In Deutschland demonstrieren Menschen für den Frieden, Schulkinder basteln Friedenstauben und auf Laternenpfählen pappen bunte Peace-Aufkleber.
Gleichzeitig scheint es unzeitgemäß, sich gegen jede Form von Krieg und Waffen auszusprechen. Wer trotz des Angriffskriegs Russlands gegen Waffenlieferungen ist, muss sich den Vorwurf gefallen lassen, mit dieser Haltung die ukrainische Bevölkerung im Stich zu lassen. Intellektuelle streiten in offenen Briefen und Talkshows über die Frage: deutsche Waffenlieferungen für die Ukraine – ja oder nein? Und die Deutschen selbst sind gespalten: Laut ARD DeutschlandTrend sprechen sich genau 45 Prozent der Befragten für die Lieferung schwerer Waffen aus – und 45 Prozent dagegen.
Kristian Golla ist trotzdem Friedensaktivist. Seit mehr als 30 Jahren arbeitet er für das „Netzwerk Friedenskooperative“. Der Verein ist aus der Friedensbewegung der Achtzigerjahre entstanden und sitzt heute in Bonn. Ich habe ihn gefragt, ob die Friedensbewegung ausgedient hat.
Herr Golla, Sie sind Pazifist. Damit machen Sie sich gerade sehr unbeliebt.
Man muss kein Pazifist sein, um zu sagen, dass Krieg nichts bringt.
Trotzdem scheint der Pazifismus aus der Zeit gefallen. Sie sind schon ganz zu Beginn der Friedensbewegung dabei gewesen. Vor über 40 Jahren, im Bonner Hofgarten.
Ich war damals 18 Jahre alt und habe in der Nähe von Bonn gelebt. Uns wurde in der Schule gesagt, geht da nicht hin, das sind alles Kommunisten. Ich bin in den ersten beiden Stunden noch in den Unterricht gegangen und danach zu der Demo gegen den Atomkrieg gefahren.
Dieser Text ist Teil der Artikelserie „Was du über die neue Bundeswehr wissen musst“. Im zweiten Teil frage ich Pazifist:innnen, wie sie mit der wiederentdeckten Aufrüstung umgehen. Das willst du nicht verpassen? Dann abonniere hier kostenlos meinen Newsletter.
Das war sehr beeindruckend: Es gibt so ein Luftbild von der Presseagentur Dpa, auf dem kann ich heute noch einzeichnen, wo ich damals gestanden habe. Es war ein gutes Gefühl, die Leute, die derselben Meinung sind, nicht nur mental bei mir zu wissen, sondern sie auch physisch neben mir zu sehen.
Damals wurde ihnen vorgeworfen, von der Sowjetunion bezahlt zu sein und gemeinsame Sache zu machen. Heute klingen die Vorwürfe ähnlich. Gegner:innen eines Militäreinsatzes in der Ukraine wird vorgeworfen, Putin in die Hände zu spielen.
Ich halte das für eine unehrliche Debatte. Die Friedensbewegung zu dämonisieren und als fünfte Kolonne zu verunglimpfen, halte ich für sehr schwierig und frage mich, wo das noch hinführt.
Was war die Friedensbewegung denn stattdessen?
Das war wie bei Fridays for Future, die Mechanismen waren ähnlich. Wir fragten uns damals schon, wie wir eine Erde hinterlassen, die auch für die nächste Generation noch brauchbar ist. Es ist immer schwer zu sagen: Wir müssen uns jetzt mal auf den Hosenboden setzen und schnelle Entscheidungen treffen. Das galt damals und heute. Natürlich ist es schwer zu sagen, wir als Gesellschaft müssen uns jetzt hinsetzen und schnelle Entscheidungen treffen, die wir sonst nicht hinbekommen haben. Weil, wenn es so weitergeht, brauchen wir uns bald gar nicht mehr entscheiden. Die Entwicklung ist dann gar nicht mehr aufhaltbar.
Aber beim Klimawandel geht es um wissenschaftliche Daten und Auswertungen. Das gilt für die politischen Fragen im Ukraine-Konflikt nicht.
Auch da kann man ähnlich wie Friday for Future fordern: Vertraut der Wissenschaft. Die Wissenschaft, die wir jetzt brauchen, ist Friedens- und Konfliktforschung. Und die Forscher sagen ganz klar: „Lösungen“, die durch Krieg oder durch militärische Handlungen erzielt worden sind, sind nicht dauerhaft. Ganz im Gegenteil, das sind eigentlich die schlechtesten Lösungen. Eine dauerhafte Konfliktlösung funktioniert nicht militärisch, sondern durch Verhandeln.
Die ukrainische Bevölkerung sieht das gerade vermutlich sehr anders.
