt.
Um beim Krieg mitzumachen, brauchst du nur ein Smartphone
„Hashtag-Kriege, Desinformation und gezielte Trollerei durch Staaten, nichtstaatliche Akteure und Tastaturkrieger greifen um sich, verwirren die politische Debatte und verschleiern Fakten“, heißt es in dem Paper. Und: „Kommandosysteme mobilisieren unbemannte Waffen, um Feinde präzise zu ermorden; Dementis von Regierungen werden innerhalb weniger Tage durch Videos ihrer eigenen Bürger zunichte gemacht, die wiederum über Messaging-Apps aufgenommen und verbreitet, und von einer globalen Armee von Open-Source-Ermittlern analysiert werden. Und im Hintergrund laufen permanent Cyber-Operationen.“
Wenn man es gut meint, könnte man sagen: Die Digitalisierung hat den Krieg demokratisiert. Sie hat den Nährboden für den Charakter heutiger Kriege geschaffen. Merrin und Hoskins sprechen aber von „zerstörerischer Schöpfung“. Die Bezeichnung ist angelehnt an das neoliberale Konzept der „schöpferischen Zerstörung“. Das besagt, dass erfolgreiche wirtschaftliche Entwicklungen immer auch alte Strukturen verdrängen und zerstören. Diese Zerstörung sei Voraussetzung für den Erfolg von etwas Neuem. Dieses Neue wiederum, schreiben Merrin und Hoskins, habe die Grundlagen für die heutige Zerstörung geschaffen. Und die hat viele Gesichter: Drohnen, Künstliche Intelligenz, Desinformation und Propaganda (wie die funktioniert, hat meine Kollegin Isolde Ruhdorfer übrigens sehr gelungen beschrieben), autonome und vernetzte Waffen, Virtual-Reality-Training für Soldat:innen, orchestrierte Hass-Kampagnen, Hackerangriffe auf persönliche Daten und kritische Infrastruktur. Es herrscht Cyber-Krieg. Permanent. Aber er ist für die meisten von uns unsichtbar. Auch wenn immer mehr Menschen teilnehmen.
Denn: Die digitalen Medien empowern alle, die über Smartphone und Internetzugang verfügen. Also mischen sich auch immer mehr Menschen ein. „Es wird immer schwieriger, die Herkunft und die Motive der beteiligten Akteure zu ermitteln, da jeder mit einer Meinung, einer patriotischen oder politischen Überzeugung oder einfach nur einem Groll seine Likes und Kommentare, Gifs und Memes in die Welt setzen kann, während er die Kinder von der Schule abholt oder einkaufen geht“, schreiben Merrin und Hoskins.
Eine solche Entwicklung prognostizierte 1970 schon der kanadische Philosoph und Kommunikationstheoretiker Marshall McLuhan. Nach dem Eisenbahnkrieg des Ersten Weltkriegs, dem Radiokrieg des Zweiten Weltkriegs und dem Fernsehkrieg in Vietnam behauptete er: Der Dritte Weltkrieg würde ein „Guerilla-Informationskrieg ohne Trennung zwischen militärischer und ziviler Beteiligung“ sein. Die Frage sei nur, woran man dann erkennt, wann er beginnt.
Redaktion: Lisa McMinn, Schlussredaktion: Susan Mücke und Thembi Wolf, Bildredaktion: Philipp Sipos, Audioversion: Christian Melchert