September 1988: In einer groß aufgezogenen Feier in Berlin wird der Ein-Megabit-Chip vorgestellt, natürlich im Volkseigenen Betrieb entwickelt und produziert. Knapp sieben Millimeter misst der Chip, den der Generaldirektor des VEB Carl Zeiss Jena, Wolfgang Biermann, an den Staatsratsvorsitzenden der DDR, Erich Honecker, überreicht. „Sie sind ein überzeugender Beweis dafür, dass die DDR ihre Position als entwickeltes Industrieland behauptet“, sagt Honecker.
Mit dem Chip will die SED die Mikroelektronik-Industrie der DDR an die Weltspitze katapultieren. Aus heutiger Perspektive ein absurder Plan: Ein vergleichbarer Chip war schon vier Jahre zuvor auf den Markt gekommen und die DDR hatte nur noch etwas länger als ein Jahr Bestand.
März 2022: Der Chip-Riese Intel verkündet, sein neuestes Werk in Magdeburg zu eröffnen. Nicht bei einer pompösen Veranstaltung, sondern coronagemäß in einer Videobotschaft. Die DDR existiert seit 30 Jahren nicht mehr, der real existierende Sozialismus ist gescheitert und aus Megabit sind Gigabyte geworden.
Trotzdem scheint Erich Honeckers Traum wahr zu werden: Den Osten zum international anerkannten Zentrum für die Hochtechnologie – also Chips und Halbleiter – zu machen. Es ist ein ambitionierter Plan, in dem bereits jetzt schon Milliarden Euro stecken: Ostdeutschland an die Weltspitze der IT-Wirtschaft zu katapultieren, Zehntausenden Menschen Arbeit zu bieten.
Die neue Intel-Fabrik ist nur ein Höhepunkt einer langen Erfolgsgeschichte, die kurz nach der Wende begann und zwischendurch fast scheiterte. Aber kann das langfristig funktionieren, gegen eine Übermacht aus China und Taiwan, die fast 90 Prozent der Produktion ausmachen?
Wenn Despoten Chips liefern, müssen wir umdenken
Wenn es um IT-Technik geht, ist normalerweise vor allem ein Land im Spiel: China. Dort wird nicht nur ein Großteil der Chips produziert, sondern auch die Geräte, in denen sie verbaut werden: Handys, Computer, Kameras, Fernseher und Spielkonsolen. Unser Lebensstil ist von Lieferungen aus China abhängig. Dass es ein Problem ist, sich mit Autokratien einzulassen, merkt Deutschland gerade sehr deutlich. Am Ende stellt sich nämlich die Frage: Wie können wir uns – zum Beispiel im Kriegsfall – von ihnen trennen?
Das ist eine Frage, die auch die „Expertenkommission Forschung und Innovation“ (EFI) beschäftigt. Das Gremium aus Wissenschaftler:innen erstellt jährlich ein Gutachten für die Bundesregierung. Irene Bertschek ist Professorin am Leibniz-Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung in Mannheim und hat an dem Gutachten mitgewirkt. Sie erklärt: „Im Bereich digitaler Technologien besteht eine große Abhängigkeit von China. Das ist deshalb gefährlich, weil digitale Technologien Schlüssel auch für andere Technologie-Bereiche wie zum Beispiel die Produktion sind.“
Deutschland ist in der Entwicklung von Maschinen und den Bio- und Lebenswissenschaften Vorreiter. Diese Bereiche arbeiten aber heutzutage intensiv mit digitaler Technik – wie der Rest der Welt eben auch. Es gehe nicht darum, den Handel mit China einzustellen. „Man muss Anbieter aus verschiedenen Ländern ausmachen und sich dadurch von einzelnen Ländern und auch Autokraten unabhängig machen.“
„Wenn man die Abhängigkeit nicht abbaut, läuft man Gefahr, den Anschluss zu verlieren“, sagt Bertschek. Also zum Beispiel, wenn Lieferungen künstlich verknappt werden oder Lieferketten nicht funktionieren.
Die Hoffnung liegt deshalb auch auf Ostdeutschland.
Die Geschichte der DDR-Chips
Um zu verstehen, warum ausgerechnet im Osten ein Elektrotechnik-Boom herrscht – immerhin jeder dritte in Europa produzierte Chip kommt von hier –, lohnt sich ein Blick hinter den Eisernen Vorhang.
