Nach drei Jahren ohne Kontakt sitzt Gianni, 13 Jahre alt, seinem Vater gegenüber. In einem kleinen Gerichtssaal im Familiengericht Potsdam fragt der Richter knapp, wie es Gianni gehe, ob er sich bei der Mutter wohlfühle. Gianni bejaht.
Die Mutter hatte das alleinige Sorgerecht für ihn beantragt, zehn Jahre nach der Trennung von ihrem Mann. Das Gericht will sich jetzt ein Bild davon machen, was das Beste für das Kind ist. Deshalb muss Gianni gegen seinen Vater aussagen – und für seine Mutter.
Der Richter hat keine Bedenken, Giannis Vater sowieso nicht, er wollte eigentlich nicht mal vor Gericht erscheinen. Der Richter bittet den Vater noch, sich mehr um seinen Jungen zu kümmern. Dann dürfen alle nach Hause gehen.
Im Gericht verdrückt Gianni keine Träne. Erst zuhause, sagt er. Da habe er richtig verstanden, was passiert ist. „Es war erschütternd, wie egal ich meinem Vater war. Diese Geschichte wird mich mein Leben lang begleiten.“
An dem Tag im Gericht empfindet Gianni das erste Mal ein Gefühl, das ihn von da an begleiten wird: Wut über die Ungerechtigkeit der Welt.
Was Gianni erlebt, bringt ihn dazu, selbst aktiv zu werden
Der Anteil der Jugendlichen, die es wichtig finden, sich persönlich politisch zu engagieren, stieg in den vergangenen Jahren stark an: von 23 Prozent im Jahr 2010 auf 34 Prozent 2019.
Gianni ist einer dieser Jugendlichen. Was bringt einen Teenager dazu, sich zu engagieren? Wie wird aus einem Schüler ein Aktivist? Und wie viel politische Macht können Jugendliche heute erlangen, in einem Land, das immer älter wird?
Gianni wurde 2005 geboren; ein halbes Jahr, bevor Angela Merkel Bundeskanzlerin der Bundesrepublik Deutschland wurde. Er ist so jung, dass er keine andere Bundeskanzlerin als Merkel erlebte und über ihren Nachfolger noch nicht mitentscheiden durfte.
Gianni und seine alleinerziehende Mutter leben in prekären Verhältnissen. Der Vater, der im Gerichtssaal wenig Interesse gezeigt hatte, zahlt weiterhin nur unregelmäßig Unterhalt.
Die Mutter war schon immer auf sich gestellt, sie musste die kleine Familie über die Runden bringen. Als Kindergärtnerin arbeitet sie in Vollzeit. Weil viele Eltern bis spätabends arbeiten müssen, muss Giannis Mutter das auch. Sie betreut die Kinder anderer Familien, während Gianni als Kind oft bis zuletzt im Hort bleiben musste.
Dazu kamen die Hausarbeit und die Erziehung von Gianni. Am ersten Weihnachtsfeiertag 2018 bekamen sie Post: Der Vermieter kündigte eine Modernisierung an, die Miete würde höher werden. Wie viel, das weiß Gianni nicht mehr, aber er weiß: zu viel für seine Mutter. Sie müssen umziehen.
Mit 13 muss Gianni den Ort aufgeben, an dem er aufwuchs. Die Wohnung war nur ein paar hundert Meter von seiner Schule entfernt. Seine Freunde wohnten um die Ecke. „Für mich war unbegreiflich, warum wir mein Zuhause verlassen mussten“, sagt Gianni.
Gianni und seine Mutter ziehen nach Brandenburg, dorthin, wo die Busse nur einmal die Stunde fahren und nachts gar nicht. „Das nervt natürlich, wenn ich abends was mit Freunden machen will.“
Was Gianni erlebt, verändert ihn.
