Die Demokratie, wie wir sie kennen, kann einfach nicht mehr. Die klapprige alte Dame leidet unter ständigem Unwohlsein, inzwischen schmerzt der ganze Körper. Die üblichen Pillen schlagen nicht mehr an, sie richten sich sogar gegen sie: Diese neuen Parteien und Politiker:innen, Trump, Bolsonaro, die AfD, stecken ihr tief in den Knochen. Selbst Demonstrationen für die „Meinungsfreiheit“ und vermeintliche Forderungen nach mehr Bürgerbeteiligung sind zu einer Art Autoimmunkrankheit geworden.
Dass etwas nicht stimmt, ist offensichtlich. Doch niemand weiß so richtig, womit die alte Dame es eigentlich zu tun hat: Ist das nur eine Krise? Oder ist das Ende nah?
Die Krise der Demokratie: Warum alles wehtut
Schauen wir uns die Patientin mal genauer an. Da sind einerseits die ganz offensichtlichen Baustellen. Zum Beispiel ein radikalisierter Reality-TV-Star und Baumogul, der in die Politik gegangen ist – und 2016 begann, golfend die halbe US-Demokratie in Geiselhaft zu nehmen. Im gleichen Jahr verkündete Großbritannien den Brexit. Und in Deutschland begannen Feuilleton-Redakteur:innen plötzlich, reihenweise tiefsinnig bebilderte und romantisierende Homestorys mit dem ideologischen Aushängeschild der AfD, Götz Kubitschek, zu veröffentlichen.
Schon damals mischte kräftig überall mit: Wladimir Putin – ein mit der deutschen Sozialdemokratie rumkumpelnder Autokrat, der den Faschismus wieder salonfähig gemacht hat und nun einen Vernichtungskrieg gegen eine Demokratie führt und Medaillen an mutmaßliche Kriegsverbrecher verteilt. Europa beschwört seinetwegen jetzt eine „Zeitenwende“ herauf. Aus einem Begriff will man eine selbsterfüllende Prophezeiung zaubern – und hängt doch am Tropf russischer Öl- und Gasimporte. Gleichzeitig wählen Millionen Französ:innen eine rechtsradikale Politikerin, die vor Kurzem noch Selfies mit eben jenem Autokraten als Ausweis ihrer politischen Zukunftsvision in Umlauf brachte. Und in Polen und Ungarn reiben sich autoritäre Regierungen die Hände. EU-Vertragsverletzungsverfahren? Geschenkt. Derweil macht sich die republikanische Partei in den USA fleißig Notizen: The best is yet to come.
Der Grabgesang auf die Demokratie ist längst ein weltumspannender Chor. Und er wächst weiter und weiter. Heute lebt weniger als die Hälfte der Weltbevölkerung überhaupt noch in einer Demokratie: knapp 46 Prozent. In einer Diktatur leben etwa 37 Prozent. Die Werte nähern sich an.
So weit, so düster.
Doch es gibt auch die weniger sichtbaren Leiden des Systems. Stichwort Klimakrise: Die westliche Demokratie hat es über Jahrzehnte hinweg nicht geschafft, wissenschaftliche Erkenntnisse in politisches Handeln umzusetzen. Die systematischen Menschenrechtsverletzungen an den europäischen Außengrenzen? Müssen warten, bis die EU „europäische Lösungen“ findet. Und einige wenige Zahlen zeigen den Zustand der – frei nach Winston Churchill – „besten aller schlechten Regierungsformen.“
Das eine ist mangelnde Selbstwirksamkeit. Eine Studie der Vodafone-Stiftung zeigte jüngst: 67 Prozent der 14 bis 24-Jährigen haben das Gefühl, die Politik nicht beeinflussen zu können. Gleichzeitig wächst die Ungleichheit: Zehn Prozent der Deutschen besitzen 67 Prozent des Gesamtvermögens des Landes. Immer mehr Menschen leben an der Armutsgrenze. Und knapp zehn Millionen erwachsene Menschen dürfen hierzulande nicht wählen, obwohl sie teilweise arbeiten und Steuern zahlen – weil sie nicht das richtige Ausweispapier besitzen.
Die alte Dame Demokratie, die sich jahrzehntelang an der eigenen Lebendigkeit berauscht hat, taumelt. Zwischen Krankheitssymptomen und Nebenwirkungen einzelner Therapien ist kaum noch zu unterscheiden.