Die DDR hat immer auch auf die Entwicklung neuer Technologien gesetzt, ein “Wettlauf mit der Zeit”, wie Honecker sagte. Im Jahr1964 lautete eines der Ziele die „wissenschaftlich-technische Revolution“, für die Millionen Mark investiert wurden. Genau wie die BRD erkannte die SED früh das enorme Potenzial der Mikroelektronik. In Dresden, Frankfurt, Ilmenau, Freiberg, Jena und anderen Städten wurden Betriebe für die Produktion der Teile aufgebaut. Die DDR-Chips und Halbleiter wurden für den eigenen Gebrauch und das sozialistische Ausland in Radios, Herzschrittmachern oder Uhren verbaut. Auch wenn es damals noch eine Wette auf die technologisierte Zukunft war, die wir heute erleben.
In den Achtzigerjahren hinkte die DDR den nicht-kommunistischen, hauptsächlich japanischen Firmen immer ungefähr drei Jahre hinterher. Die DDR-Chips hatten längst nicht die Leistungs- und Speicherfähigkeit der Konkurrenz aus dem Ausland. Zu groß war der Mangel an Rohstoffen wie hochreinem Silizium. Dazu kam, dass die Sowjetunion hohe Reparationszahlungen verlangte und die aus der NS-Zeit verbliebenen Industrieanlagen demontiert und abtransportiert hatte. So fehlte es zum Beispiel an einem speziellen Lack, mit dem die winzig kleinen Schaltkreise bearbeitet wurden. Trotzdem entwickelten die DDR-Wissenschaftler:innen den Ein-Megabit-Chip ohne westliche Hilfe und unter scharfen Embargos. Er war ein ideologisches Projekt, das nie in Massenproduktion ging.
Nach der Wende verteidigten die Entwickler:innen rund um das „Zentrum Mikroelektronik Dresden“ (ZMD) den Standort im Osten von Deutschland. Erst verteidigten sie die Firma lange erfolgreich gegen die Treuhand sorgten dafür, in Dresden eine Zeit lang weiter Mikroelektronik herstellen zu können. Später wurden sie Teil eines Netzwerks, das Sachsen als IT-Standort groß machen will: Digital Saxony.
Ohne Lobby geht es nicht
Heute reißen die Erfolgsmeldungen aus Sachsen in Sachen Chipproduktion nicht ab. Vier Fabriken stehen in Dresden, um die sich ein Ökosystem aus Firmen mit mehr als 60.000 Mitarbeiter:innen entwickelt hat. Auch der taiwanesische Chiphersteller TSMC erwägt, einen Standort zu eröffnen.
Das liegt sicherlich auch an „Silicon Saxony“, einem Netzwerk- und Lobbyverein aus 370 sächsischen Tech-Unternehmen: Mikroelektronik, Halbleiter- und Photovoltaikproduktion und der dazugehörigen Softwarebranche. Unter anderem ehemalige Angestellte der DDR-Chipfabriken haben das Netzwerk gegründet, um der alten Hoffnung neues Leben zu geben.
Robert Weichert ist Pressesprecher des Verbandes. Er erklärt, Silicon Saxony wolle die Interessen der sächsischen Industrie bündeln und nach außen tragen. Außerdem gehe es ihm auch um die großen Produzenten im Ausland. Die bekommen nämlich deutlich höhere Subventionen als deutsche Firmen, oft bis zu 40 Prozent der Kosten für eine Fabrik, die mehreren Milliarden Euro kostet.
Der Erfolg der ostdeutschen Halbleiterindustrie, sagt Weichert, sei eine direkte Folge der wirtschaftlichen Entwicklung nach der Wende. „Nachdem man die DDR-Wirtschaft abgebaut hatte, versuchte man, den wirtschaftlichen Wohlstand wieder in diese Bundesländer zu bringen.“ Das sei 30 Jahre nach der Wende eindeutig gelungen. Das liegt auch ein bisschen an einer westdeutschen Kurzsichtigkeit: „Damals hat man im Osten vor allem Forschungsinstitute angesiedelt, die sich mit zukünftigen Technologien wie Solar, neuen Werkstoffen oder Mobilfunk beschäftigten.” Unter industriellen Gesichtspunkten hätten diese damals in Westdeutschland keine wichtige Rolle gespielt. „Und natürlich wurde im Silicon Saxony sehr stark in Mikroelektronik investiert.“
Der Chip-Boom hört nicht an der sächsischen Grenze auf. In Sachsen-Anhalt gibt es zwar noch kein „Silicon Saxony-Anhalt“ aber mit Intel immerhin bald einen Produktionsstandort, in den bis zu 17 Milliarden Euro investiert werden und der bis zu 20.000 Arbeitsplätze schaffen könnte. Das wären fast zehn Prozent der gesamten Magdeburger Bevölkerung, auch wenn es wohl viele Pendler:innen – diesmal von Westen nach Osten – geben wird. Gleichzeitig baut Tesla in Brandenburg eine Fabrik, die jährlich 500.000 E-Autos produzieren soll.
Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier sprach beim Besuch einer Chipfabrik in Dresden davon, Ostdeutschland sei heute Vorreiter vieler neuer Technologien. Und auch der Ostbeauftragte der Bundesregierung Carsten Schneider sagte dem Deutschlandfunk: „Die Ansiedlung von Intel ist ein Signal für ganz Ostdeutschland.“
Ostdeutschland, ein Technikparadies?
Wenn Politiker:innen und Firmen einen Erfolg nach dem anderen vermelden und gleichzeitig die Investitionssummen haushoch werden, wird es schwer, sich dem Sog dieses Triumphs zu entziehen. Ostdeutschland scheint einen Techniktraum zu erleben, den nichts stoppen kann. Und tatsächlich haben die Ansiedlungen der vergangenen Jahre Sachsen zum wirtschaftlich stärksten ostdeutschen Bundesland gemacht. Das sächsische Bruttoinlandsprodukt steigt seit der Wende kontinuierlich. Selbst nach zwei Jahren Corona sprudeln die Steuergelder auf Vor-Corona-Niveau in die Landeskassen. Die Hoffnung ist groß, dass Sachsen-Anhalt und Brandenburg nun auch von der Zukunftsindustrie profitieren könnten. Denn angesichts des globalen Chipmangels und der fortschreitenden Digitalisierung braucht es keine Glaskugel, um die zukünftige Bedeutung der Industrie zu verstehen.
Was passiert also in Ostdeutschland, wenn die Strategie funktioniert, die Region zu einem Hotspot der Hochtechnologie zu machen? Kommt die Erfolgsgeschichte auch bei denen an, die keine Aktien von Intel, Bosch oder Tesla haben?
Das Offensichtlichste direkt zu Beginn: Arbeitsplätze werden geschaffen. Bei den großen Unternehmen und auch, weil ein Netzwerk aus Zulieferern entsteht. Für die Zugezogenen braucht es Infrastruktur: Supermärkte, Praxen, Fitnessstudios, Bücher- und Klamottenläden. Die Hoffnung ist, dass das Aussterben der Dörfer rund um die Technologiestandorte gemildert oder sogar umgekehrt werden kann. Aus sich selbst können die ostdeutschen Bundesländer die notwendigen Fachkräfte nicht mehr rekrutieren. So waren in Sachsen im Sommer 2021 etwa 8.700 Lehrstellen unbesetzt.
Forscherin Irene Bertschek sieht hier die Firmen in der Pflicht: „Wenn Angebot und Nachfrage nicht zusammen passen, dann reguliert sich der Markt normalerweise über Preise – in diesem Fall über die Löhne. Aber ich denke, dass die Firmen auch besonders attraktive Arbeitsbedingungen schaffen werden.“ Das habe man nicht zuletzt aus der Corona-Krise gelernt. Homeoffice und eine gute Work-Life-Balance seien wichtige Themen. Es werde aber auch, glaubt sie, darauf ankommen, auf Aus- und Weiterbildung zu setzen um die Fachkräftebasis mittel- bis langfristig zu stärken. „Und schließlich dürfte auch die Zuwanderung eine Rolle spielen.“
Doch die Zugezogenen müssen auch irgendwo wohnen. Das Land Brandenburg rechnet allein für die Tesla-Fabrik mit ungefähr 11.000 Zuzügen. Wenn Bosch, wie geplant, weitere Fabriken baut, zieht es mehr Menschen nach Dresden. Dort ist der Wohnungsmarkt aber schon längst nicht mehr so entspannt, wie er mal war. Der strukturelle Wohnungsleerstand, also wenn Wohnungen länger als drei Monate leer stehen, lag 2020 bei gerade mal 2,2 Prozent – etwa ein Prozentpunkt mehr als in Hamburg. Experten rechnen deshalb durchaus mit Mietpreissteigerungen in der Region. So hat das Land Brandenburg in einer Studie zur Ansiedlung von Tesla klargestellt: „Im näheren Umfeld des Tesla-Werks ist ein Mehrbedarf an Wohnraum zu erwarten, der mit den zur Verfügung stehenden Potenzialen nicht abgedeckt werden kann.“
Darüber hinaus wird die Entwicklung aber auch ganze Generationen prägen. Erstens, weil Ingenieur:innen tendenziell eher Ingenieur:innen aufziehen, denn auch in Deutschland prägt die soziale Herkunft immer noch stark die Berufswahl von Kindern. So wie im Ruhrgebiet oft ganze Dynastien aus Bergleuten entstanden sind, könnten auch in Ostdeutschland bald Elektrotechnik-Ingenieursfamilien entstehen. Zweitens geht es auch um finanziellen und damit auch sozialen Aufstieg.