Völkerrechtlich haben die Menschen in der Ukraine jedes Recht der Welt, sich zu wehren. Wenn ich die Bilder sehe von kaputten Häusern, kaputten Panzern, kann ich mir ungefähr vorstellen, wie es den Menschen ergangen ist, die in diesen Häusern oder diesen Panzern gesessen haben. Das ist schwer zu ertragen. Und auch ich möchte, dass das schnell aufhört. Aber passiert das durch Waffenlieferungen?
Wie verteidigt man sich denn stattdessen?
Indem man es gar nicht so weit kommen lässt.
Machen Sie es sich da nicht etwas einfach?
Im Augenblick ist die Karre ziemlich im Dreck. Und jetzt soll ich als jemand aus der Friedensbewegung sagen, was die Alternative ist? Nachdem vorher alles souverän ignoriert wurde, was es an alternativen Ideen gab?
Der Friedensbewegung wird immer gesagt: „Ihr seid doch alles Naivlinge, ihr könnt doch jetzt nicht die Blume in den Gewehrlauf stecken und ‚Pixie Paxi‘ rufen und dann hören alle auf zu schießen.“
Das verlangen Sie also nicht?
Nein, das ist ein Zerrbild von Pazifismus, das entstanden ist. Das Problem ist, wenn da der erste Schuss gefallen ist, ist erstmal Schluss. Aber eigentlich geht es ja darum, dass das erst gar nicht dazu kommt.
Was schlagen Sie also vor?
Jetzt braucht es Verhandlungen. Verhandeln statt schießen.
Unser Ex-Bundeskanzler saß scheinbar bei Putin am Tisch, auch der österreichische Bundeskanzler ist erfolglos für Gespräche nach Moskau gereist. Verhandlungen scheinen aktuell unmöglich.
Diese Reisen und wie darüber berichtet wird, diskreditieren die Methode der Verhandlungen. Politiker fahren auf Besuche, kommen zurück, ohne etwas erreicht zu haben und werden dafür von der Öffentlichkeit verlacht. Zum Verhandeln gehört Ernsthaftigkeit. Es ist wunderbar, dass der österreichische Bundeskanzler nach Russland reist. Aber hat er irgendetwas im Angebot gehabt? War er Emissär von irgendjemandem? Wahrscheinlich kann man alles mit Nein beantworten.
Der österreichische Kanzler hat nach seinem Treffen gesagt, dass es immer besser sei, persönlich mit Putin zu reden – immerhin hat sich Österreich auch nach dem Einmarsch lange als neutrales Land positioniert. Expert:innen haben die Reise hingegen als realitätsfremd bezeichnet. Würden Sie dem widersprechen?
Ich glaube, hinter den Kulissen könnte man eine ganze Menge mehr machen. Man findet immer eine Lösung, wenn die Ballerei nicht da ist. Hauptsache ist, dass endlich aufgehört wird zu schießen.
Wie stellen Sie sich das denn konkret vor?
Auch wenn es moralisch unethisch ist: Das Konzept „Land gegen Frieden“ könnte funktionieren. Man wird etwas tauschen müssen, damit es eine Gesichtswahrung gibt. Also, dass beispielsweise die Krim bei Russland bleiben könnte. Man könnte es für den Westen auch moralisch vertretbarer machen und das Saarland-Modell aus den 1950iger Jahren ziehen und die Menschen in ein paar Jahren bei einer Volksabstimmung fragen, zu welchem Land sie gehören wollen.Und wie im Saarland würde diese Abstimmung auch international überwacht.
Das klingt wie die Forderung einiger Redner:innen auf den Osterdemonstrationen, wo mitunter die Ukraine aufgefordert wird, sich Putin zu ergeben. Oft verbunden mit dem Verschwörungsmythos, das Massaker von Butscha habe es nicht gegeben.
Einzelne haben sich so geäußert, das stimmt. Aber es ist völlig eindeutig, was in Butscha passiert ist. Es ist ganz klar, wer Täter und wer Opfer ist. Der Fall gehört nach Den Haag. Das steht völlig außer Zweifel.
Natürlich gibt es Menschen, die ein Russland-Bild haben, von dem sie sich langsam verabschieden müssen. Russland ist mittlerweile eine ganz „normale“ imperialistische Macht, kapitalistisch orientiert und Putin ein veritabler Diktator.
Aber gleichzeitig ist es genauso richtig, dass am 8. Mai 1945 Deutschland von der Roten Armee befreit worden ist. Wie kriegt man das übereinander? Wie kriegt man ein richtiges Russland-Bild hin, eines, das viele Grautöne hat und weniger schwarz-weiß ist?
Grautöne wären doch aber auch bei anderen Themen nötig, beispielsweise bei Waffenlieferungen. Viele Politiker:innen haben in dieser Sache ihre Haltung korrigiert. Selbst diejenigen, die sich lange Zeit gegen Aufrüstung eingesetzt haben, wie Anton Hofreiter oder Erik Marquardt.