Aber Totgesagte leben länger, heißt es. Denn es gibt tatsächlich Hoffnung.
Wir dürfen hoffen, aber nicht zu optimistisch sein
Die Trumps, Orbans und Le Pens dieser Welt haben eine erstaunliche Gemeinsamkeit: Sie arbeiten an der Aushöhlung der Demokratie – aber niemand traut sich, ganz offen deren Abschaffung zu fordern. Das war früher anders. Da schmückte man sich ganz unverhohlen mit dem Plan, dieses teuflisch idealistische System zu stürzen. Der Autokrat des 21. Jahrhunderts aber greift die Demokratie im Namen der Demokratie an. Er verspricht: endlich echte Volksherrschaft! Klar, das ist Augenwischerei. Und schließt immer irgendeine Gruppe aus, die angeblich nicht zum „Volk“ gehört. Aber es zeigt: Heute gilt es selbst unter Demokratiefeinden als ungeschickt, die Demokratie offen abzulehnen. Oder gar ihre Abschaffung zu fordern. Daraus folgt: Wenn selbst autoritäre Verführer:innen mit dem Versprechen „mehr Demokratie“ locken, ist es vielleicht an der Zeit, ihnen genau damit entgegenzuwirken: mit mehr Demokratie.
Achtung: Hoffnung bedeutet nicht Optimismus. Erstere, sagt die politische Theoretikerin Lea Ypi in diesem Interview, sei die Einsicht, dass sich etwas verändern muss. Daraus entstehe die Möglichkeit, aktiv etwas zu tun. Optimismus aber ist letztlich ignorante Zuversicht. Die beruhigt zwar, verführt aber zu Faulheit. Die müssen wir also loswerden. Denn Demokratie ist kein Zustand, sondern eine Tätigkeit. Die Krise der Demokratie löst sich nicht von allein. Sie braucht: uns. Menschen mit Hoffnung.
Der entscheidende Vorteil der Demokratie gegenüber ihren Feinden war schon immer: Sie hat die Kraft, sich neu zu erfinden. Sie lässt den Menschen Raum, Ideen auszuprobieren, zu verwerfen, zu diskutieren, anzuprangern, sie zu verteufeln und zu verbreiten. In Diktaturen ist das unmöglich: Der Herrscher verlangt bedingungslose Gefolgschaft – im Denken wie im Handeln. Widerspruch wird verfolgt, kritisches Denken ausgemerzt.
Das verschafft der Demokratie einen Vorteil im Kampf gegen den eigenen Verfall. Sie kann sich häuten, immer und immer wieder. Und es gibt sie längst, die großen und kleinen Ideen, Ansätze und Beispiele, die den Weg in die Zukunft der Demokratie weisen. Zum Beispiel in Chile.
Wie man ein Land auf den Kopf stellt
Juan José Martin streift die Maske ab und schaut auf die Uhr. Der 26-Jährige ist spät dran. Eile hat er trotzdem nicht. Im Garten des ehemaligen Kongresses der chilenischen Hauptstadt Santiago legt er Fahrradhelm und Rucksack beiseite, streckt den Rücken durch und blickt auf das Kolonialgebäude, in dem früher der Kongress tagte. Heute arbeiten hinter diesen Mauern 154 Volksvertreter:innen an der Zukunft der chilenischen Demokratie. Keine Politiker:innen – sondern durchschnittliche Chilen:innen. Juanjo, so nennen ihn hier alle, ist einer von ihnen.
„Wir arbeiten an der ersten demokratischen Verfassung unseres Landes – eine Verfassung, die die offenen Wunden in der chilenischen Gesellschaft heilen könnte“, erklärt er. Die aktuelle Verfassung stammt noch aus dem Jahr 1980, aus der Zeit der Militärdiktatur Augusto Pinochets. Das Regime verfolgte, folterte und ermordete Tausende. Und verwandelte Chile in ein Labor des Neoliberalismus: Die Regierung privatisierte die Wasservorräte, das Renten-, Gesundheits- und Bildungssystem. Eine ganze Gesellschaft sollte nach den Regeln des Marktes organisiert werden. Und dieses Organisationsprinzip ist bis heute in der Verfassung festgeschrieben.