Gianni versteht, dass der Brief des Vermieters an Weihnachten Teil eines größeren, politischen Problems ist. Erzählt er heute von dem, was er erlebt hat, spricht er nicht mehr nur darüber, wie traurig er war, seine Freunde zurückzulassen. Er sagt auch: „Die Mieten in Berlin sind der Wahnsinn!“ Und: „Anderen geht es ja noch viel schlechter. Die können nicht auf ihrer Schule bleiben und müssen ständig umziehen.“
Als Kind sah er, dass seine Mutter kaum Zeit hatte und das Geld kaum reichte. Heute sagt er: „Kinder großzuziehen, kostet viel Zeit, Care-Arbeit sollte entlohnt werden!“ Immer hatte er nur Mütter gesehen, die ihre Kinder allein großziehen. Heute sagt er: „Die Förderung von Alleinerziehenden ist Frauenförderung, das ist hoch-feministisch!“
Gianni probiert es mit Politik
Wenn Gianni heute über die prekäre Situation von Alleinerziehenden in Deutschland spricht, sitzt jedes Wort. Er redet sanft, aber schnell. Gianni kennt beide Seiten: die Statistiken und das Leben. Er gibt Interviews in Onlinemagazinen und fährt zu Demos quer durch Deutschland. Er setzt sich für soziale Gerechtigkeit ein, für eine faire Welt und das Klima.
Im Politikunterricht lernt Gianni, wie das parlamentarische politische System funktioniert. Er denkt: „Der einzige Ort, an dem ich politisch etwas verändern kann, ist eine Partei.“
Mit 15 Jahren tritt Gianni den Grünen bei und merkt schnell: Mitreden darf man erst, wenn man die Hierarchie in der Partei durchlaufen hat. Das ärgert ihn. Schließlich will er jetzt gleich etwas verändern, die Welt ein bisschen weniger ungerecht machen. Dazu kommt: Wer in einer Partei eine Aufgabe oder ein Mandat annimmt, verpflichtet sich oft direkt für Monate oder sogar Jahre im Voraus. „Welcher Jugendliche will das schon?“
Ein halbes Jahr bleibt Gianni bei den Grünen aktiv. „Ich wollte unbedingt, dass es funktioniert“, sagt er. Gianni ist genervt, weil in den Sitzungen über so viele Themen gesprochen wird, aber nicht über die, für die er selbst brennt. „Ich wollte mir mein politisches Engagement so zusammenbauen, wie ich es möchte, nicht wie es gerade zur Partei passt.“ Der Frust wächst. Nach sechs Monaten schmeißt er hin. Er bleibt Mitglied, aber kein aktives.
Viele junge Menschen trauen der Politik nicht mehr zu, Lösungen auf komplexe Fragen zur Organisation der Gesellschaft, Technologie, Arbeit und Bildung zu finden, das zeigen aktuelle Studien. Mehr als die Hälfte der jungen Menschen fühlte sich von keiner der demokratischen Parteien vertreten.
Das hat Folgen: Parteien werden für junge Menschen unwichtiger, wenn es um politische Veränderung geht. Mit 14 Jahren kann man, wie Gianni, einer politischen Partei wie den Grünen beitreten. Das Durchschnittsalter lag 2019 trotzdem bei 48 Jahren – und damit sind die Grünen noch die jüngste von allen im Bundestag vertretenen Parteien.
Die Themen junger Menschen bleiben dadurch auf der Strecke. Lange schien das kein Problem zu sein. Junge Menschen sind in Deutschland statistisch in der Unterzahl und hatten keine politische Macht. In den vergangenen Jahren haben sich die Jungen diese Macht einfach genommen. Wie sähe unsere Klimapolitik heute aus, wenn nicht monatelang jeden Freitag Millionen Schüler:innen demonstriert hätten? Eben.