Ich finde das sehr interessant und verstehe das auch nicht so richtig. Die Grünen wurden gesellschaftlich bisher als Friedenspartei wahrgenommen. Viele scheinen jetzt zu denken: Wenn die schon für Krieg sind, dann muss ja was dran sein. Ich würde mich gerne mit Anton Hofreiter oder Erik Marquardt darüber unterhalten. Aber auch in der Diskussion, was Waffen bringen, sollten wir auf die Wissenschaft hören. Die sagt nämlich sehr eindeutig, dass militärische Konfliktlösungen keinen nachhaltigen Frieden bringen.
Wie meinen Sie das?
Im Jahr 1955, also zehn Jahre nach dem Ende des Krieges gab es große Zweifel an der Wiederbewaffnung. Derzeit ist das wieder eine große Frage, über die wir als Gesellschaft diskutieren sollten – am besten mit Hilfe der Wissenschaft. Die Entscheidungen, die wir 2022 treffen, werden vielleicht andere sein als damals.
Und diese Entscheidung wollen Sie mitprägen?
Wir brauchen andere Lösungen als Krieg. Aktuell ist nur ungefähr die Hälfte der Menschen für Waffenlieferungen. Das finde ich, für das mediale Dauerfeuer für Waffenlieferungen, schon sehr beachtlich.
Wie ging es Ihnen, als Bundeskanzler Olaf Scholz die Zeitenwende ausgerufen und 100 Milliarden Euro für die Bundeswehr verkündet hat?
Ich saß mit offenem Mund vor dem Livestream. Ich hatte den Eindruck, dass die Stimmung ähnlich war wie 1914, als im Reichstag die Kriegskredite beschlossen wurden. Viele SPD- und Grünen-Abgeordnete waren fassungslos und es gab frenetischen Beifall bei der CDU. Später am Tag waren dann 500.000 Menschen auf der Demo in Berlin gegen den Ukraine-Krieg und am Abend stellte Putin einen möglichen Einsatz von Atomwaffen in den Raum.
Ich glaube, die Menschen in Deutschland empfinden gerade viel Hilflosigkeit. Olaf Scholz vermittelte ihnen dann: Wir sind gar nicht hilflos. Hier sind 100 Milliarden Euro. Viele Menschen fragen sich: Was kann ich als Einzelperson im Augenblick dafür tun, dass die Bomben dort nicht mehr fallen?
Und was ist ihre Antwort?
Nichts. Oder das, was wir persönlich tun können, ist zumindest sehr homöopathisch. Das müssen wir ertragen. Wenn ich in meinem Beruf gut bin, biete ich den Leuten auch etwas an, mit dem sie die Hilflosigkeit überwinden können, sei es mit Veranstaltungen oder Forderungen an unsere eigene Regierung.
Sprechen wir über die Bundeswehr. Die steht seit Jahren in der Kritik, verschwenderisch mit dem Geld umzugehen, das sie bekommt und ein Problem mit Rechtsextremismus zu haben. Jetzt dreht sich das Blatt und wir verlassen uns wieder stärker auf den Schutz durch eine Armee. Das muss Sie doch aufregen.
Eigentlich brauchen wir die Bundeswehr nicht. Sie können jetzt im Stil der Bildzeitung schreiben, er möchte die Bundeswehr abschaffen und uns wehrlos ausliefern. Das möchte ich natürlich nicht.
Sondern?
Andere Mechanismen könnten die Armee ersetzen. Die Wissenschaft zeigt: Je mehr Soldaten wir ausbilden, je mehr Waffen wir kaufen, desto eher richtet sich die Aufmerksamkeit auf die Konfliktlösung durch Krieg und Militär. Der größte Feind der Bundeswehr ist mehr Geld. Die könnten das strukturell gar nicht umsetzen. Aktuelles Stichwort ist die Gorch Fock: Am Anfang beliefen sich die geschätzen Kosten für die Sanierung auf 20 Millionen Euro. Am Ende hat die 100 Millionen gekostet und das Schiff muss schon wieder wegen einer Reparatur in die Werft. Da könnte ich jetzt noch fünf weitere Beispiele bringen.
Mit der besten Ausrüstung der Welt wäre die Bundeswehr nicht besser aufgestellt. Weiteres Stichwort: das Scheitern in Afghanistan. Denn das war nicht ein Problem der Ausrüstung, sondern ein Problem der Stratgie und des Einsatzkonzepts.
Sie sind also gegen die 100 Milliarden.
Ich bin natürlich dafür, dass die Soldaten von den 100 Milliarden vernünftige Stiefel und vernünftige Unterwäsche bekommen. Vernünftige Berufsbekleidung sollte ein Arbeitgeber schon stellen. Geht es um Gewehre und „tolle“ Panzer bin ich schon wieder anderer Meinung. Also etwas pointiert formuliert: Warm am Arsch soll es sein, das ist in Ordnung. Andere Leute umbringen ist nicht so gut.
Redaktion: Thembi Wolf, Schlussredaktion: Susan Mücke, Fotoredaktion: Philipp Sipos, Audioversion: Christian Melchert und Iris Hochberger