Auf dem Papier ist Chile heute das Musterland Lateinamerikas, mit konstantem Wirtschaftswachstum und moderner Infrastruktur. Aber die Folgen der Diktatur sind überall im Land zu sehen: Die soziale Ungleichheit ist enorm, die Depressions- und Suizidraten hoch. Viele Menschen leben in Armut, ein Großteil der Bevölkerung muss sich für seine Ausbildung oder Arztbesuche verschulden. Laut der gewerkschaftsnahen Stiftung Fundación Sol geben 70 Prozent der chilenischen Bevölkerung monatlich mehr Geld aus, als sie einnehmen.
Entsprechend groß ist die Wut auf das System – und sie entlädt sich immer wieder in Protesten. Im Oktober 2019 eskalierte die Situation, nachdem die Regierung eine Erhöhung der Metropreise beschlossen hatte. Wochenlang protestierten Hunderttausende gegen die Verfassung, die soziale Ungleichheit und das neoliberale Wirtschaftssystem. Und während Ex-Präsident Sebastian Piñera das Militär auf die Straßen schickte, um die Proteste niederzuschlagen, bildeten sich überall im Land selbstorganisierte Nachbarschaftsräte, um über eine neue Verfassung und die Zukunft der Demokratie zu debattieren.
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In Chile traf die Diagnose des französischen Publizisten Éric Hazan zu: In seinem Buch „Die Dynamik der Revolte“ stellt er fest, dass die meisten politischen Aufstände zunächst aus Wut entstehen – nicht aus einer politischen Vision.
Die entscheidende Frage ist, was nach der Wut kommt.
https://www.youtube.com/watch?v=Cuzl_QTBlWI
In Chile dauerten die Revolten, der sogenannte Estallido Social, Wochen an. Am Ende verloren Hunderte Demonstrierende ihr Augenlicht durch Geschosse der Sicherheitskräfte, 34 Menschen starben. Santiago sah die größte Demonstration der chilenischen Geschichte. Und letztlich musste die Regierung dem Druck der Bevölkerung nachgeben: In einem Referendum stimmte später eine überwältigende Mehrheit für die Wahl einer verfassungsgebenden Versammlung.
„Das Besondere ist, dass es keine Entscheidung von oben war, sondern sie aus der Bevölkerung kam: Die Chileninnen und Chilenen haben sich organisiert und sind auf die Straße gegangen, um endlich eine neue Verfassung auf den Weg zu bringen“, sagt Martín. Eine Gruppe von Besucher:innen läuft durch den Garten der Convención und posiert für ein Foto. Auf Plakaten haben sie Forderungen für die neue Verfassung mitgebracht: Würde, ein öffentliches Bildungssystem, einen höheren Mindestlohn, ein Recht auf freie Selbstentfaltung und ein Leben ohne Gewalt. Martín nickt in ihre Richtung. In wenigen Minuten geht die Plenumssitzung der Versammlung los.
Wie der Großteil der gewählten Mitglieder hat auch er vorher nicht in der Politik gearbeitet. Nachdem Martín in der Schule zum ersten Mal Al Gores Film „Eine unbequeme Wahrheit“ gesehen hatte, begann er, sich für die Klimakrise zu interessieren. Er studierte Ingenieurwissenschaften und gründete mit einigen Kommiliton:innen die Kooperationsplattform „Cverde“. Sie organisieren Projekte und Workshops zur Klimakrise. 2019 reiste er als junger Delegierter zur Weltklimakonferenz COP 25 nach Madrid.
Die verfassungsgebende Versammlung, die Convención Constitucional, besteht nicht nur aus Politiker:innen, sondern auch aus Aktivist:innen, Arbeiter:innen und Wissenschaftler:innen. Ihr jüngstes Mitglied, Valentina Miranda Arce, ist gerade einmal 22 Jahre alt. Die Convención ist das erste paritätisch besetzte Verfassungsorgan der Welt, das heißt sie besteht jeweils zur Hälfte aus Männern und Frauen. Außerdem sind sämtliche indigenen Völker Chiles vertreten, die seit der Kolonialisierung des Landes mit Vertreibung, Unterdrückung und Diskriminierung zu kämpfen haben. Der Prozess setzt auf Teilhabe: Bürger:innen können den einzelnen Arbeitsgruppen zu ihren Themenbereichen Vorschläge unterbreiten. Sämtliche Sitzungen werden live im Netz übertragen. Und im September stimmt die chilenische Bevölkerung in einem Referendum ab, ob sie die Verfassung annimmt.