Gianni sieht Leute auf Instagram, die Politik machen, ganz ohne Parteien
Nachdem er bei den Grünen ausgestiegen ist, entdeckt Gianni, dass Politik nicht nur in Parteien gemacht wird: auf Instagram. Immer wieder stößt er auf Profile, die für politische Themen werben, die über Politik so schreiben, dass er sie versteht. Die Rechte von Alleinerziehenden, soziale Ungleichheit, Armut.
Wenn Gianni in der Schule erzählte, dass sein Vater sich nie bei ihm melde, erfuhr er wenig Verständnis. „Die haben meine Trauer gar nicht verstanden“, sagt er. Also hat er aufgehört, davon zu erzählen.
Gianni gibt den Traum auf, Politiker zu werden. Stattdessen wird er Aktivist. Im Gegensatz zur Arbeit in einer Partei, für die man sich ein bisschen aufgeben muss, stehen Aktivisten immer für sich selbst, sagt Gianni. „Für ihre persönlichen Ziele, für den Glauben, dass du als Mensch etwas bewegen kannst.“ Gianni lernt, das Gefühl der Wut über die Ungerechtigkeit der Welt in politische Forderungen zu übersetzen. „Dass es Alleinerziehenden so schlecht geht, resultiert auch daraus, dass Frauen schlechter bezahlt werden. Wenn man insgesamt die Löhne anheben würde, würde es den Alleinerziehenden, also Müttern deutlich besser gehen“, sagt Gianni. Die Rechte von Alleinerziehenden gingen deshalb alle etwas an. „Eigentlich müssten dafür alle auf die Straße gehen!“
Zwischen 500.000 Menschen fragt Gianni: Was kann ich tun?
Ende Februar macht sich Gianni von Brandenburg aus mit dem Regionalzug auf den Weg zum Brandenburger Tor. Drei Tage zuvor fiel Russland in die Ukraine ein. 500.000 Menschen versammeln sich in Berlin, um ihre Solidarität zu bekunden. Gianni ist eine Stunde vor offiziellem Beginn schon da, man wisse ja nie, wie die Verbindung nach Berlin von Brandenburg aus funktioniere. Es ist das erste Mal, dass er auf eine so große Demo fährt.
Während am Brandenburger Tor die Stimmen der Redner:innen aus den Lautsprechern tönen, steht Gianni in der ersten Reihe vor der Bühne an der Siegessäule. Er hört die Rede von Klimaaktivistin Luisa Neubauer, steht dabei nur ein paar Meter von ihr entfernt. Neubauer sagt, Energie und Frieden seien eng miteinander verbunden. Und dass Deutschland den Krieg mitfinanziere. Gianni findet, sie hat Recht. Er beschließt, etwas zu tun.
Am liebsten hätte er sie direkt angesprochen, aber er kommt nicht an sie heran. Also fragt er eine andere Aktivistin: „Wie kann ich helfen?“ Sie fügt ihn zu mehreren Whatsapp-Gruppen hinzu. Er solle mit ihnen auf die Straße gehen, sagt die junge Frau. Dort finde die politische Veränderung statt!
Seine Lehrer:innen hatten Gianni noch davor gewarnt, Aktivist zu werden. Es reiche doch, wenn man selbst ein bisschen was im eigenen Leben verändere. „Die sagten: Wer etwas für das Klima tun will, könne privat auf ganz viel verzichten, und damit wahrscheinlich mehr erreichen, als wenn man freitags die Schule schwänzt.“
Gianni wird trotzdem aktiv. Er merkt: Aktivismus und Schule passen schlecht zusammen. Neben dem Lernen und Schularbeiten bleibe nicht viel Raum. „Wir lernen ganz viel über Armut und die Zustände auf der Welt. Aber Zeit, dagegen etwas zu unternehmen, haben wir kaum.“
Gianni ist stolz auf seine Rede
In der Woche nach Giannis Reise zur Demo nach Berlin schlägt sein Politiklehrer vor, Kerzen vor der ukrainischen Botschaft niederzulegen, als Zeichen der Solidarität. Gianni schlägt vor, Fridays for Future zu fragen, ob sie mitmachen wollen.
