Glaubst du, wir leben in einer echten Demokratie, in der wir Bürger:innen etwas zu sagen haben?
Wenn du die Frage mit „Ja“ beantwortet hast, gehörst du zwar zu einer Mehrheit in Deutschland, aber einer überraschend kleinen. Vielleicht hast du die Schlagzeilen der vergangenen Tage auch gesehen. Spiegel Online titelte: „Fast ein Drittel der Deutschen glaubt, in einer ‚Scheindemokratie‘ zu leben“, der SWR: „Allensbach-Institut: 31 Prozent der Deutschen stellt politisches System infrage“, Deutschlandfunk Nova: „Deutschland, für einige eine Scheindemokratie“. Oder anders gesagt: Die Aufregung war groß!
Zu groß, denn natürlich ist es nicht ganz so einfach. Erstens: Die Studie (Pdf) des – sehr renommierten – Allensbach-Instituts zeigt eigentlich gute Entwicklungen: Die Befragten äußerten so wenig Angst vor einer apokalyptischen Entwicklung in Deutschland wie selten in den vergangenen Jahrzehnten. Trotz Krieg in der Ukraine und Corona-Pandemie. Die Autor:innen schreiben dazu in ihrer Studie sogar explizit den Satz: „Das Ergebnis zeigt, dass zumindest dieser Aspekt radikalen Denkens, anders als oft angenommen wird, in jüngerer Zeit nicht zu-, sondern eher abgenommen hat.“
Das ist eine gute Nachricht, auch wenn ich an dieser Stelle keinesfalls Attacken Rechtsextremer und sogenannter Querdenker:innen auf Polizist:innen, Journalist:innen und Gegendemonstrant:innen verharmlosen will.
Nun ist es aber nicht das apokalyptische Denken, das die Schlagzeilen beherrscht hat, sondern die empfundene „Scheindemokratie“, in der wir, so denken es manche der Befragten, leben. Die Einschätzung bieten die Autor:innen auch wieder selbst in der Studie an. „Bei Weitem nicht jeder, der einer dieser Thesen zustimmt, kann allein deswegen gleich als anfällig für autoritäres Denken eingestuft werden.“ Aber natürlich würde eine Zustimmung zu der These unterschwellig Aspekte autoritären Denkens behandeln.
Du liest einen Newsletter von Tarek Barkouni. Parallel zu unseren langen Magazin-Texten verschicken wir Reporter:innen immer wieder kurze Analysen, Denkanstöße und Rechercheskizzen, die einen Blick in unsere Arbeit hinter den langen Stücken ermöglichen. Schließe dich über 2.000 Menschen an und abonniere diesen Newsletter kostenlos.
Vielleicht sind auch viele Menschen darunter, die sich einfach nur häufigeren Einfluss auf die Politik wünschen. Denn eines machen die Befrager:innen des Allensbach-Instituts nicht: nachhaken. Also wie die Befragten zu ihren jeweiligen Aussagen kommen und warum. Was wiederum auch in der Studie steht: „Nun ist eine kleine Bevölkerungsumfrage mit fünf Fragen und einer Stichprobengröße von 1.033 Personen bei Weitem nicht ausreichend, um eine so anspruchsvolle Forschungsfrage sicher beantworten zu können.“
Scheindemokratie: ein ostdeutsches Problem?
Eine Erkenntnis aus der Studie möchte ich hier aber hervorheben: In Ostdeutschland stimmen deutlich mehr Menschen der Frage nach der Scheindemokratie zu – 45 Prozent gegenüber 28 Prozent im Westen. Wobei auch hier natürlich die Einschränkungen gelten, die ich beschrieben habe.
Diese Haltung zeigt sich dann in hohen Ergebnissen für die AfD, was nach der letzten Landtagswahl sehr deutlich wurde. Damals habe ich Menschen gefragt, wie sie die Ergebnisse erklären: Ihrer Einschätzung nach lagen sie in der Zeit nach der Wende begründet. Vielleicht haben die Forscher:innen des Allensbach-Instituts recht, wenn sie schreiben, dass Demokratie auch gelernt werden will.
Ich habe vor einiger Zeit einen Text über Demokratieprojekte in Ostdeutschland geschrieben. Dafür habe ich auch ein Interview mit Andre Schmidt vom Else-Frenkel-Brunswik-Institut für Demokratieforschung in Sachsen geführt zu den Hindernissen, die viele dieser Projekte hier überwinden müssen. (Liebe Grüße an der Stelle!) Im aktuellen Jahresbericht des Instituts schreiben Sophie Bose und Jakob Köster etwas, das ich sehr spannend fand: Sie haben für eine Untersuchung zwölf Menschen ausgiebig interviewt und konnten bestätigen, dass sich viele der Befragten in der parlamentarischen Demokratie nicht ausreichend repräsentiert fühlen. Aber: „Gleichzeitig setzen sich die Befragten engagiert im Betrieb oder im Stadtteil für ihre eigenen Belange und die von anderen ein, was sich als gelebte demokratische Kultur im Kleinen verstehen lässt.“
Das ist eine gute Nachricht, die die Komplexität der (ostdeutschen) Gesellschaft viel besser abbildet. Bose und Köster haben auch eine Idee, um die empfundene Ablehnung der parlamentarischen Demokratie zu mildern: „Dafür müssten Menschen aber über den Nahbereich hinaus erleben, dass sie gesellschaftliche Ungleichheiten und erfahrene Ungerechtigkeiten politisch verändern und beeinflussen können.“
Etwas, das viele Ostdeutsche vermutlich vermissen, immerhin prägte die Hälfte der Zeit nach der Wende politisch genau eine Person Bundeskanzlerin: Angela Merkel.
Redaktion: Esther Göbel, Schlussredaktion: Susan Mücke, Bildredaktion: Philipp Sipos, Audioversion: Christian Melchert