Bislang steht nur ein kleiner Teil des Textes. Doch der könnte Maßstäbe setzen: Der Entwurf definiert Chile als einen sozialen, demokratischen, plurinationalen und ökologischen Rechtsstaat. Die Bevölkerung soll mit über Haushaltsausgaben entscheiden. Der Staat garantiert die politische Teilhabe von Menschen mit Behinderung. Es gibt ein Recht auf würdevolles Wohnen und mentale Gesundheit. Genauso garantiert der Staat ein Recht auf Sport, würdevolles Altern, ein sicheres Leben in der Stadt, ein gewaltfreies Leben und Bildung. Das Wahlalter soll auf 16 Jahre gesenkt werden.
Als Klimaaktivist ist Martín die ökologische Ausrichtung der Verfassung besonders wichtig. Er ist Vorsitzender der Arbeitsgruppe für Umwelt und Wirtschaft und kämpft seit Monaten rund um die Uhr dafür, dass Chile das Anthropozän – das Zeitalter, in dem der Mensch sich über die Natur stellt und sie ausbeutet – qua Verfassung hinter sich lässt. Sein Tag, erzählt er, ende meist erst um zwei oder drei Uhr nachts. Freizeit habe er keine mehr. Aber das sei es wert.
Die Convención Constitucional sei ein besonderer Ort in der politischen Landschaft, sagt er. Hier rede man anders, man kleide sich anders, man gehe anders miteinander um als in der traditionellen Politik: „Es gibt kaum Menschen in Anzug und Krawatte. Das hier ist ein Ort, der näher an der Realität im Land ist. Es ist das Chile, was bislang in der Politik nicht vorkam. Wir sind Leute, die etwas verändern wollen – und nicht in die Politik gehen, um Karriere zu machen.“ Politik sollte seiner Meinung nach kein Selbstzweck sein, sondern ein Werkzeug, um Probleme zu lösen, um sozialen Wandel herbeizuführen. Das war sein Ziel, als er sich für ein Mandat in der Versammlung bewarb.
Warum wir Politik nicht nur konsumieren sollten
Das Beispiel Chile zeigt: Wandel von unten ist möglich. Egal wie widrig die Umstände sind. Man kann ein Land auf den Kopf stellen – „auch wenn ein Großteil der Bevölkerung kaum politische Bildung mitbringt“, erklärt Martín. Es sei ein langwieriger Prozess, sagt er, sich unter solchen Umständen als „politisches Wesen“ zu begreifen und nicht bloß als Konsument von politischen Entscheidungen. Doch genau das sei der Weg der Selbstermächtigung – und Schlüssel für die Demokratie der Zukunft.
Ähnlich sieht das auch Jon Alexander, Autor des Buches „Citizens“ und Leiter des New Citizenship Project. Er sagt, dass wir uns derzeit in eigentlich allen Lebensbereichen als Konsumierende begreifen. Das müsse sich ändern. Denn eine solche Einstellung bringe ein fatales Selbstbild mit sich: Wenn wir uns einreden, dass sich unsere politische Selbstwirksamkeit darauf beschränkt, anders zu konsumieren oder nur das eigene Verhalten zu ändern, verliere man die Möglichkeit, gemeinsam das System zu verändern.
In einem solchen Mindset sei die beste Option, die man habe: „To fuck things up a bit less.“ Schadensbegrenzung als maximale Möglichkeit. Deshalb fordert Alexander ein Umdenken, das er mit dem Bild eines Restaurantbesuchs deutlich macht: Die wirkliche Macht, sagt er, liegt nicht in der Auswahl zwischen verschiedenen Gerichten – sondern in der Gestaltung des Menüs. Wenn man so will, überarbeitet die chilenische Bevölkerung gerade das Menü.
Und Alexander führt noch einen weiteren wichtigen Punkt an: Das Selbstverständnis als politischer Bürger sei ein Muskel, den man aufbauen müsse. „Citizenship is a muscle you build, not a cup you empty“, sagt er. Und dieser Muskel kann an vielen Orten trainiert werden: im Bildungssystem, zu Hause, in der Nachbarschaft. Oder direkt am Parlament. So versuchte es im vergangenen Jahr der Klima-Bürgerrat in Deutschland.