Es gibt einige Telefonkonferenzen. Dann schließt sich die größte Jugendbewegung des Landes der Klasse von Gianni an – und mit ihr auch andere Schulen. Schnell wird klar: Der Platz vor der ukrainischen Botschaft ist zu klein. Keine zwei Tage , bevor es losgehen soll, wird die Demo vor den Bundestag gelegt. Giannis Idee ist explodiert. Und er merkt zum ersten Mal: Er kann etwas erreichen mit seinem Engagement.
Am Tag der Demo kommen mindestens 5.000 Menschen zum Bundestag. Die Veranstalter:innen selbst zählen sogar 11.000.
Vor Gianni stehen Tausende Schüler:innen aus der Hauptstadt mit Plakaten: „Fuck Putin!“, steht auf einigen. „Jedes Leben zählt!“ auf einem anderen. Gianni trägt einen langen schwarzen Mantel, darunter ein schickes weißes Hemd. Als er die Stufen zur Bühne erklimmt, ist er nicht nervös. Er glaubt an das, was er gleich sagen wird. Seine Stimme füllt den Platz der Republik: „Der Krieg macht sauer und traurig, weil Krieg in Europa bisher immer nur etwas war, das man im Geschichtsunterricht behandelt hat“, sagt er.
Gianni spricht darüber, wie es ist, als junger Mensch Träume zu haben. Er sagt: „Ein paar hundert Kilometer von uns entfernt werden Kindern diese Träume gerade genommen, sie werden zerfetzt und zerstört.“ Und er sagt: „Wir müssen uns fragen, wo wir gelandet sind. In welcher Zeit sind wir nur gelandet?“
Nach der Rede gibt Gianni den Fernsehteams Interviews. Gianni ist stolz auf sich. „Die Rede war eine unglaublich bewegende Erfahrung.“
Und er ist sicher: Der gesellschaftliche Wandel wird auf der Straße vorangebracht.
Gianni will derjenige sein, den er gebraucht hätte
Gianni musste politischen Protest erleben, um ihn als wirksam zu begreifen. Wenn das so ist, könnte derzeit eine der politisch engagiertesten Generationen seit Langem die Schulen verlassen. Millionen Schüler:innen waren schon auf Demos, bei Fridays for Future, bei Black Lives Matter, bei Anti-Kriegs-Protesten.
Gianni sagt: „Ich weiß zwar nicht, was sich dadurch verändert, aber ich weiß, dass ich mich für eine bessere Zukunft einsetze.“
Als Nächstes möchte er einen Podcast über soziale Ungleichheit produzieren. Der Titel: „Soziales Deutschland“. Die Mikrofone, das Aufnahmegerät und die Kopfhörer kosten zusammen mehrere hundert Euro. Um sie sich leisten zu können, arbeitet er zweimal die Woche bei Rewe an der Kasse. Und er fragt seine Freunde und Bekannten, ob sie ihm Geräte leihen können. In ein oder zwei Monaten hat er genug Geld zusammen, dann sollen andere Aktivist:innen bei ihm zu Gast sein.
Nach der Anhörung vor dem Gericht, bei dem er seinen Vater zum letzten Mal sah, hätte er sich gewünscht, dass jemand die Perspektive von Kindern mit alleinerziehenden Eltern in die Öffentlichkeit trägt. Zu Instagram oder Tiktok, dorthin, wo junge Menschen auch rumhängen. „Dann hätte ich mich vielleicht nicht so allein gefühlt“, sagt er. So jemanden gab es nicht. Vielleicht, sagt er, kann er dieser jemand jetzt für andere sein.
Redaktion: Thembi Wolf, Schlussredaktion: Susan Mücke, Fotos: Martin Gommel, Fotoredaktion: Philipp Sipos; Audioversion: Iris Hochberger