Wie realistisch ist der Traum von der Weltspitze? Robert Weichert bremst die Euphorie der Stunde. Dass die Europäische Kommission plant, ab 2030 jeden fünften weltweit produzierten Chip in Europa herzustellen, sei sehr optimistisch. Das hat zwei Gründe: Hersteller in Europa liegen technisch weit hinter den Konkurrenten in Asien. Dort produzieren die Hersteller in 3-Nanometer-Größe, können also deutlich mehr Transistoren – die Rechenschieber der Chipwelt – auf einen Chip packen, als hier in Europa, wo die Fabriken minimal auf 16 Nanometer kommen. Außerdem fehle es in Europa auch an Abnehmern für die Chips. Smartphones, Kameras, Computer, all das wird in Asien zusammengeschraubt und die Chips müssten über weite Strecken transportiert werden. Weichert setzt deshalb auf die Autoindustrie. Die hätte durch Elon Musk und Tesla gemerkt, dass die kleinen, auch in Smartphones verbauten Chips, auch im Auto wichtig sind und steige jetzt massenhaft um.
Scheitern geht immer
Bei allem Aufschwung: Auch die Erfolgskurve der Chipproduktion in Sachsen hat bereits eine kleine Delle.
Weihnachten 1993 verkündete der Vorstandsvorsitzende von Siemens, Heinrich von Pierer, den Bau einer Chipfabrik in Ostdeutschland. Zwei Milliarden Mark sollte das Projekt kosten und 1.200 Arbeitsplätze schaffen, selbstverständlich subventioniert vom Staat. Ganze 13 Jahre hielt das Versprechen und nach Umstrukturierungen und Verkäufen verloren 2009 4.000 Menschen ihre Arbeit. Ein paar Jahre später strich auch das Technologieunternehmen Infineon Stellen und setzte stattdessen auf Roboter. Die Branche ist – trotz der digitalen Entwicklung der letzten Jahre – noch immer relativ anfällig für Krisen.
Selbst das altehrwürdige ZMD, die Erbauer des DDR-Chips, traf es. Anfang der Neunziger noch von Dresdner und Deutscher Bank gerettet und künstlich am Leben gehalten durch Subventionen, weil die Firma „gut für das Image und die Industrieansiedlungen des Standortes“ sei, wie der damalige Wirtschaftsminister von Sachsen Kajo Schommer betonte. Im Jahr 1999 wurde das ZMD für symbolische 2 DM verkauft und 2015 endlich aufgelöst.
Und nicht immer ist der Hype um den Erfolg neuer Technologien nachhaltig. Erinnern wir uns an das „Solar Valley“ in Sachsen-Anhalt. Bis 2012 war die Region führend in der Solarbranche. Zahlreiche Firmen siedelten sich an – auch motiviert durch die üppigen Subventionen. Selbst die Nachbarländer Sachsen und Thüringen profitierten mit vom Solarhype. Bis dann alles zusammenbrach: Die Produktion wanderte größtenteils nach China, viele Firmen gingen bankrott und Tausende Menschen wurden arbeitslos. Wenn die Industrien sich auf Subventionen verlassen, kann der Hype ein jähes Ende finden und Hoffnungen ruinieren.
Bisher sieht es aus, als ob Honecker recht behält: Unser Leben wäre ohne die Chips nicht mehr vorstellbar. In einem modernen E-Auto stecken Tausende Halbleiter, 2018 kamen auf einen Haushalt ungefähr zwei Computer, fast drei Telefone und dazu noch ein halbes Navigationsgerät. Dazu stecken heutzutage in Glühbirnen, Thermometern und Zahnbürsten zahlreiche Chips. Ich könnte diese Liste noch ziemlich lange weiterführen.
Vielleicht bleiben die aufgeblühten ostdeutschen Tech-Landschaften also diesmal bestehen: Und der erste Terabyte-Chip wird in Dresden entwickelt und produziert.
Redaktion: Thembi Wolf, Schlussredaktion: Susan Mücke, Bildredaktion: Philipp Sipos, Audioversion: Iris Hochberger