Wie man Politik ohne Politiker:innen macht
Es ist eigentlich absurd. In den letzten 200 Jahren wurde die Sklaverei abgeschafft, das Frauenwahlrecht eingeführt und die Atombombe gebaut. Computer, das Internet und Smartphones haben unsere Leben verändert. Wir haben Antibiotika erfunden und bekämpfen ein Virus, das die ganze Welt befallen hat. Aber während all das passiert ist, hat sich etwas Grundlegendes kaum verändert: die Funktionsweise unserer Demokratie. Alle paar Jahre wählen wir Repräsentant:innen, die unsere Interessen vertreten sollen. Sind wir zufrieden, machen wir unser Kreuz bei der nächsten Wahl vielleicht im gleichen Kästchen. Wenn nicht, wählen wir eine:n andere:n Kandidat:in.
Vielleicht ist es also an der Zeit, etwas zu verändern.
Annika Kessel ist 23 Jahre alt und studiert Geschichte und Politikwissenschaft in Freiburg. Im Frühjahr 2021 rief eine unbekannte Nummer sie an. Kessel hielt den Anruf zunächst für eine Werbekampagne. Sie ahnte nicht, dass er ihr Leben für die kommenden Monate maßgeblich beeinflussen würde.
Einige Wochen später wurde sie Teil von Deutschlands erstem Klima-Bürgerrat, den der Verein Bürgerbegehren Klimaschutz e.V. in Zusammenarbeit mit zahlreichen Organisationen aus der Zivilgesellschaft und unter der Schirmherrschaft des ehemaligen Bundespräsidenten Horst Köhler organisierte. 160 zufällig ausgeloste Menschen debattierten darin über eine große Frage: Wie kann Deutschland die Ziele des Pariser Klimaschutzabkommens erreichen – unter Berücksichtigung gesellschaftlicher, wirtschaftlicher und ökologischer Gesichtspunkte? Am Ende erarbeitete der Bürgerrat Handlungsempfehlungen für eine Klimapolitik. Im Herbst übergab er seine Empfehlungen der neuen Bundesregierung.
„Ich habe um das Thema Klima immer einen relativ großen Bogen gemacht. Ich wusste, wie schlimm die Situation ist, aber ich dachte, dass ich sowieso nichts machen kann“, erzählt sie am Telefon. Dann kam der Bürgerrat. Und Kessel hatte „das erste Mal seit langer Zeit wieder das Gefühl, etwas bewegen zu können und Teil von etwas zu sein“, sagt sie.
Zweimal pro Woche trafen sich die Mitglieder des Bürgerrats. Sie hörten Expert:innen zu, diskutierten, tauschten Argumente aus und bildeten sich Meinungen. Alle Teilnehmer:innen wurden einer von vier Kleingruppen zugelost, die sich mit Mobilität, Energie, Ernährung, Gebäude oder Wärme befassten. Was Kessel besonders begeisterte: der Austausch mit Menschen, denen sie sonst nicht begegnen würde. „Ich glaube, dass solche Formate das Potenzial haben, sehr unterschiedliche Teile der Gesellschaft zusammenzuführen. Darin sehe ich den großen Vorteil von Bürgerräten: Sie bringen die Demokratie auf eine menschlichere Ebene. Man redet miteinander, tauscht wirklich Argumente aus. Das hilft auch dabei, als Gemeinschaft zu funktionieren“, sagt sie.
Aber was ist das eigentlich, ein Bürgerrat? Und warum machen wir das nicht viel häufiger?
Man könnte sagen: Ein Bürgerrat ist so etwas wie die kleine Schwester einer großen Idee, Demokratie per Losverfahren. Zufällig ausgeloste Bürger:innen kommen zusammen und diskutieren – oder entscheiden – über politische Themen. Das Prinzip ist einfach. Und uralt.
Schon im antiken Griechenland wurden manche politischen Gremien ausgelost. Die Mitglieder der Athener Regierung, der sogenannte Rat der 500, waren zufällig bestimmte Bürger. Aber (man ahnt es schon): Als Bürger galten damals bloß Männer ethnisch athenischer Abstammung ohne Vorstrafen, die mindestens 30 Jahre alt waren. Frauen, Sklaven und Menschen ohne lokales Bürgerrecht waren ausgeschlossen.
