Vor knapp einem Jahr hatte ich in einer großen Recherche gezeigt, wie die Polizei immer härter auf Klima-Proteste reagiert und dabei Befugnisse nutzt, die ihnen eigentlich für die Terror-Bekämpfung gegeben wurden.
Eine Polizeimaßnahme hatte ich dabei in den Mittelpunkt gerückt: Dass Menschen tagelang ohne Urteil ins Gefängnis müssen. Die offizielle Begründung für dieses Vorgehen ist bei Klima-Aktivistinnen oft: Identitätsfeststellung. Die Polizei nimmt also Personen in Gewahrsam, um zu klären, mit wem sie es eigentlich zu tun hat. Nur: Wenn Aktivist.innen mitunter eine Woche festgehalten werden, heißt das, dass sie nicht mehr demonstrieren können. Eine in einem Rechtsstaat mindestens zweifelhafte Maßnahme. Denn in einer Demokratie wie Deutschland ist die Meinungs- und Versammlungsfreiheit Grundgesetz.
Meine Recherche aus dem vergangenen Jahr hatte aber ein Defizit: Ich hatte zwar mit deutlich mehr als einem Dutzend Aktivisten telefoniert, die bis auf eine Ausnahme alle meine These stützten. Zahlen allerdings blieb ich euch schuldig. Nicht, weil ich die nicht hätte liefern wollen, sondern weil ich es nicht konnte. Die Pressestellen waren sehr schmallippig.
Jetzt haben wir diese Zahlen recherchiert.
Sie belegen, dass die Polizei von Nordrhein-Westfalen Maßnahmen aus den reformierten Polizeigesetzen bei Klimaprotesten nutzt, die eigentlich der Terrorbekämpfung dienen sollen. Und eben nicht hauptsächlich, um terroristische Straftaten vorzubeugen oder zu verhindern. Damit aber hatten die Innenpolitiker die Reform der Polizeigesetze immer wieder gerechtfertigt. Wobei die Maßnahmen, die wir hier aus NRW dokumentieren, von Anfang an auch auf Klimaproteste abzielten.
Die neuen Polizeigesetze, die so 2018 eingeführt und mehrmals überarbeitet wurden, geben der NRW-Polizei mehr Befugnisse – und die Polizistinnen schöpfen diesen Spielraum aus: Seitdem das Gesetz in Kraft getreten ist, werden jedes Jahr mehr Personen in längerfristigen Gewahrsam genommen, also länger als 24 Stunden.
In den Jahren 2019 bis 2021 waren es insgesamt 204 Menschen:
Schaut man sich an, wer da festgenommen wird, ergibt sich für den gleichen Zeitraum 2019 bis 2021 ein eindeutiges Bild: Kein einziger rechter Gefährder wurde in Gewahrsam genommen, sechs religiös motivierte Gefährder – und insgesamt 74 Menschen im Zusammenhang mit Klimaprotesten.
Klima-Aktivisten landeten in NRW also mehr als zehnmal so häufig in verlängertem Gewahrsam wie Neo-Nazis und religiös-ideologisch radikalisierte Personen zusammen.
Wichtiger Hinweis: Die Zuordnung zu Klima-Protesten stammt vom NRW-Innenministerium selbst. 46 Fälle können laut dem Ministerium sicher zugeordnet werden, davon 41 im Zusammenhang mit den Protesten am Tagebau Garzweiler. 33 Fälle gelten als „vermutlich links“, da sie in „räumlicher und aufgabenbedingter Nähe zum rheinischen Braunkohlerevier“ liegen, wie es in der Antwort auf die Kleine Anfrage heißt, aus der diese Zahlen stammen.
Wie wir an diese Zahlen gekommen sind
Nachdem mein erster Text erschienen war, kontaktierte ich Marie Bröckling. Marie ist eine der Expertinnen für Polizeirecht im deutschen Journalismus. Als die Bundesländer die Befugnisse ihrer Polizeien im Jahr 2018 deutlich ausweiteten, war sie es, die als eine der ersten die bürgerrechtliche Tragweite dieser Entscheidungen erkannte und dann Artikel nach Artikel dazu ablieferte.
Marie fand einen Weg, an die Zahlen zu kommen, die mir anfangs fehlten. Sie machte sich das Informationsfreiheitsgesetz und parlamentarische Auskunftsrechte zu Nutze und versuchte Zahlen aus Berlin, Bayern, Sachsen und NRW zu bekommen. Jedes dieser Bundesländer war in den vergangenen Jahren ein Schwerpunkt von Klimaprotesten.
Das Land Berlin lieferte Zahlen, dort sind die Regeln aber andere als in NRW; sie sind nicht so repressiv. Antworten aus Sachsen und Bayern stehen noch aus. Aus NRW bekamen wir über den Umweg einer parlamentarischen Kleinen Anfrage der Grünen-Abgeordneten Verena Schäfer schließlich erste Zahlen. Die ganze Antwort der NRW-Regierung findet ihr hier.
In diesem Absatz habe ich eine Formulierung über die Zahlen des Landes Berlins geändert. Die alte legte nahe, dass das Land uns nicht weiterhelfen wollte. Das hatte ich aber nicht gemeint. In Berlin gibt es nicht die gleichen Maßnahmen wie in NRW.
Das ist ein Newsletter mit den ersten Zahlen. Demnächst erscheint dann ein Hintergrund-Stück dazu im Rahmen meines Zusammenhangs zu Polizei und Klima-Aktivismus. Hoffentlich auch mit Zahlen aus Sachsen und Bayern.
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Redaktion: Esther Göbel Fotoredaktion: Philipp Sipsos; Audioversion: Iris Hochberger