Seit einigen Jahren findet die Idee einer Demokratie per Losverfahren immer mehr Anhänger:innen. Die Idee: Die Mitglieder des Parlaments sollen ausgelost werden. Die Ausgelosten werden dann Abgeordnete auf Zeit – und bilden im Parlament eine Art Mini-Abbild der Gesellschaft: Stadt- und Landbewohner:innen, Junge und Alte, Männer, Frauen sowie Menschen mit Migrationsgeschichte sollen entsprechend ihres Anteils an der Bevölkerung repräsentiert werden. Nach einer Legislaturperiode trifft es dann die nächsten. Manche sprechen deshalb von „Lottokratie“, andere von „offener Demokratie“. Diese Idee macht vier große Versprechen.
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Echte Repräsentation. Man stelle sich ein ausgelostes Parlament vor, in dem Handwerker:innen, Jurist:innen, Arbeitssuchende, der Kassierer eines Schwedter Supermarkts und die Start-up-Gründerin aus Braunschweig zusammenkommen. Man hätte plötzlich ein treffendes Abbild der Gesellschaft, eine Vielzahl an Interessen und Lebensrealitäten wären politisch vertreten.
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Statt um Personen und Karrieren, Intrigen und Grüppchenbildung ginge es um Inhalte. So zumindest die Hoffnung. Niemand müsste um die eigene Wiederwahl kämpfen. Das bedeutet auch: Unangenehme Entscheidungen würden nicht aus Angst vor einer Abstrafung durch die Wähler:innen vermieden werden. Stichwort: Rentensystem.
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Selbstwirksamkeit. Wer ausgelost wird, um auf Lokal- oder Bundesebene Politik zu machen, kann sich schlecht in Politikverdrossenheit verschanzen. Die Aufgabe nimmt einen in die Pflicht. Das könnte beim Kampf gegen Populismus helfen: „Die da oben“ würde in der Politik nicht mehr funktionieren.
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Man könnte sich die Demokratie per Losverfahren wie einen Körper vorstellen, der sich regelmäßig schüttelt und all den Staub abwirft, der sich über die Jahre ansammelt. Dass niemand gewählt oder wiedergewählt werden kann, bedeutet auch: Korruption und Vetternwirtschaft würden deutlich komplizierter werden. Das Ende der Aserbaidschan-Connections und der Maskendeals?
Die heutigen Vordenker der Demokratie per Losverfahren, David van Reybrouck und Hélène Landemore, schlagen vor, unser gesamtes politisches System auf Auslosungen auszulegen. Das würde bedeuten, dass zum Beispiel der deutsche Bundestag komplett ausgelost werden würde. Kritiker:innen sagen: Das ist eine Utopie. Erstens würden Abgeordnete sich wohl kaum selbst überflüssig machen. Zweitens gibt es jede Menge Argumente gegen ein solches System.
Denn auch hier gilt: Es gibt kein Allheilmittel für die erkrankte Demokratie.
In seinem Buch „Freiheit, Gleichheit, Ungewissheit: Wie schafft man Demokratie?“ führt der Politikwissenschaftler Jan-Werner Müller wichtige Argumente gegen eine reine „Lottokratie“ an. Politik werde dort „als eine Reihe von Problemen verstanden, die aus der Welt zu schaffen sind; es gilt schlicht, die einzig richtige Lösung zu finden“, kritisiert er. Aber Politik sei eben mehr als nur das trockene Finden von Lösungen für Probleme. Es gehe darum, als Gesellschaft Konflikte friedlich auszutragen. Deshalb seien Parteien und politischer Wettbewerb so wichtig: Sie bieten den Bürger:innen Identifikation und eine bestimmte Auslegung der Realität an – und streiten sich auch darüber, was man als Gesellschaft überhaupt als Herausforderung sieht. Parteien und Politiker:innen bieten aufgrund unterschiedlicher Wertvorstellungen verschiedene Lösungen für diese Probleme an. Das verpasse die Lottokratie. Er warnt auch, dass eine reine Lottokratie die Hoffnung auf mehr Demokratie letztlich in ihr Gegenteil verkehren könnte: „Sobald die glücklichen Gewinner sich an die Arbeit machen, haben wir, die Bürger, im Wesentlichen den Mund zu halten.“ Was er damit meint: Vor und nach den Auslosungen hätten Bürger:innen weniger Möglichkeiten, sich zum Beispiel in Wahlkämpfen für ihre politischen Ideen einzusetzen.
Doch auch Müller glaubt: Für große, richtungsweisende Entscheidungen – zum Beispiel in der Klimapolitik – könnten ausgeloste Bürgerräte eine Lösung sein. Sie könnten als Ergänzung der repräsentativen Demokratie Handlungsempfehlungen erarbeiten, über die die Bevölkerung anschließend abstimmt.
Das ist 2016 in Irland geschehen: 99 ausgeloste Frauen, Männer, Alte, Junge, Arbeitssuchende und Berufstätige debattierten ein Jahr lang gemeinsam mit Expert:innen über das Abtreibungsverbot im Land. Am Ende empfahlen sie, das Abtreibungsverbot abzuschaffen. Die Bevölkerung stimmte über den Vorschlag in einem Referendum ab – und nahm ihn an. Auch in Ostbelgien hat die Idee auf lokaler Ebene großen Erfolg: Bürger:innen können dort sogar selbst vorschlagen, zu welchem Thema ein Bürgerrat eingesetzt werden soll.
Es würde helfen, mal wieder schwimmen zu gehen
Chile baut sich gerade eine neue Demokratie, in Europa trenden Bürgerräte – alles halb so schlimm? Nun ja. Demokratiefeindlichkeit hat viele Gestalten. Eine davon ist etwa acht Meter lang, mit dunklem Holz beschlagen und steht an der Uferpromenade der dänischen Stadt Aarhus. Es ist eine Bank.
Die Bank ist unglaublich unbequem. Egal wo man sich niederlässt, irgendwo zwickt es immer. Mal ist die Sitzfläche zu steil abgeschrägt, mal die Rückenlehne zu kurz, mal der Platz zu gering. Ich bin dutzende, vielleicht hundert Mal an dieser Bank vorbei gelaufen. Und ich kann mich kaum an einen Moment erinnern, in dem dort jemand saß. Die Bank ist absichtlich so gestaltet. Und das Problem hat einen Namen: defensive Architektur. Der Begriff beschreibt den Versuch, den öffentlichen Raum so zu gestalten, dass bestimmte Menschen dort keine Zeit verbringen wollen. Das soll vor allem Wohnungslose und Jugendliche vom „Herumlungern“ abhalten. In Deutschland baut man dafür meistens „Armlehnen“ in die Mitte einer Bank.
Was das mit Demokratie zu tun hat?
Die Bank ist ein Beispiel dafür, dass ausgerechnet im öffentlichen Raum immer weniger Platz für die Öffentlichkeit ist. Orte, an denen sich Menschen aus verschiedenen Schichten und Lebensrealitäten begegnen und ins Gespräch kommen können, werden beschnitten. Dabei sind solche Orte überlebenswichtig für eine lebendige Demokratie. Deshalb ist auch das Schwimmbadsterben in Deutschland ein Problem. Was also tun?
Die öffentliche Infrastruktur der Demokratie ausbauen und stärken – durch analoge Angebote wie Büchereien, Cafés oder Parkbänke. Denn die Zukunft der Demokratie liegt im Lokalen – und im Digitalen. New Localism nennen das die Autor:innen Bruce Katz und Jeremy Nowak. Sie sagen: Entscheidungen müssen von unten kommen, nicht von oben. Viele Fernseh- oder Twitter-Debatten hätten mit der Lebensrealität der Menschen vor Ort keine Berührungspunkte: Die Leute interessiere letztlich, ob die Straßen gut ausgebaut sind, wann endlich die neue Buslinie kommt oder ob das Stadttheater saniert wird. Kurz: Die Menschen vor Ort wissen im Zweifel besser, was die richtige Lösung für ein lokales Problem ist.
Deshalb müsse die Demokratie des 21. Jahrhunderts sich die Möglichkeiten der Technologie zunutze machen. Nur so ließen sich die großen und kleinen Herausforderungen der Gegenwart bewältigen – von der Klimakrise bis hin zu sozialer Ungleichheit. Think globally, act locally.
Der Autor und Journalist Georg Diez, sowie der Gründer und Berater Emanuel Heisenberg schreiben in einem Essay: „Die lokalen, städtischen Zusammenhänge eröffnen ganz neue Antworten für die wesentlichen politischen Fragen an die repräsentative Demokratie.“ Sie führen eine einfache Idee an, die zeigt, wie viel Potenzial das hat: Stadtbewohner:innen könnten in der Zukunft per App mit darüber entscheiden, wie Steuergelder vor Ort ausgegeben werden. Ein solches „partizipatives Budget“ probierte 1989 – noch vor der Erfindung des Smartphones – die brasilianische Stadt Porto Alegre aus: Bürger:innen konnten mitbestimmen, wie die Stadt ihr Geld investiert. Das Ergebnis: Innerhalb weniger Jahre baute die Stadt die Wasser- und Abwasseranschlüsse massiv aus. Besonders die Bedürfnisse der ärmeren Bevölkerung wurden plötzlich stärker berücksichtigt. In der belgischen Stadt Antwerpen gibt es ein ähnliches Projekt für Kinder und Jugendliche. Die Stadt spricht sie in der Schule oder in Jugendzentren gezielt an und fragt sie mithilfe digitaler Fragebögen nach ihren Wünschen.
Mit ausreichend Daten können Algorithmen inzwischen sogar Gentrifizierungswellen berechnen. Das haben die Forscher Kenn Steif und Alan Mallach zum Beispiel in Pittsburg getan. Einerseits ermöglicht das einer Stadtverwaltung, der Verdrängung der Bevölkerung entgegenzuwirken – zum Beispiel durch die entsprechende Planung von sozialem Wohnungsbau. Andererseits zeigen solche Berechnungen auch, welche Stadtteile vielleicht durch gezielte Maßnahmen wiederbelebt werden müssen.
Der Strukturwandel, der vielerorts zum Dorfsterben, zu Frust und Verärgerung führt, könnte so aktiv gestaltet werden: durch die Teilhabe von Anwohner:innen, die zum Beispiel per App oder durch einen Bürgerrat über die Verwendung von Geldern mitbestimmen und die durch datengestützte Informationen politische Lösungen vor Ort finden können.
Streitet euch!
Es gibt nicht die Demokratie. Das, was wir unter dem Begriff verstehen, variiert von Zeit zu Zeit und von Ort zu Ort. Es gibt auch kein Allheilmittel für all ihre Probleme. Das ist unmöglich. Schon der US-amerikanische Politikwissenschaftler Elmer Eric Schattschneider stellte treffend fest: Menschen haben nicht einfach nur Interessen, sondern Vorstellungen von Interessen. Diese Vorstellungen sind eben keine kühle Kosten-Nutzen-Rechnung, sondern oft von Werten geprägt. Und über kaum etwas lässt sich so hervorragend streiten wie über Werte. Das Schöne ist: Streit ist die Essenz der Demokratie – nicht Harmonie. Entscheidend ist, dass wir unsere Konflikte friedlich, fair und gleichberechtigt austragen. Das bedeutet zunächst, dass alle mitmachen dürfen. Aber dass alle mitmachen dürfen, heißt nicht, dass alle mitmachen müssen. Das zeigt in diesem Interview auch der Demokratieforscher Wolfgang Gründiger, der das Wahlrecht auch für Kinder fordert.
Das Beispiel Chile zeigt: Wir können das politische Menü ändern – und auch unsere Verfassung demokratisch ins 21. Jahrhundert holen. Dafür müssen wir lernen, uns als politische Wesen zu begreifen. Und Lösungen für Probleme nicht nur bei „denen da oben“ oder uns selbst und unserem Konsumverhalten suchen. Dafür brauchen wir nicht nur mehr Parkbänke. Wir brauchen Orte, um kollektiv bindende Entscheidungen zu treffen. Und Orte, an denen sich die Gesellschaft Meinungen und politische Urteile bilden kann.
Der US-amerikanische Historiker Christopher Lasch schrieb: „Was die Demokratie braucht, ist eine öffentliche Debatte, nicht Informationen. Wir wissen nicht, was wir wissen müssen, bevor wir nicht die richtigen Fragen gestellt haben, und die richtigen Fragen können wir nur finden, indem wir unsere Vorstellungen von der Welt dem Test der öffentlichen Kontroverse aussetzen.“
Ich übersetze das mal kurz. Er sagt: Wir sollen uns streiten.
Darüber kann man streiten. Aber genau darum geht es.
Vielen Dank an alle KR-Mitglieder, die mich bei der Recherche zu diesem Text unterstützt haben.
Redaktion: Lisa McMinn, Schlussredaktion: Susan Mücke, Bildredaktion: Philipp Sipos, Audioversion: Christian Melchert